Wirtschaft | Existenzängste, Tränen und schlaflose Nächte: Selbstständige erleben wegen Coronavirus wahre Achterbahnfahrt
«Ich wollte bereits aufgeben»
Ohne die vom Bundesrat beschlossenen Taggelder und Darlehen für Selbstständige hätte der Schweiz und dem Wallis in den nächsten Wochen und Monaten eine Konkurswelle geblüht. Die Massnahmen helfen vor allem kurzfristig. Hält der wirtschaftliche Stillstand zu lange an, müssten sich viele Geschäfte aber massiv verschulden. Dann drohen erneut Konkurse.
Der Umsatz ist auf null heruntergeschmolzen, genauso wie das Einkommen, einzig die Rechnungen landen beinahe in ungebremstem Tempo im Briefkasten. Wie also sollen die Ladenmiete bezahlt, die Beiträge für AHV, IV und ALV finanziert und die Versicherungsprämien und Amortisationsrate beglichen werden? Fragen, die Selbstständige wie die Tattoo-Künstlerin Martina Burgstaller während des Corona-Stillstands, von dem grosse Teile der Wirtschaft betroffen sind, stark beschäftigen: «Es stehen Existenzen auf dem Spiel», sagt sie. Wie die alleinerziehende Mutter Diana Lauber, die eine Gesundheitspraxis betreibt, oder der Barbetreiber Anto Tipura steckt Burgstaller seit Tagen und Wochen mitten in einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Tipura erwischte eine besonders steile Abfahrt – und stand bereits kurz vor dem Entschluss, sein Geschäft aufzugeben.
Hoch, aber vor allem runter
Schicksale, wie es sie derzeit im ganzen Land gibt. Von über fünf Millionen Erwerbstätigen in der Schweiz verdienen gut 600000 ihre Brötchen als Selbstständige. Während das Coronavirus den Lebensmittel-Grossverteilern sowie Apotheken Rekordumsätze beschert, geht es für viele kleine Ladeninhaber steil bergab. Ganze Geschäftsquartiere erinnern an Geisterstädte. Wohin das Auge reicht, hängen an Türen «Geschlossen»-Schilder. Am 13. März musste eine erste Gruppe von Läden, darunter alle Kinos, Fitnesszentren, Bars und Massagesalons, zumachen – also auch die Gesundheitspraxis von Diana Lauber in Brig und Anto Tipuras Bar in Gamsen. Drei Tage später folgten alle Restaurants und weitere Non-Food-Läden wie Kleidergeschäfte, Friseursalons, Barbiere, Kosmetikläden oder Martina Burgstallers Tattoo-Studio.
Wie viele der Ladeninhaber können die drei praktisch nicht auf anderweitige Absatzkanäle ausweichen. Was die Situation besonders unangenehm macht: Niemand weiss, wie lange sie anhält. Aktuell ist es ungewiss, ob die vom Bund bis am 19. April in Kraft gesetzten Massnahmen nicht nochmals verlängert werden müssen. Demzufolge weiss auch niemand, wie lange er oder sie sich durchboxen und der eigene Schnauf ausreichen muss.
«Wird nicht reichen»
«Das löst schon Existenzängste aus. Erst recht als alleinerziehende Mutter mit einem minderjährigen Sohn», sagt Diana Lauber. Entsprechend fiel ihr und auch vielen anderen ein Stein vom Herzen, als der Bundesrat am Freitagnachmittag entschied, dass neu auch Selbstständige, die von den Corona-Massnahmen des Bundes betroffen sind, ein Anrecht auf eine finanzielle Entschädigung in Form von Taggeldern haben. Damit kam die Landesregierung einer der zentralen Forderungen der selbstständig Erwerbenden nach.
Dies dürfte jedoch kaum ausreichen, ist Lukas Steimer überzeugt: «Das Problem bleiben die teils hohen Fixkosten.» Wie die meisten Selbstständigen musste auch er sein budgetcomputer.ch-Geschäft in Gamsen infolge der Corona-Epidemie schliessen. Weil er zwei Drittel seines Umsatzes mit seinem Onlineversand erzielt, sind seine Fixkosten gerade noch gedeckt. Bei vielen an-deren Geschäftstreibenden aus dem Oberwallis wird das finanzielle Loch jedoch von Tag zu Tag grösser. Damit die Betroffenen in dieser schwierigen Zeit eine Anlaufstelle haben, gründete Steimer in der vergangenen Woche die Facebookgruppe «Laden zu – was nun?». Auf dieser Plattform tauschen Selbstständige Tipps aus und spenden sich im Bedarfsfall schon mal gegenseitig Trost.
Bei den inzwischen rund 1500 Gruppenmitgliedern sind die Fixkosten ein zentrales Thema. «Wer einige Tausend Franken Miete bezahlt, dem bleibt mit allen anderen Fixkosten von dem Taggeld nichts mehr übrig», so Steimer.
Da sich Selbstständige oft nur tiefe Gehälter bezahlen können, fallen die Taggelder dementsprechend gering aus. Bei einem Gehalt von 4000 Franken pro Monat beläuft sich das Taggeld auf 3200 Franken (80 Prozent). Das dürfte gerade so für Miete, Krankenkasse, Lebensmittel und alle übrigen Lebensunterhaltskosten genügen. Bei Alleinverdienern mit Nachwuchs nicht einmal dafür. Für beides, also die Rechnungen im Betrieb und jene daheim, reicht das Taggeld hingegen nirgends aus.
Schulden machen
Zur Finanzierung der Betriebskosten hat der Bundesrat am letzten Freitag eine Garantie für neue Unternehmenskredite ins Leben gerufen. Quasi ein Freipass, Schulden zu machen. Kommt es zu einem Konkurs, springt der Bund für Kredite bis 500000 Franken zu 100 Prozent ein – für Kredite bis 20 Millionen Franken zu 85 Prozent. Sobald die Corona-Krise durchgestanden ist, könnten einige Betriebe mit einem grösseren Schuldenberg dastehen. «Je nach Branche ist ihr maximaler Tagesumsatz aber begrenzt», so Steimer, «ein Restaurant kann nicht so einfach doppelt so viele Mahlzeiten verkaufen, um so seine Schulden abzubauen.» Vergleichbar argumentiert Diana Lauber: «Ich könnte später nicht einfach die Kundenzahl pro Tag verdoppeln.»
Für betroffene Unternehmer ist deswegen klar, dass es noch andere Massnahmen benötigt. «So könnten die Fixkosten mit einer Reduktion oder einem Erlass der Mietzinsen heruntergebracht werden», sagt Steimer. In der Facebookgruppe sind Juristen mit dabei, die für einen solchen Mietzinserlass argumentieren: «Ihrer Ansicht nach fallen für Lokale, die nicht ihrem Mietzweck entsprechend genutzt werden können, keine Mietzinsen an. Es handle sich dabei um einen Fall von höherer Gewalt», fasst Steimer zusammen. Entsprechende Antragsformulare für eine Mietzinsreduktion oder einen -erlass werden den Gruppenmitgliedern zur Verfügung gestellt.
«Die Bar ist meine Therapie»
So wie im Fall von Anto Tipura. Der 48-Jährige betreibt seit Anfang Jahr die 4A-Bar in Gamsen und gehört zu jenen Menschen, welche die Selbstständigkeit nicht ganz freiwillig gewählt haben. Jahrelang als Vorarbeiter auf dem Bau und jeweils im Winter als Koch tätig, warf ihn ein Arbeitsunfall völlig aus der Bahn. Den körperlichen Problemen folgten ein Nervenzusammenbruch, Depressionen und diesen mehrere Therapien. Ein Abwärtsstrudel, aus dem er sich nach mehreren Jahren herausgekämpft hat. Auf dem Arbeitsmarkt blieb er anschliessend chancenlos, weshalb er Ende 2019 den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. Im vergangenen Herbst baute er das ehemalige Diner-Solid Gold um. «Gegen 60000 Franken habe ich dafür investiert – exklusive Arbeit. Für die Finanzierung musste ich mein Haus in Kroatien verkaufen», hält er fest.
Nach einem etwas holprigen Start zog das Geschäft an. Dann kam Corona. Tipura musste die erst kürzlich angeheuerte Arbeitskraft entlassen. Für den Aufbau von Reserven reichte die kurze Zeit nirgends aus. Noch am vergangenen Donnerstag sah er sich vor dem Ende. Der Druck wurde ihm zu gross, Tipura wollte aufgeben. «Die Arbeit hier ist für mich wie meine Therapie, aber ich will nicht wieder in das gleiche Loch hineinfallen, aus dem ich komme», sagt er.
Dann kam der Entscheid des Bundesrats. Gefolgt vom grosszügigen Entgegenkommen seines Vermieters: Dieser erlässt ihm die Miete für die gesamte Zeit, in der die Corona-Massnahmen aufrechterhalten bleiben. Anto Tipura ist erleichtert. Die Arbeitstherapie könnte doch noch weiterlaufen. Viele andere Selbstständige hoffen nun auf ähnlich kulante Vermieter.
Martin Schmidt
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Kommentare
Zehnder Damian, Zermatt - ↑4↓12
Und nicht vergessen:
Die Gelder müssen zurückbezahlt werden.
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