Frontal | Gampel
«Wenn ich Auto fahre, fühle ich mich nicht behindert»
Er ist seit 22 Jahren an den Rollstuhl gebunden, ist aktiver Bogenschütze und Präsident des Rollstuhlclubs Oberwallis. Robert Lehner (61) über seine Behinderung, die Tücken des Alltags und das 30-Jahr-Jubiläum des Rollstuhlclubs.
Was war heute Morgen Ihr erster Gedanke?
Wie ist wohl das Wetter? Ich bin jeweils viel unterwegs und darum ist es für mich nicht unwichtig, was für Wetter ist.
Wie lange brauchen Sie in der Regel für Ihre Morgentoilette?
Im Schnitt brauche ich in etwa zwei Stunden. So viel Zeit muss ich einrechnen, bis ich mich geduscht habe und angezogen bin.
Vor 22 Jahren hatten Sie einen Unfall, der Sie an den Rollstuhl gebunden hat…
Nach einem Instruktoren-WK der Feuerwehr bin ich um die Mittagszeit mit dem Velo nach Hause gefahren. Dann bin ich auf den Töff gestiegen, um nach Niedergampel zu fahren. Da habe ich einen Selbstunfall verursacht. Was genau passiert ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass mir meine Feuerwehrkollegen, mit denen ich noch zehn Minuten vorher zusammengesessen war, Erste Hilfe geleistet haben.
«Ich habe auch mit meinem Schicksal gehadert»
Waren Sie bei Bewusstsein?
Ich kann mich nicht mehr an den Unfallhergang erinnern. Der Unfall passierte am 30. Januar 1993 und ich habe erst Mitte April in der Reha-Klinik in Basel das volle Bewusstsein wieder erlangt. Erst später habe ich erfahren, dass ich zuerst ins Inselspital nach Bern geflogen und später nach Basel in die Reha-Klinik verlegt wurde. Weil ich so schwere Verletzungen hatte, musste ich ins künstliche Koma gelegt werden. Insgesamt war ich ein Jahr lang in der Klinik.
Was war Ihr erster Gedanke, nachdem Sie wieder aufgewacht sind?
Schwer zu sagen. Zuerst habe ich gar nicht wahrgenommen, dass ich gelähmt war. Erst nach und nach ist das Bewusstsein allmählich wieder zurückgekehrt. Nach dem Unfall musste auch mein rechtes Bein amputiert werden. Die Lähmung an sich ist denn auch nicht durch eine Rückenmarkverletzung eingetreten, sondern weil ich einen Aortariss hatte.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihre Situation akzeptiert haben?
Da ich auch noch ein Schädel-Hirn-Trauma bewältigen musste, habe ich mich allmählich an die Situation gewöhnt. Ich hatte aber auch schlechte Momente und habe mit meinem Schicksal gehadert. Vor allem als ich auf die Abteilung zu den anderen Patienten verlegt wurde. Einerseits konnten wir uns da zwar gegenseitig aufbauen, andererseits wurde einem die missliche Situation aber erst recht bewusst. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich eines Tages mit dem Herrgott gehadert habe und zu ihm sagte: «Warum hast du mich verlassen?» Das hörte die zuständige Abteilungsschwester, die daraufhin zu mir kam und sagte: «Dich hat er nicht verlassen, eher ihn.» Dabei zeigte sie auf einen Patienten, der vom Kopf ab gelähmt war. Das ist mir voll eingefahren. Seither versuche ich, dem Leben immer die positiven Seiten abzugewinnen. Und meine Familie hilft mir dabei.
Fühlen Sie sich heute behindert?
Eigentlich nicht. Ich bin zwar auf den Rollstuhl als Fortbewegungsmittel angewiesen und muss auf viele Sachen verzichten. Trotzdem bin ich dank meinem Auto mobil und kann mich selbstständig fortbewegen. Wenn ich Auto fahre, fühle ich mich gar nicht behindert.
Und beim Einkaufen? Oder auf dem Weg zur Poststelle?
Das nehme ich eigentlich recht cool. Natürlich komme ich nicht an alle Sachen in den Einkaufsregalen. Aber die Leute zeigen sich sehr hilfsbereit und reichen mir die gewünschten Artikel. Das hat sich in der Gesellschaft zum Guten gewandelt. Früher wurden Behinderte fast wie Aussätzige behandelt und heute sind sie mehrheitlich in der Gesellschaft integriert.
Wie kommen Sie mit den baulichen Barrieren im Alltag zurecht?
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich doch einiges geändert. Dank den gesetzlichen Vorschriften werden heute fast alle Bauten behindertentauglich geplant. Auch Behinderten-Parkplätze und WCs sind schnell zu finden.
Trotzdem gibt es im Alltag viele bauliche Schranken, die es für Sie zu überwinden gilt. Ärgert Sie das oder lässt Sie das kalt?
Ich versuche mich immer vorgängig zu informieren, ob ein Gebäude behindertengerecht zugänglich ist. Ansonsten versuche ich, den Treffpunkt an einen anderen Ort zu verlegen. Es bringt nichts, wenn ich mich grün und blau ärgere. Das ändert nichts an der Situation. Aber im Grossen und Ganzen sind klare Fortschritte erkennbar und auch viele private Lokale haben entsprechende bauliche Anpassungen vorgenommen.
«Früher wurden Behinderte fast wie Aussätzige behandelt»
Die baulichen Barrieren sind eins, die Schranken im Kopf das andere. Wie begegnen Ihnen die Leute auf der Strasse?
Ich hatte schon die unterschiedlichsten Begegnungen. Weil ich nicht nur im Rollstuhl bin, sondern weil mir auch das rechte Bein fehlt, reagieren die Leute sehr unterschiedlich. Einmal kam ein kleiner Junge zu mir gelaufen und fragte mich, wo ich denn mein Bein hätte. Noch bevor ich antworten konnte, hat die Mutter den Jungen zurechtgewiesen. Daraufhin habe ich zur Mutter gesagt, die Frage des Jungen sei doch berechtigt und habe ihm alles erklärt. Daraus ist ein sehr interessantes Gespräch entstanden. Mir ist es lieber, wenn jemand auf mich zukommt und mich anspricht, als wenn die Leute hinter meinem Rücken tuscheln. Und wenn ich Hilfe brauche, geniere ich mich auch nicht, jemanden direkt anzusprechen.
Mit anderen Worten, mit Mitleid oder Berührungsängste können Sie nicht viel anfangen?
Nein, gar nicht. Einmal hat mir eine Frau in einem Einkaufscenter eine Zwanzigernote zugesteckt. Das hat mich getroffen und ich habe der Frau gesagt, ich sei kein Bettler. Die Frau war ein bisschen irritiert und hat das Geld dann wieder zurückgenommen. Wie gesagt, wenn ich Hilfe brauche, dann spreche ich eine Person direkt an.
Sie waren jahrelang ein erfolgreicher Bogenschütze und einer der Gründer des Oberwalliser Bogenschützenvereins. Wie sind Sie dazu gekommen?
Nach meinem Eintritt in den Rollstuhlclub Oberwallis hat mich Theo Kuonen schnell in diese Sportart eingeführt. Das hat mich sofort fasziniert. Wenn ich mit Pfeil und Bogen schiesse, fühle ich mich im Element. Weil wir immer nach Granges zum Training fahren mussten, habe ich vorgeschlagen, in Gampel einen eigenen Verein zu gründen. Daraus ist 1998 der Oberwalliser Bogenschützenverein entstanden. In diesem Verein sind behinderte und nicht behinderte Sportler organisiert.
Während Ihrer Aktivzeit haben Sie viele sportliche Erfolge gefeiert. So haben Sie unter anderem an der Weltmeisterschaft 2005 in Massa Carrara die Bronzemedaille geholt…
Es war eine sehr intensive, aber auch schöne Zeit. Allein die Teilnahme an den Paralympics in Athen und Peking und die Weltmeisterschaft in Südkorea bleibt mir in sehr guter Erinnerung. Die Begeisterung unter den Athleten und des Publikums war einmalig. Neben der sportlichen Erfahrung war auch der kulturelle Austausch sehr spannend.
«Im Jubiläumsjahr hoffe ich auf viele Besucher bei unseren Events»
Sie sind auch heute noch aktiver Bogenschütze, auch wenn Sie nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Wie wichtig ist Ihnen der Sport?
Er ist ein wichtiger Ausgleich für mich. Auch der Austausch neben dem Platz ist sehr wichtig, obwohl ich nach meinem Rücktritt vom Wettkampfsport viele Kollegen nicht mehr regelmässig sehe. Trotzdem freue ich mich immer wieder, aktiv am Training teilzunehmen.
Sie engagieren sich nicht nur im Bogenschützenverein, sondern sind auch Präsident des Rollstuhlclubs Oberwallis, der dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert. Was bedeutet Ihnen dieses Jubiläum?
Einerseits wollen wir uns der breiten Öffentlichkeit präsentieren und andererseits sind wir seit 30 Jahren bestrebt, Vorurteile gegenüber Behinderten abzubauen. Momentan gehören 105 Mitglieder zum Verein, wovon 30 Rollstuhlfahrer sind. Wir organisieren im Jubiläumsjahr verschiedene Festivitäten, an denen auch die Bevölkerung teilnehmen kann. Mitte September werden wir im Simploncenter in Brig-Glis einen Parcours aufbauen, den Nichtbehinderte im Rollstuhl absolvieren können. Zudem hat der Verein einen Jubiläumsausflug in die Toskana organisiert und im August laden wir unsere Mitglieder zum Sommerfest auf den Sportplatz in Susten ein. Neben den offiziellen Feierlichkeiten organisieren wir auch Ausflüge und sportliche Aktivitäten wie ein Mini-Golf-Turnier.
Was wünschen Sie dem Rollstuhlclub Oberwallis zum 30-Jahr-Jubiläum?
Ich wünsche allen Vereinsmitgliedern ein unfallfreies Vereinsjahr und hoffe, dass möglichst viele Leute unsere Veranstaltungen im Jubiläumsjahr besuchen und so einen Einblick in unsere Aktivitäten bekommen.
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