FC SITTEN | Trainer Ricardo Dionisio Pereira
«Wünsche mir eine Lohnobergrenze und die Einführung der effektiven Spielzeit»
Der 37-jährige Portugiese hat einen Lohnverzicht sofort akzeptiert, aber muss nach der fristlosen Entlassung von neuen Spielern mit einer stark geschwächten Mannschaft weiterarbeiten. Sofern denn die Super League überhaupt noch einmal begonnen wird.
Ricardo Dionisio Pereira, wie erleben Sie diese komplizierte Zeit?
«Aus privater Sicht, niemand hat je so etwas erlebt, es ist eine ausserordentliche Lage. Niemand weiss, wie der weitere Weg sein wird. Aus sportlicher Sicht sehe ich mit dem riesigen Stellenwert des Geldes grosse Probleme auf den Fussball zukommen. Er wird Limiten erreichen, unzählige Millionen für Löhne und Transfers könnten ihr Ende erleben. Das wird kaum noch jemand bezahlen, wenn auch die Sponsorengelder markant minimiert werden. Das wird auch der Schweizer Fussball zu spüren bekommen, wo weit weniger Geld in den Fussball fliesst als anderswo. Ich sehe die Krise auf uns zukommen.»
Ehe wir hier weiter ansetzen, wie erleben Ihre Eltern in Portugal die jetzige Phase?
«Sie waren bis vor drei Wochen noch hier im Wallis auf Besuch, entschieden sich aber zur sofortigen Heimreise, wo sie auch ihre Eltern, also meine 89- und 82-jährigen Grosseltern, unterstützen. Für diese ist es hart, mit Ausnahme für das Blumengiessen in ihrem ganz kleinen Gärtchen nicht hinausgehen zu dürfen, aber bis jetzt halten sie sich gut daran.» (schmunzelt)
Wie steht es um das Gesundheitssystem in Ihrer Heimat?
«Ob Portugal oder sonst wer, kein Land der Welt ist bereit für so einen Krieg, wo man das Gesicht und die Strategie des Gegners nicht kennt. In einem richtigen Krieg kann man in die Offensive gehen, aber hier werden wir in die Defensive gezwungen, zum Rückzug. Das ist ungewohnt für uns Menschen, die freiheitsliebend sind.»
Wie erklären Sie Ihrer dreijährigen Tochter Carminho, was in der Welt vor sich geht?
«Letztens wollte sie in die Berge, im Schnee spielen, einen anderen Tag im Garten. Ich muss ihr immer sagen, nein, das geht nicht, wir müssen daheimbleiben. Versuche ihr zu erklären, dass da kleine Viren im Umlauf sind, aber einfach ist das nicht. Aber was soll ich einem kleinen Kind sagen, wenn nicht einmal wir Erwachsene richtige Antworten bereithaben und nicht wissen, wie lange dieser Ausnahmezustand noch andauert?»
Sittens letztes Pflichtspiel datiert vom 23. Februar. Ein 0:0 in Lugano, das die sportliche Lage in der Tabelle nicht besser machte. Wie sind Sie und Ihre Mannschaft seither organisiert?
«Nun, die ersten beiden Wochen nach dem Match in Lugano lief das Training regulär weiter. Die Ungewissheit aber war da, weil das Datum des nächsten Spiels nicht bekannt war. Als der Unterbruch der Super League dann besiegelt war, wurde es schwieriger. Vielleicht weniger für uns Trainer, aber für die Spieler. Die Konzentration wochenlang auf dem höchsten Punkt zu halten, ist ohne Pflichtspiele schlicht nicht möglich.»
Wie läuft Ihre Trainingsüberwachung?
«Wie bei allen Klubs auf diesem Niveau. Es gibt GPS-Geräte, es gibt Applikationen im Natel, damit steuern wir die Trainings der Spieler. Mit den technischen Hilfsmitteln, die es heute gibt, versuchen wir in diesem Ferntraining das Beste herauszuholen. Am Ende aber müssen wir auch ehrlich sein, eine sogenannte Topform hält nie ewig. In der aktuellen Situation sowieso nicht angesichts des dezimierten Trainingsumfangs.»
Bei so viel Zeit in den eigenen vier Wänden, droht da nicht auch mal der Lagerkoller?
(schmunzelt) «Ich weiss, worauf Sie hinauswollen. Jetzt mal völlig unabhängig von meinen Spielern, sondern ganz allgemein für die Gesellschaft sprechend. Ich höre von Psychologen, deren Dienste nun bei Familien gefragt sind. Weil Mann und Frau plötzlich so viel zusammen sind, aufeinandersitzen und das nicht schaffen. Man hört von Stress mit den Kindern, weil diese nun auch ganztags daheim sind. Für viele keine einfache Situation.»
Sehen Sie diese Gefahr auch bei sich?
«Meine Frau Maria und ich haben eine gute Aufteilung, jeder schätzt seine Freiheiten und trotzdem geniessen wir das Zusammensein. Etwas, was an der Seite eines Profitrainers mit all seinen Verpflichtungen auch nicht immer gleich gut möglich ist.»
Ein typischer Tagesablauf?
«Wir stehen täglich gegen 7.30 Uhr auf, essen eine Frucht, dann dreht meine Frau, aber das ist nicht erst seit diesen Tagen so, für eine Reihe von Freunden und Bekannten in Portugal ein Video mit Fitness- und Bewegungsübungen. Sie will Aktivität und Motivation weitergeben. Ich stehe ausserhalb der Linse und mache auch mit (lacht). Später duschen und frühstücken wir, sie erledigt Hausarbeit, spielt mit der Tochter, ich verbinde mich via Skype oder Telefonkonferenz mit meinem Staff, wir analysieren die Werte der Spieler, arbeiten an den Trainingsplänen usw. Wenn ich nachmittags auch mit den Physiotherapeuten in Kontakt war, bin ich dran mit Spielen mit meiner Tochter. Wie gesagt, wir wechseln uns ganz gut ab.»
Sie haben sich eine strikte Quarantäne verschrieben?
«Grundsätzlich ja. Ich gehe vielleicht ein- oder zweimal die Woche nach draussen zum Joggen oder jetzt für das Interview mit Ihnen, aber sonst bleiben wir daheim. Und das ist richtig so.»
Ricardo Dionisio Pereira, nicht einmal in schwierigen Zeiten blieb es um den FC Sitten ruhig, wie letzte Woche die fristlose Entlassung von gleich neun Spielern zeigte. Wie steht es eigentlich um Ihre persönliche Solidarität, wenn es um Lohnverzicht geht?
«Ich habe das sofort unterschrieben, ohne nur eine Sekunde zu überlegen. Auch ich will meinen Beitrag leisten, keine Frage. Wir haben das Glück, in einem stabilen Land wie der Schweiz zu leben, wo Löhne pünktlich bezahlt werden, selbst in der Arbeitslosigkeit. Das ist lange nicht überall so. In Portugal kann der Tabellenletzte Deportivo des Aves seit Januar keine Löhne mehr zahlen, weil die chinesischen Klubbesitzer kein Geld mehr haben. In Portugal werden die kleineren Klubs der höchsten Liga massive Probleme bekommen. Diese leben von den Heimspielen gegen die Grossen wie Porto, Sporting oder Benfica, wo sie je 300000 Euro einnehmen, um laufende Rechnungen zu bezahlen. Dieses Geld ist weg.»
Bleiben wir aber bei Ihrer Mannschaft. In den Augen von Präsident Christian Constantin waren neun Spieler nicht solidarisch, hat diese auch nach der sofortigen Freistellung noch einmal kritisiert. Was denken Sie darüber?
«Ich werde weder über das Vorgehen des Präsidenten noch über die Entscheidung der betroffenen Spieler urteilen. Jeder muss anhand seines Lebens, seiner täglichen Kosten usw. selber wissen, wie er die Sache sieht. Ich kann nur so viel sagen, dass es für mich als kleiner Teil der Gesellschaft klar war, etwas zurückzugeben.»
Konnten Sie als Trainer nicht einwirken?
«Mein Ansprechpartner ist, also war Xavier Kouassi als Captain. Ich habe länger mit ihm gesprochen, nachgefragt über den Puls im Team, über die Stimmungslage. Ich habe ihm lediglich gesagt, gut zu überlegen, intelligent zu überlegen, einen guten Willen zu zeigen. Danach nahmen die Dinge ihren Lauf und jeder hat sich so entschieden, wie er entschieden hat.»
Womit Sie über Nacht neun Spieler weniger haben. Darunter auch auf Papierform bestdotierte Spieler wie Kasami, Lenjani, genannter Kouassi und andere. Waren Sie nicht schockiert?
«Natürlich war ich schockiert, zeigen Sie mir mal einen Trainer, der das nach einem solchen Aderlass nicht wäre. Aber was soll ich tun, mein Vertrag als Trainer beim FC Sitten läuft weiter bis im Sommer. Ich bin angestellt, um mit den Spielern zu arbeiten, die da sind.»
Viel Qualität und Routine ist weg. Wird Ihnen nicht Angst und Bange bei einer Mannschaft mit einer dermassen negativen Bilanz wie dem FC Sitten?
«Natürlich ist die Qualität der Mannschaft mit neun Spielern weniger infrage gestellt, ich bin kein Träumer. Aber schauen Sie, lassen Sie uns abwarten, welche Entscheide bezüglich Super League getroffen werden, dann schauen wir weiter.»
Dieser FC Sitten in der heutigen Ausgabe wäre doch stark abstiegsgefährdet. Das können Sie doch nicht negieren?
(lacht lange) «Ja, natürlich ist das so. Ich kann es nicht anders sagen, Ihre Aussage ist realistisch.»
Unter diesen Umständen müssten Sie doch, wie Ihr Präsident, hoffen, dass die Meisterschaft abgebrochen wird.
(lacht)
Keine Antwort ist auch eine.
«Nun ja, sowohl bei einer Fortsetzung als auch bei einem Abbruch gibt es Vor- und Nachteile. Brechen wir ab, hinterliesse das für einen Sportler irgendwo doch einen faden Beigeschmack. Spielen wir weiter, kommen die nächsten Probleme, nämlich der Beginn der nächsten Saison. In der Schweiz beginnt diese Mitte Juli, in anderen Ligen erst Ende August. Es gäbe dann wohl gar keine Sommerpause.»
Ein Abbruch, und der FC Sitten hätte den Ligaerhalt auf sicher. Das müsste doch auch Ihre Devise sein, oder?
«Wenn ich egoistisch bin oder wäre, dann ja. Aber hier geht es um etwas Grösseres. Man muss alle Klubs respektieren, alle müssen jetzt dieselben Chancen haben, es braucht kohärente Lösungen, um so wenig Verlierer wie möglich zu haben.»
Wäre denn eine vorgezogene Modusänderung mit der Aufstockung der Super League auf ein Dutzend Teams ein Ansatz?
«Warum nicht? Vielleicht ergibt sich in dieser Krisensituation diese Chance, und die könnte man packen. Dann gäbe es wohl am wenigsten Verlierer.»
Wenn wir schon von Modus sprechen. Der Oberwalliser FIFA-Präsident Gianni Infantino plädierte kürzlich für die «Nach-Corona-Zeit» für weniger Spiele, weniger Turniere, dafür mehr Spannung. Was halten Sie davon?
«Die Idee ist gut, aber sprechen Sie mal mit den TV-Stationen, dann schauen wir weiter (lacht). Immer mehr Spiele, immer mehr Turniere, immer neue Wettbewerbsformen bedeuten immer mehr Geld. Das lehnt doch niemand ab. Viele Klubs sind heute dank der Sponsoren richtige Geldmaschinen, die ohne Ende am Laufen sind. Höchstens kann ich mir vorstellen, in Wettbewerben wie zum Beispiel dem Cup oder, wo es ihn gibt, dem Liga-Cup, eine Quote einzuführen, nach welcher so und so viele Nachwuchsspieler einzusetzen sind. Das würde die Belastung der Profis etwas schmälern, womit sie für Meisterschaft, Champions League oder Nationalmannschaft mehr Frische hätten. Aber die Anzahl Spiele verkleinern, was Mindereinnahmen für die Klubs bedeutet, halte ich nicht für mehrheitsfähig. Wer sich das erhofft, ist wohl ein bisschen ein Träumer.»
Wäre damit eine Lohnobergrenze eine Utopie, weil die Klubs immer mehr wollen?
«Ich würde das sofort machen, eine Obergrenze würde den Profifussball spürbar ausgeglichener werden lassen. Aber ich wiederhole mich, sagen Sie das mal den zahlreichen Grossklubs.»
Abgesehen vom Geld, was würden Sie am Fussball ändern, hätten Sie jetzt die Chance dazu?
«Ich denke stark an die effektive Spielzeit wie beim Futsal oder beim Eishockey. Der Fussball heute ist zum Teil mühsam geworden, viel zu viel Spielzeit geht verloren durch Spieler, die sich viel zu lange am Boden wälzen, durch völlig harmlose Fouls, durch unnötige Unterbrüche, Videoschiedsrichter und Videobeweise inklusive. Mit einer effektiven Spielzeit würden der Fussball, der Rhythmus und die Intensität profitieren. Und das wiederum kommt dem Fan zu Gute.»
Interview: Alan Daniele
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