Brig-Glis / Lenzburg | Frontalinterview Katja Gentinetta
«Toleranz gilt nicht beliebig, sondern hat klare Grenzen»
Katja Gentinetta gehört zu den wichtigsten Denkerinnen der Schweiz und referierte kürzlich im Raiffeisen Forum in Brig. Im Frontalinterview gibt die Politikphilosophin einen Einblick in ihr Denken.
Frau Gentinetta, Sie üben verschiedenste Tätigkeiten aus. Was machen Sie eigentlich hauptsächlich?
Ich werde dies oft gefragt und antworte dann immer: Ich mache hauptsächlich viel Verschiedenes. Ein Teil meiner Arbeit besteht aus Lesen, Denken, Schreiben, Reden. Also die Welt beobachten, über sie nachdenken, mir meine Meinung dazu machen – und sie abgeben. Dazu gehören Referate, Zeitungsartikel, Bücher und Moderationen. Daneben habe ich Verwaltungsratsmandate, Stiftungsratsmandate und bin Lehrbeauftragte für Politische Philosophie an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern.
Sie bezeichnen sich als Politikphilosophin. Was ist das genau?
Schon Aristoteles hatte zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie unterschieden: Zur theoretischen Philosophie gehört zum Beispiel die Logik. Zur praktischen Philosophie zählt einerseits die Ethik: Wie führe ich als Mensch ein gutes Leben? Und die politische Philosophie: Wie wollen wir Menschen zusammen leben, wie organisieren wir Staat und Gesellschaft, was für Regeln geben wir uns?
Sie orientieren sich sehr stark an den alten griechischen Denkern, die vor 2500 Jahren gelebt haben. Sind Aristoteles & Co. wirklich noch zeitgemäss?
In der griechischen Philosophie wurden Prinzipien formuliert, die zwar unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind, aber generelle Gültigkeit haben und deshalb auch heute noch aktuell sind.
Um was für Grundsätze handelt es sich?
Im klassischen Griechenland entwickelte sich die Demokratie. Die damaligen Bürger – Frauen und Sklaven zählten damals freilich noch nicht dazu – formulierten die Gesetze und Institutionen, unter denen sie leben wollten. Dieser Kern ist geblieben und wurde seither in der politischen Philosophie und auch praktisch weiterentwickelt, bis zu den liberalen Demokratien, wie wir sie heute kennen. Dies war auch möglich, weil individuelle Freiheit und politische Mitbestimmung, das ist meine Überzeugung, dem Menschen entspricht.
«Die politische Lüge hat an Bedeutung gewonnen»
Im Vortrag am Raiffeisen Forum in Brig erwähnten Sie die Sophisten aus dem antiken Griechenland, denen es nur darum ging, das rhetorische Rededuell für sich zu entscheiden. Die Faktenlage, die Wahrheit ist nebensächlich. Sie schlugen einen Bogen zur heutigen Zeit. Gibt es in unserer Zeit wieder zu viele Sophisten?
Die politische Lüge hat in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen. Der Punkt ist: Reine Wahrheitssuche wäre keine Politik, sondern Philosophie. Wenn sich jedoch politische Rhetorik nicht mehr der Wahrheit verpflichtet, ist das schädlich für die Demokratie, denn diese braucht einen Konsens darüber, welches die zentralen Tatsachen und Werte sind. In der Politik muss man gute Argumente überzeugend vortragen können, sich dabei aber immer auch den Fakten und der Realität verpflichten.
Betrachten wir die medialen Wahlkämpfe, etwa in den USA. Haben Umfrageergebnisse und Show nicht eine viel zu grosse Bedeutung, bleibt die Realität nicht auf der Strecke?
Politik ist die «res publica», die öffentliche Angelegenheit, und das bedingt auch, dass man in der Öffentlichkeit seine Stimme so erheben kann, dass man gehört wird. Ohne Ambitionen, an die Macht zu kommen, kann man keine Politik betreiben. In jedem System, auch in einer Demokratie, muss man Wähler überzeugen, die einen an die Macht bringen sollen. Entscheidend aber ist, dass diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht sind, über keine absolute Macht verfügen. Sie werden durch das Gesetz, die Gewaltentrennung, durch «Checks and Balances» und durch regelmässige Wahlen eingeschränkt, sodass niemand eine Willkürherrschaft betreiben kann. All dies schränkt auch die Handlungsmacht des heutigen Präsidenten der USA ein.
In Ihrem letzten Buch «Worum es im Kern geht», erschienen 2017, erklären Sie die Krisen der Gegenwart aus politikphilosophischer Sicht.
Das Buch ist eine Sammlung meiner von 2011 bis 2017 geschriebenen Kolumnen aus verschiedenen Zeitungen: «Aargauer Zeitung», NZZ, «Die Zeit», «Handelszeitung». Darin behandle ich die Krisenjahre nach 2008: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise. Ich habe versucht, diese Krisen von ihrem politikphilosophischen Grundsatzproblem – eben ihrem Kern her – zu beleuchten. Dazu gehören Fragen wie: Was ist die Aufgabe eines Staates? Welches ist die Logik der Wirtschaft? Was ist eine gute Wirtschaftspolitik? Welche Regeln gelten in einer Gesellschaft? Wer definiert diese Regeln? Was ist Toleranz und wo liegen die Grenzen der Toleranz?
Sie schreiben «Unsere westlichen Werte sind herausgefordert – leben wir sie, ohne sie zu verraten», woran denken Sie dabei?
Nehmen wir als Beispiel die individuelle Freiheit, ein wichtiger Wert, den sich unsere Vorfahren erkämpft haben und von dem wir immer noch profitieren. Die Frage ist nun: Wem steht diese Freiheit zu und wie weit kann sie gehen? Freiheit bedeutet nicht «anything goes», sondern baut auch auf bestimmten Regeln. Etwa dem Grundsatz: Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des andern beginnt. So gilt auch die Toleranz nicht beliebig, sondern hat klare Grenzen.
Ihre Dissertation trug den Titel «Toleranz ohne Grenzen». Braucht die Schweiz eine neue Toleranzkultur?
Nein. Nehmen wir die Integration von Ausländern. Hier ist die Schweiz sehr erfolgreich. Die Frage lautet nun: In welchem Masse dürfen fremde Kulturen hierzulande gelebt werden? Zum Beispiel: Es gilt eine Bildungspflicht für alle Kinder, unabhängig vom Geschlecht. Vor dem Gesetz gilt die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Es gilt unser Rechtsstaat. Das sind die westlichen Werte, an denen wir festhalten müssen.
In Verbindung mit fremden Kulturen und Bildung gab es etwa die Kontroverse, ob muslimische Mädchen eine Dispens für den Schwimmunterricht in der Schule bekommen sollen. Sie sind also gegen eine Dispens?
Weil eben das Recht auf Bildung und auch die Verpflichtung zur Bildung für alle gilt.
Ist diese Frage nicht eine Bagatelle? Es geht ja nicht um Mathematik oder Sprachunterricht?
Es geht darum, welche Grundregeln in unserer Gesellschaft gelten. Dazu gehören gleiche Bildung, gleiche Rechte, gleicher Zugang zur Öffentlichkeit. All das fängt in der Schule an.
Da drängt sich auch die Frage nach einem Kopftuchverbot ja oder nein auf.
Es wäre alles kein Thema, wenn das Kopftuch kein politisches Symbol wäre. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der die Freiheiten, die sich unsere Mütter und wir erkämpft haben, für unsere Töchter nicht mehr gelten.
Ein wichtiges Thema, mit dem Sie sich kürzlich in einer Ihrer Kolumnen beschäftigten: die Reform der Altersvorsorge.
Ein Thema, das die Schweiz schon lange beschäftigt und wohl noch lange beschäftigen wird. Jede Diskussion um eine Reform, auch die Erhöhung des Rentenalters, greift einen Besitzstand an. Wenn ich die politischen Diskussionen, die seit Jahren geführt werden, verfolge und auf Reformen im Ausland blicke, gibt es nur eine – unbefriedigende – Antwort: Eine Reform gibt es nur, wenn der finanzielle Druck so gross ist, dass es nicht mehr anders geht. Bei der IV brauchte es zehn Milliarden Schulden, bis etwas in Bewegung kam. Auch der bevorstehende Zustupf, über den wir in Kombination mit der Steuervorlage 17 abstimmen, ist keine Reform, die den Herausforderungen gerecht wird. Denn diese liegen vor allem in der erhöhten Lebenserwartung.
Sie sind Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Was ist Ihre Aufgabe dort?
Die humanitäre Mission des IKRK besteht darin, das Leben und die Würde der Opfer bewaffneter Konflikte zu schützen und menschliches Leid zu vermindern. Basis dafür ist das humanitäre Völkerrecht. Dafür sind die Mitarbeiter des IKRK in den Krisengebieten dieser Welt tätig. Ich nehme im IKRK eine Führungsaufgabe auf Governance-Ebene wahr, reise aber auch ab und zu in Krisengebiete.
Sie moderieren zusammen mit Eric Gujer den NZZ Standpunkt im Schweizer Fernsehen. Was haben Sie für Wunschgäste, die Sie gerne eines Tages in der Sendung begrüssen würden?
Gerne hätte ich mit Francis Fukuyama diskutiert – immerhin konnte ich ihn kürzlich live hören. Wenn sie noch leben würde, wäre Hannah Arendt mein Traumgast: eine politische Philosophin, die sich intensiv mit dem Totalitarismus auseinandergesetzt hat, also dem Gegenteil von Demokratie. Gerade heute, wo autoritäre Systeme wieder an Verführungskraft gewonnen haben, wäre ihre Einschätzung der Gegenwart interessant.
Frank O. Salzgeber
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar