Brig | Ein Leben voller Schicksale

«Blicke optimistisch in die Zukunft»

Jeanette Wyssen-Sopaj: «Mein Leben ist eine einzige Schule. Man lernt jeden Tag dazu.»
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Jeanette Wyssen-Sopaj: «Mein Leben ist eine einzige Schule. Man lernt jeden Tag dazu.»
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Als Baby galt sie in Albanien als «Feindin des Volkes». Seit ihrer Flucht lebt und arbeitet Jeanette Wyssen-Sopaj (53) heute in Brig und hat ein Leben voller Schicksale hinter sich.

«Wenn ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, möchte ich viel mehr Zeit für meine Kinder haben», erklärt Jeanette Wyssen-Sopaj. «Aber sonst», sagt sie weiter, «tut es mir nicht leid, was passiert ist. Im Gegenteil. Möge jedes Schicksal noch so gross gewesen sein. Ich habe jedes als Chance betrachtet, versucht daran zu wachsen und mich so immer weiterentwickelt.»

Politisch verfolgte Familie

Rückblick: Jeanette Wyssen-Sopaj kommt 1963 im diktatorisch regierten Albanien zur Welt. Sie ist fünf Monate alt, als ihr Vater als Dissident in die USA flüchtet. «Weil er sich immer schon aktiv gegen die Regierungslinie stellte, hatte er keine andere Wahl als Flucht oder Gefängnis.» Ab sofort gilt die Familie im totalitär geführten Land offiziell als «Feind des Volkes». Dieser «Status» hat tragische Folgen. Die Familie wird unterdrückt, darf weder mit den Nachbarn reden noch diese besuchen. Daneben kennt das damalige Albanien weder das Recht auf Privateigentum noch Presse- oder Meinungsfreiheit. Als «Feind des Volkes» hatte ich zudem nach der obligatorischen Schule keinen Anspruch auf irgendeine weitere Ausbildung.» Im Gegenteil: Jeanette wird von der Regierung eine Arbeit als Mechanikerin in einem staatlichen Industriebetrieb zugeteilt. «Dort schuftete ich für umgerechnet 65 Franken monatlich im Schichtbetrieb.» Aufgrund der völligen Abschottung Albaniens gegenüber dem Ausland besitzt weder Jeanette noch sonst irgendwer im Land einen Reisepass. «So gab es gar keinen Kontakt nach draussen. Meine fünf Geschwister, meine Mutter und ich kannten somit gar nichts anderes als unser gewohntes Umfeld.» Nichtsdestotrotz entwickelt Jeanette grosses Interesse für andere Länder und Sprachen. So bringt sie sich selbst im Geheimen Italienisch bei.

Abenteuerliche Flucht

Nach weiteren Jahren im Zeichen von Isolation, Unterdrückung und Repressionen heiratet Jeanette und bringt 1991 ihren ersten Sohn, Mersid, zur Welt. Zwei Jahre später flüchtet die junge Familie. «Einfach irgendwohin in die Freiheit. Wir hatten keine Ahnung, wo wir schliesslich landen würden. Hauptsache weg.» Bei ihrer abenteuerlichen Reise bringen sie Schlepper für 1200 Dollar über Umwege in die Schweiz. Um die Reise zu bezahlen, verkaufen sie alles, was irgendetwas abwirft. Einmal in der Schweiz angekommen, beantragen sie Asyl und werden nach Visp verlegt, wo sie in einem Studio untergebracht werden. «Da waren wir also. Zwar weit weg von den heimischen Problemen, aber ohne Deutsch und ohne Arbeit.» Hinzu kommt das lange Warten auf den Asylentscheid. In der Zwischenzeit wird Jeanette 1994 mit Gent zum zweiten Mal Mutter. Während des laufenden Asylverfahrens dürfen sie nicht arbeiten. «Diese lange Zeit der Ungewissheit war ungemein hart für uns.» Zwischen Jeanette und ihrem Mann kommt es darum vermehrt zu Spannungen. Dann, nach langen sieben Jahren des Wartens, fällt im Jahre 2000 endlich der Asylentscheid. Negativ. Will heissen: Sie müssen das Land verlassen. «Gleichzeitig ging es zwischen meinem Mann und mir definitiv nicht mehr. Der Druck und die Emotionen wurden schlicht zu gross.» Es folgt die Scheidung. Damit nicht genug. Jeanette­ erkrankt schwer und psychische Probleme kommen hinzu. Aufgrund besonderer Umstände dürfen Jeanette und ihre Kinder trotz negativem Asylentscheid hierbleiben und sie findet Arbeit als Reinigungskraft in Brig.

Die ewige Schülerin

Ab jetzt startet Jeanette trotz Krankheit und Scheidung richtig durch. Während sie Deutsch lernt, holt sie gleichzeitig den Handel nach. «Mein grösster Verzicht bis anhin war, dass ich nie studieren durfte. Darum sagte ich mir: Wenn ich schon zur Schule gehe, dann richtig.» Während sie sich um die Kinder kümmert, die Schule besucht und mit Putzen Geld verdient, lernt sie ihren heutigen Mann kennen, welchen sie 2002 heiratet. Weitere Ausbildungen im Bereich Informatik, Personalmanagement folgen. Zudem geht sie mit einem Sohn für längere Zeit nach London und lernt Englisch. «Je mehr ich lernte, umso wissbegieriger wurde ich.» Heute bekleidet Jeanette verschiedene Mandate im Bereich Integration oder aber im Asylwesen, führt zusammen mit ihrem Mann ein Musikgeschäft und ihre Söhne sind erwachsen und studieren. Kontakt zu ihren Geschwistern, welche in ganz Europa und den USA verteilt sind, unterhält sie rege. Und auf die Frage, ob sie sich heute als Schweizerin oder Albanerin fühlt, antwortet sie: «Nach all den Erlebnissen fühle ich mich heute in erster Linie als Mensch.»

Peter Abgottspon

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