Coronavirus | Noch nie Dagewesenes – die momentane Lage ist auch aus historischer Sicht «ausserordentlich»
Erster Notstand in Friedenszeiten
Die Landesregierung handelt derzeit im Alleingang. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Und fast ohne Kritik. Aber die Entscheide werden schon in kurzer Zeit viel zu reden geben.
Es sind Tage, die einem eine leise Ahnung vermitteln, wie es sich wohl angefühlt haben könnte, damals, als rund um die Schweiz die Weltkriege tobten. Natürlich sind die Gefahrenszenarien nicht dieselben. Niemand muss heute Angst haben, dass Bomben fremder Streitkräfte hier das falsche Dorf treffen. Die Väter müssen nicht mit geladenem Gewehr an die Grenze, die Mütter werden nicht mit Kindern und Existenzängsten alleingelassen.
Trotzdem fühlt sich die Corona-Krise ein bisschen an wie Krieg. Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Es geistert in den Zentren, belebte Orte werden zum Standbild. Der Rückzug in das Reduit der eigenen vier Wände betrifft alle. Und viele tragen die Sorge mit sich, ob es ihre Firma und ihren Arbeitsplatz noch gibt, wenn sie wieder rauskönnen und das hier alles vorbei ist.
Und sie wird irgendwann vorbei sein, die «ausserordentliche Lage», die der Bundesrat am vergangenen Montag erklärt hatte. Alle Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe liess er schliessen. Vorerst gilt die Verordnung bis am 19. April. Was danach kommt, weiss heute niemand.
Spanische Grippe als Weckruf
Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird in Bundesbern wieder im Notrecht regiert. Zum ersten Mal in Friedenszeiten überhaupt. «Aus historischer Sicht ist es tatsächlich eine aussergewöhnliche Massnahme», sagt der Walliser Kantonsarchivar Alain Dubois. Der Historiker nennt die Typhusepidemie, die im Frühjahr 1963 in Zermatt wütete. 400 Menschen sind damals erkrankt, es gab drei Tote. Und es gab eine Notstand-Situation. «Aber nur auf Gemeinde-Ebene», betont Dubois. Ansonsten kenne der moderne Bundesstaat – und mit ihm auch das Wallis – die «ausserordentliche Lage» nur aus Zeiten der Weltkriege. Beim ersten wurde sie beim anschliessenden Generalstreik im November 1918 verhängt.
Kein Grund, einen Notstand auszurufen, war hingegen die Spanische Grippe. Die hoch ansteckende Influenza wütete sich durch die Kriegsheere, um nach dem Ersten Weltkrieg mit den Soldaten zurück in die jeweiligen Länder zu gelangen. In mehreren Wellen schlug das Fieber zu und raffte schliesslich weltweit über 20 Millionen Menschen dahin.
Vergleichsweise glimpflich kam das Wallis davon. «Insgesamt starben im Wallis 1487 Menschen an der Spanischen Grippe», weiss Dubois, «dies bei einer Wohnbevölkerung von damals 140000.» Die Sterblichkeitsrate der Influenza-Betroffenen betrug im Wallis somit gut ein Prozent. Georges Morand, der damalige Grossratspräsident, fiel der Grippe genauso zum Opfer wie der konservative Nationalrat Jules Tissières. Auch Jules-Maurice Abbet starb im Juli 1918. Der damalige Bischof von Sitten war zuvor am Hof des spanischen Königs Alphonse XIII., wo er sich womöglich angesteckt hatte. Abbet hatte zu Beginn des Jahrhunderts zahlreiche Pfarreien im Oberwallis gegründet, etwa jene von Termen und Ried-Brig, die Pfarrei in Eggerberg und in Saas-Balen.
Aber die Spanische Grippe war auch ohne Notstand eine einschneidende Erfahrung. «Während die Mortalitätsrate über den ganzen Kanton betrachtet eher tief ausfiel, waren die Unterschiede in den verschiedenen Regionen frappant», sagt Dubois. So seien etwa im Bezirk St-Maurice gerade mal 0,3 Prozent der Bevölkerung gestorben. Im Bezirk Goms waren es dagegen 1,7 Prozent. «Im ganzen Kanton», so der Historiker, «gab es damals gerade mal 49 Ärzte. Und die meisten davon waren unten im Tal.» Aufgrund der schlechten ärztlichen Versorgung sowie des Umstands, dass viele Grossfamilien auf engstem Raum hausten, schlug die Grippe in den Walliser Berggebieten und damit auch im Oberwallis besonders heftig zu. «Danach hat die Politik reagiert und Hygienevorschriften sowie Gesundheitsgesetze entsprechend angepasst», sagt Dubois.
Gesetze, die in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt worden sind. Die «ausserordentliche Lage» von heute beruht auf dem Epidemiengesetz des Bundes, auf Kantonsebene geregelt in der entsprechenden Verordnung. Diese stattet unter anderem den Kantonsarzt Christian Ambord mit weitreichenden Kompetenzen aus. Gemessen an der Entscheidungsgewalt ist er derzeit wohl die mächtigste Person im Kanton Wallis. Nachdem Staatsrat Frédéric Favre positiv auf das Coronavirus getestet worden ist, haben sich auch die übrigen Regierungsmitglieder auf Anraten Ambords zurückzogen. Wer sonst kann den ganzen Staatsrat nach Hause schicken?
Rieder: Nicht 40, sondern 100 Milliarden
Während der Kanton Wallis aus dem Homeoffice regiert wird, steht auch in Bundesbern der Politbetrieb weitestgehend still. Die Landesregierung handelt derzeit im Alleingang. Faktisch ist die Gewaltentrennung in weiten Teilen auf Eis gelegt. Die März-Session der Räte wurde abgesagt. Die Legislative als Zaungast.
Für Mathias Reynard kein Problem. Der inzwischen amtsälteste Walliser Parlamentarier sieht die Notwendigkeit ein, dass der Bundesrat in einer solchen Krise seine Entscheide möglichst rasch fällen muss – «zumal immer wieder Stimmen laut werden, dass es noch etwas schneller gehen könnte». Und auch wenn der SP-Nationalrat keine explizite Kritik am Krisenmanagement der Regierung äussern mag, ortet er Verbesserungspotenzial. Seiner Meinung nach könnte sich der Bundesrat selbst in diesen stürmischen Tagen mit den parlamentarischen Themenkommissionen austauschen, etwa wenn es um die Umsetzung und Modalitäten der Schulschliessungen geht. Reynard selbst ist OS-Lehrer und zudem Präsident der nationalrätlichen Bildungskommission.
Was der 32-Jährige aber gar nicht will, ist, dass der Ausnahmezustand zur Normalität wird. «Es wäre für mich nicht akzeptabel, wenn die Räte über mehrere Monate hinweg nicht mehr tagen sollten.» Die politischen Geschäfte müssten weiter geführt werden – Corona-Krise hin oder her. Für die Mai-Session sucht man nun nach einer Alternative ausserhalb des Bundeshauses.
Auch Beat Rieder plädiert dafür, dass der Parlamentsbetrieb schnellstmöglich wieder in den normalen Modus zurückkehrt. Als Mitglied der ständerätlichen Finanzkommission macht der Oberwalliser CVP-Politiker zudem auch deutlich, dass die Legislative rückwirkend sehr wohl seine Kontrollaufgabe wahrnehmen wird. «In der jetzigen Zeit gesprochene Kredite können und wollen wir natürlich nicht rückgängig machen. Aber wir könnten auf deren Modalitäten und Bedingungen zurückkommen.» Der Bundesrat hat in der Zwischenzeit 40 Milliarden Franken für Kurzarbeitsentschädigung und wirtschaftliche Soforthilfe in Aussicht gestellt. Was für Rieder aber zu wenig ist. Er geht davon aus, dass die benötigten Mittel eher gegen 100 Milliarden Franken gehen. In einer ersten Phase sei es jetzt wichtig, die Liquidität der betroffenen Unternehmen sicherzustellen. Mittel- und langfristig denkt der Oberwalliser Ständerat aber an einen Investitionsfonds, der von der Nationalbank gespeist werden soll. «Der Bundesrat muss mit allen Mitteln verhindern, dass gesunde Betriebe durch die von ihm getroffenen Massnahmen und Eingriffe in die Wirtschaft geschädigt werden.» Eine weitergehende Stilllegung der Wirtschaft, so Rieder, sei unter allen Umständen zu vermeiden.
Als Mitglied des Parlaments trage er die Entscheide der Regierung selbstverständlich mit. Ob diese richtig oder falsch sind, werde man erst in der Retrospektive abschliessend beurteilen können. Was man aber bereits heute feststellen muss, so Rieder weiter, sei die fehlende Koordination zwischen Bund und Kantonen. In einer solchen Ausnahmesituation müsse der Bundesrat vorausgehen und den Notstand ausrufen, bevor es die Kantone tun. Und die Ansage müsste klar und verbindlich sein, auch was die finanzielle Unterstützung für die Wirtschaft angeht. «Der Bundesrat muss hier Stärke zeigen und Klarheit schaffen, egal wie viel es kostet.»
Man spürt jetzt schon, dass der aktuelle Notstand künftig noch für «ausserordentliche» Diskussionen sorgen wird. Noch halten sich die Kritiker zurück. Noch fühlt es sich ein bisschen an wie Krieg.
David Biner
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