Frontal | Naters
«Wer eine freie Wohnung hat, soll Flüchtlinge aufnehmen»
Er schaut der Flüchtlingskrise nicht zu und wird aktiv: Jean-Pierre Brunner (45), Pfarrer von Naters, hat vor zwei Wochen drei Flüchtlinge aus der Ukraine im Pfarrhaus aufgenommen. Im Gespräch mit der RZ spricht er über erste Erfahrungen und sagt, warum jeder Flüchtenden helfen soll.
Jean-Pierre Brunner, die Kirche feiert im Jahr 2016 das Jahr der Barmherzigkeit, inwiefern hat das den Entscheid beeinflusst, drei Flüchtlinge bei Ihnen aufzunehmen?
Der Papst hat das Jahr der Barmherzigkeit als Heiliges Jahr ausgerufen, welches bereits heuer, am 8. Dezember 2015, beginnt. Wir haben uns im Pfarreirat und auch im Seelsorgerteam überlegt, wie wir diese Barmherzigkeit umsetzen. Eines der Werke der Barmherzigkeit ist, Fremde zu beherbergen. Das habe ich nun getan.
Ist dies der einzige Grund, weshalb die drei Brüder Voggos, Antares und Felix Lazqrev aus der Ukraine nun in einer Wohnung des Pfarrhauses in Naters wohnen?
Nein, natürlich nicht. Als unsere Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten Wohnungen im Wallis für Flüchtlinge suchte, habe ich mich spontan gemeldet, da eine Wohnung im Pfarrhaus (oberhalb der Wohnung von Pfarrer Jean-Pierre Brunner, die Red.) seit drei Jahren leer steht. Für einen Christen müsste das Werk der Barmherzigkeit – Fremde zu beherbergen – immer da sein. Nicht nur während eines Heiligen Jahrs, sondern jeden Tag.
Da sind wir jedoch weit von der Realität entfernt.
Wir müssen bei der Beurteilung vorsichtig sein. Es gibt gerade im Wallis mehrere Leute, die gerne helfen möchten und nicht helfen können. Das heisst, ihnen fehlen die Räumlichkeiten, um Fremde zu beherbergen. Gibt es jedoch eine freie Wohnung, wie jene bei uns im Pfarrhaus, so sollte es mehr oder weniger selbstverständlich sein, Fremde aufzunehmen.
«Christen müssen helfen, wo sie können – das ist selbstverständlich»
Somit kann nicht jeder Christ helfen, auch wenn er denn möchte.
Doch, eine Spende an die Glückskette ist immer möglich. Die Glückskette sammelt ständig für Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Aber eine Pflicht, die jeder Christ hat, ist es, die richtige Wortwahl im Zusammenhang mit Flüchtlingen zu treffen und sie nicht als Sündenböcke darzustellen. Für Christen muss es selbstverständlich sein, zu helfen, wo sie können.
Am 1. Oktober sind die drei Brüder aus der Ukraine in Naters eingezogen. Wie war die erste Begegnung?
Das war sehr speziell, denn ich hatte keine Ahnung, was für Menschen hier einziehen würden. Die Verantwortlichen haben mit mir vorher Rücksprache genommen und mich gefragt, welche Art von Flüchtlingen ich gerne beherbergen möchte. Das war mir egal, denn ich wollte primär jemandem helfen. Dann fanden die drei Brüder den Weg nach Naters zu mir. Für mich war die erste Begegnung wohl einfacher als für sie.
Warum das?
Ich bin es als Pfarrer gewohnt, mit Fremden zu kommunizieren und in Kontakt zu treten. Doch die Ungewissheit bei den drei Brüdern war sehr gross. Wer lässt uns da in sein Haus? Wie sieht es dort aus? Da war eine grosse Unbekannte. Als sie dann dort waren, erkannte ich ein Lächeln in ihrem Gesicht, als sie die Wohnung sahen. Alle strahlten sie, obwohl die Wohnung doch sehr klein und alt ist. Sie waren einfach dankbar; das hat mich fasziniert, denn ich habe ja «nur» eine Wohnung zur Verfügung gestellt.
Die Abmachung mit dem zuständigen Departement war es, dass Sie «nur» die Wohnung geben. Doch da alle im selben Haus wohnen, sieht man sich bestimmt öfters?
Ja, das ist richtig und es ist gut so, denn es hat sich schon nach den ersten Tagen wie eine kleine Kameradschaft zwischen uns gebildet. Ich gehe natürlich nicht stündlich die Treppe hinauf, um zu sehen, was sie tun oder ob sie etwas benötigen. Doch einmal täglich frage ich kurz bei ihnen nach, ob alles in Ordnung ist. Das gehört für mich einfach zur Gastfreundschaft dazu.
Wer kümmert sich finanziell um die drei Brüder?
Das zuständige Departement. Sie erhalten ein kleines Sackgeld, womit sie sich ihren Alltag finanzieren müssen. Die beiden Älteren (22- und 19-jährig) möchten gerne arbeiten, doch das geht derzeit nicht. Sie müssen sich zweimal pro Woche bei der Dienststelle in Glis melden. Diese hat nun zugesichert, dass sie nach Arbeit Ausschau hält. Der Jüngste (16-jährig) will zuerst besser Deutsch lernen und möchte später in der Schweiz studieren. Doch bezüglich Finanzen kümmert sich der Staat um die drei Brüder.
«Auch Natischer suchen bei uns Hilfe – und wir helfen ihnen»
Weshalb flüchteten sie aus der Ukraine?
Sie haben nur kurz mit mir darüber gesprochen. Was ich weiss: Ihr Haus in der Ukraine wurde bombardiert; es steht nicht mehr. Die Krim-Krise hat sie dazu gezwungen, aus ihrer Heimat zu flüchten. Sie suchen in der Schweiz Sicherheit, sie wollen ein Leben ohne Angst, sich wieder eine Existenz aufbauen und wieder ein Zuhause haben, deshalb sind sie hier.
Wie klappt die Verständigung?
Die älteren beiden lernten in der Schule Deutsch und dieses Deutsch reicht aus, um uns zu verständigen. Der Jüngste hat noch ein bisschen Mühe, doch auch er ist bemüht, schnell Deutsch zu lernen.
Wie lange werden die drei in Ihrer Wohnung bleiben?
Das weiss allein derjenige, der darüber entscheidet, ob ihr Asylgesuch angenommen oder abgelehnt wird. Das ist nicht ganz einfach, denn sie wissen nicht, ob sie langfristig hierbleiben können oder ob sie zurück in die Ukraine gehen müssen. In ein Land, das zwar ihre Heimat ist, in dem sie aber kein Zuhause mehr haben.
Herr Brunner, vor zwei Wochen sagte Franz Ruppen, Gemeinderat von Naters, in der RZ, dass sich ausschliesslich der Kanton um die Beherbergung von Flüchtlingen kümmern soll. Er betonte, dass dies nicht die Aufgabe von Privaten sei.
Als Pfarrer von Naters setze ich ein Zeichen. Ein Zeichen, welches in der Pfarrei Naters und auch im restlichen Oberwallis gesehen werden soll. Manchmal werden solche Zeichen gesehen, als Zeichen der Hoffnung, des Glaubens und der Menschlichkeit... Manchmal aber auch nicht.
In Naters wird kaum jeder applaudiert haben, mit dem Zeichen, das Sie damit setzen?
Natürlich fehlt da bei manch einem auch das Verständnis. Es gilt zu sagen, dass ich jedoch viele positive Rückmeldungen erhalten habe. Aus dem Dorf, der Region aber auch auf nationaler Ebene. Viele Leute haben mich angerufen und gefragt, wie sie helfen können. Ihnen habe ich geantwortet, dass es den drei Flüchtlingen aus der Ukraine bei mir gut geht, aber dass sie anderen helfen sollen; viele warten noch auf Hilfe.
«Die Flüchtlinge fragten mich, wann der Gottesdienst gefeiert wird»
Wie steht es mit den negativen Reaktionen?
Ganz ehrlich, mir gegenüber hat sich niemand negativ geäussert. Aber ich habe davon gehört, dass es auch Kritiker für diese Aktion im Dorf gibt. Mich sprechen die Leute jedoch nicht persönlich darauf an, weil sie vermutlich die Antwort scheuen.
Kritiker meinen, es gebe auch in unserem engsten Kreis Leute, die Hilfe benötigen.
Das ist richtig und denen helfen wir genauso. Es gibt fast wöchentlich Leute, die bei uns im Pfarrhaus vorbeischauen und um Hilfe bitten. Selbst Natischer bitten um finanzielle Hilfe. Und wir sind bemüht, ihnen stets zu helfen, obwohl es darunter auch Profiteure gibt. Deshalb geben wir kein Bargeld aus, sondern Einkaufsgutscheine. Manchmal begleichen wir sogar direkt Rechnungen für sie.
Ist die Geschichte mit den drei Flüchtlingen auch einmal ein Thema für eine Sonntagspredigt?
Sehr dezent war es das schon. Als die ganze Sache der Flüchtlinge mehr und mehr aufkam, fragte ich die Leute in einer Predigt, ob sie, ob wir uns eigentlich noch berühren lassen von solchen Ereignissen. Auch der Papst fragte in Lampedusa in einer Predigt, ob wir bereits so weit sind, dass uns dieses Elend der Menschen kaltlässt. Wir können es auch anders lösen und sagen: Die Politiker sollen das Problem lösen. Oder: Wir sagen, dass wir ohnehin nicht allen Menschen helfen können, also helfen wir niemandem. Das ist der falsche Weg. Deshalb fragte ich das Volk, wo wir uns noch berühren lassen. Damit meine ich nicht nur vom Elend der Flüchtlinge, sondern auch von unseren nächsten Verwandten oder von Nachbarn. Das ist eine Botschaft des Glaubens.
Besuchen die drei Brüder auch Ihren Gottesdienst?
Sie sind tatsächlich alle katholisch und haben mich bereits gefragt, wann in Naters ein Gottesdienst gehalten wird. Vielleicht schauen sie tatsächlich einmal vorbei.
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Kommentare
Sam - ↑14↓9
Es gäbe in Naters auch Familien welche eine mietfreie Wohnung bräuchten! Zuerst den eigenen Leuten helfen und dann anderen...
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Päuli - ↑8↓4
Ich nehme an, sie helfen diesen Familien mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten? Wenn ja: Super, weiter so.
Wenn nein, dann kann ich nur sagen: nehmen sie sich zuerst an der eigenen Nase. Wenn immer nur die anderen helfen sollen und man immer besser weiss, wer mehr Hilfe bräuchte, aber selber nix tut, dann sollte man einfach nur schweigen.
Und was sind eigene Leute? Meine Familie sind eigene Leute. Alle anderen sind einfach Mitmenschen, egal welche Nationalität sie haben. Mir ist keiner näher, nur weil er zufällig auch wie ich das Glück hatte, in der Schweiz geboren zu werden.
Chef - ↑8↓5
Ich bin mir sicher der Jean-Pierre hätte denen auch für eine Zeit lang geholfen und es gibt Stiftungen und Departemente für solche Familien, bei denen man sich mal melden müsste, aber dank den Rechts Wählern bekommen die ja auch immer weniger Geld.
Schaub Lorenz - ↑8↓8
So wie ich das sehe ist die Kirchgemeinde Naters (also wir) Barmherzig und nicht der Pfarrer.
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schnuggel - ↑3↓11
interessant, ich hatte bei der schweizer flüchtlingshilfe angemeldet, dass wir einen flüchtling aufnehmen wollten, da wir in unserem haus 1 zimmer zur verfügung stellen können. aber seit dem habe ich nichts mehr von der flüchtlingshilfe gehört.......jetzt wo es winter wird, ist doch schnelle hilfe angesagt, oder nicht?
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Rolando - ↑7↓7
Ja, wenn die Kirche die Türe öffnet, dann ist sie " vielleicht " endlich auf dem richtigen Weg.
Jean- Pierre Brunner in Naters macht den Anfang. :-)
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