Frontal | Brig-Glis
«Wir hatten früher mehr Zeit, uns um die Kinder zu kümmern»
Gaby Armangau (83) hat 40 Jahre lang als Lehrerin unterrichtet. Im Frontalinterview erzählt sie aus ihrem früheren Berufsalltag, nimmt Stellung zur Schule von heute und verrät, warum sie den Nationalfeiertag der Franzosen feiert.
Frau Armangau, wären Sie gerne noch einmal jung?
Nein, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Ich habe meine Jugend in vollen Zügen genossen und später auch mein Berufsleben. Und jetzt freue ich mich darauf, was mir das Pensionsalter noch bringt.
Sie waren 40 Jahre lang als Lehrerin tätig. Hätten Sie mit den Lehrpersonen von heute gerne getauscht?
Ich möchte heute mit meinen Voraussetzungen nicht mehr unterrichten. Aber das Wesen des Kindes ist noch genau dasselbe wie vor 50 Jahren. Ein Kind ist ein Kind. Heute ist vielleicht das Umfeld und die familiäre Situation des Kindes anders. Auch der Einfluss der Medien spielt eine grosse Rolle. Das spiegelt sich natürlich auch im Verhalten der Schüler wider.
Sie haben sich schon früh für den Lehrerberuf entschieden. Wie haben Sie die Anfänge als Lehrerin erlebt?
Als ich meine erste Stelle in Glis angetreten habe, war das Schulzimmer meiner 3. Klasse im ersten Stockwerk oberhalb des Malteserkreuzes. Ich hatte 42 Schülerinnen und Schüler. Nur einen Monat nach Schulbeginn sind wir in die Räumlichkeiten des neuen Schulhauses umgezogen. Weil die Platzverhältnisse aber nur auf 30 Schüler ausgerichtet waren, mussten wir noch ein paar Schulbänke mehr ins Zimmer stellen. Die Folge war, dass die vordersten Schüler praktisch direkt vor der Wandtafel sassen. Wenn ich nun die Flügel der Wandtafel geöffnet habe, mussten die Schülerinnen und Schüler in den vorderen Reihen die Köpfe einziehen. Trotzdem war die Wand-
tafel für mich eine grosse Hilfe.
Die Herausforderungen der Schule sind heute um einiges komplexer als noch vor 50 Jahren. Ich denke an die Integration von ausländischen Schülern, die Bilingualität oder den Sexualkundeunterricht. Auch der Leistungsdruck ist um einiges höher…
Früher war das soziale Umfeld und die Anforderungen an die Schüler natürlich ganz anders. Wir Lehrpersonen haben uns der jeweiligen Situation immer neu angepasst und, je nach Anforderung, verschiedene Kurse besucht. Dieses Wissen haben wir direkt an die Schüler weitergegeben. Auch für die Elterngespräche haben wir einen Kurs besucht. Darin wurde uns vermittelt, wie man mit den Eltern umzugehen hatte und wie man sich mit ihren Anliegen auseinandersetzt.
Haben es die Lehrer von heute schwieriger als früher?
Ja, auf alle Fälle. Die Lehrpersonen haben zwar viele Lehrmittel und Möglichkeiten, um den Unterricht einfacher zu gestalten. Aber die sozialen Strukturen der Kinder sind komplexer und verlangen von den Lehrerinnen und Lehrern viel Einfühlungsvermögen. Das soziale Element spielt innerhalb der Schule nämlich eine grosse Rolle. Da sind natürlich auch die Lehrpersonen gefordert.
Hatten Sie nie Probleme mit Ihren Schülern?
Natürlich. In 40 Jahren Unterricht gibt es auch kleine und grössere Probleme zu lösen. Einmal hatte ich einen Fünftklässler, der mich allein durch seine Grösse um einen Kopf überragte. Der Junge hat mich herausgefordert. Aber irgendwie habe ich den Draht zu ihm gefunden und ihm die Aufgabe erteilt, als Grösster der Klasse die Zeichnungen im Schulzimmer aufzuhängen. Das hat ihm Spass gemacht und dadurch sind wir ins Gespräch gekommen. Ich hatte auch viele Buben in der Klasse, die ihren Bewegungsdrang ausleben mussten. So habe ich sie kurzerhand bei meinem Schwager ins Fussballtraining geschickt. Das war ein guter Ausgleich für die Schüler und auch im Unterricht waren sie daraufhin viel ruhiger.
Waren Sie eine strenge Lehrerin?
Ich habe meinen Schülern klar gesagt, was ich von ihnen erwarte. Insofern war ich wohl doch etwas streng. Ich legte vor allem grossen Wert auf exaktes Schaffen. Das hat mir der Schulinspektor und die Schulkommission einmal auch vorgeworfen (lacht). Aber ich hatte mich immer bemüht, einen fairen Umgang mit meinen Schülern zu pflegen und das haben sie auch geschätzt.
Auch über die Rolle der Eltern an der Schule wird immer wieder diskutiert. Wie viel Schule haben Sie den Eltern zugestanden?
In meinen ersten Jahren als Lehrerin gab es praktisch keine Elterngespräche. Wenn überhaupt wurden die Eltern nur kontaktiert, wenn ihr Kind in der Schule Probleme machte. Ein Elterngespräch hatte also fast immer einen negativen Hintergrund. Der regelmässige Austausch mit den Eltern kam erst später. Das war für mich insofern einfacher, als dass die Eltern schon bei mir in der Schule waren. Das machte die Situation viel leichter.
Mischen sich die Eltern Ihrer Meinung nach zu viel in die Belange Ihrer Sprösslinge ein?
Ich denke, dass sich in den meisten Fällen die Eltern und Lehrer schnell einig werden. Sicher gibt es auch Ausnahmen. Aber ich finde es wichtig, dass die Eltern über den Wissensstand und das Benehmen
ihrer Schützlinge informiert werden.
Sie haben 40 Jahre lang an allen Stufen der Primarschule unterrichtet. Was bleibt Ihnen in Erinnerung?
Es gab viele Momente und Situationen, die mir in Erinnerung bleiben. Am Herbstwandertag beispielsweise sind wir regelmässig in den Rohrberg gegangen. Da hat es auch eine Kapelle. Hier konnten sich meine Schüler darüber austauschen, was ihnen gut oder weniger gut am Unterricht gefällt. Das war eine wunderbare Erfahrung. Aufgrund dessen konnte ich meine Schulstunden anpassen und gestalten.
Haben Sie am Anfang getrennte Klassen unterrichtet?
Als ich in Glis angefangen habe, waren an der Schule acht Schwestern und drei Lehrer tätig. Ich war damals die einzige weltliche Lehrerin. Ich habe die dritte gemischte Klasse unterrichtet, und später die 4. und 5. Klasse. Der Kontakt zu den anderen Lehrpersonen war sehr eng und freundschaftlich. Die ganze Gliser Lehrerschaft hatte immer ein sehr kollegiales Verhältnis.
Die Lehrerschaft von Glis hat auch eine Fahne mit der sinnigen Inschrift: «Wer schaffen will, muss fröhlich sein.» Was hat es damit auf sich?
Die Idee dazu ist in einer geselligen Runde entstanden. Ich habe die Fahne entworfen. Die Handarbeitslehrerin hat sie genäht. Darauf ist ein Reisekoffer zu sehen, weil wir viel gereist sind. Dann hat es auch Gesangsnoten, weil wir eine fröhliche Truppe sind, und eine Chianti-Flasche, weil wir ab und an nach Domodossola gefahren sind. Und dazu die typischen Lehrersymbole wie Massstab und Lineal und Füller. Auch alle Unterschriften der Lehrpersonen wurden in die Fahne eingestickt.
Und wegen dieser Fahne wurden Sie auf der Akropolis in Athen fast verhaftet…
Das ist eine spezielle Geschichte. Wir haben die Fahne immer auf unsere Reisen mitgenommen. Auch nach Griechenland. Auf der Akropolis hat uns die Polizei angehalten, weil sie meinten, dass wir eine Demonstration veranstalten wollten. Wir haben dann den Polizisten erklärt, dass wir in friedlicher Absicht gekommen sind. Nach diesem Erlebnis haben wir die Fahne dann nie mehr mitgenommen. Sie hängt noch heute im Lehrerzimmer der Schule Glis.
Was kann die Schule von heute von Ihrer Generation als Lehrpersonen lernen?
Wir haben uns immer um die Interessen der Kinder gekümmert. Ich will damit nicht sagen, dass das Kind in der Schule heute nicht mehr im Mittelpunkt steht. Aber wir hatten mehr Zeit, uns um die Belange der Kinder zu kümmern und auf ihre Anliegen einzugehen. Dadurch war der Umgang einfacher. Aber mit den neuen Medien und den neuen sozialen Strukturen ist es sicher schwieriger, dieser Aufgabe gerecht zu werden.
In Ihrer Freizeit widmen Sie sich der Kunst der Kalligrafie. War Ihnen Schönschrift schon immer wichtig?
Unbedingt. Das war damals noch ein Schulfach. Am Ende des Schuljahres haben alle Kinder fast gleich geschrieben. Heute ist das leider verloren gegangen. Einerseits ist Schönschrift kein Schulfach mehr und andererseits schreiben heute viele Kinder in Blockschrift. Ich selber bin der Kalligrafie stark verbunden. Ich schreibe Urkunden, beschrifte Fotoalben oder Dokumente.
Sie sind zusammen mit sieben Geschwistern aufgewachsen und wussten schon früh, dass Sie Lehrerin werden möchten?
Das war immer mein Berufswunsch. Meine Eltern haben mir immer kleine Puppen geschenkt, denen ich dann Unterricht gegeben habe. Auch meine Kindergärtnerin Schwester Julia war ein grosses Vorbild und hat mich dazu animiert, später einmal diesen Berufsweg einzuschlagen.
Sie sind seit 20 Jahren pensioniert, aber noch lange nicht im Ruhestand. Wie verbringen Sie Ihre Zeit?
Im Altersheim bin ich als Kommunionhelferin im Einsatz. Dann mache ich viele Krankenbesuche und auch Kirchenführungen. Dazu koche ich sehr gerne und meine Geschwister essen regelmässig bei mir. Ich habe eigentlich immer etwas zu tun und mir wird nie langweilig. Wir feiern auch viele Feste in der Familie. Auch den 14. Juli, den Jahrestag der Republik Frankreich. Das kommt daher, weil mein Grossvater aus Südfrankreich ins Wallis eingewandert ist.
Wie viel Französin steckt denn in Ihnen?
Eine ganze Menge. Ich mag die französische Lebensart und bin gutem Essen und Trinken nicht abgeneigt. Ich bin zwar nicht bilingue aufgewachsen, aber bin der französischen Sprache einigermassen mächtig. Mein Vater war bilingue und hat in Gamsen die Primarschule besucht. Als er das Wort «schön» konjugieren musste, hat er anscheinend gesagt, «der Schöne, der Schönere, der Schönerere». Das wurde später sein Übername.
Was soll man Ihnen später einmal nachsagen?
Es würde mir gefallen, wenn über mich gesagt wird, dass ich meistens gute Laune hatte (lacht).
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