Arolla | Risikoforscher Werner Munter im Interview
«Sicherheitsverantwortliche agieren zu übervorsichtig»
Er ist Querdenker, Bergführer, Buchautor und gilt als einer der renommiertesten Risikoforscher der Schweiz. Zeitlebens hat sich Werner Munter (78) mit der Lawinenforschung auseinandergesetzt und wird daher oft als «Lawinenpapst» bezeichnet. Ein Gespräch.
Sie waren zeitlebens in den Bergen unterwegs. Sind Sie schon einmal in eine Lawine geraten?
Ja.
Erzählen Sie…
Nein.
Warum nicht?
Ich bin klaustrophob. Sie können sich vorstellen, dass es für einen solchen das Allerschlimmste ist, in einer Lawine lebendig begraben zu sein. Darum erzähle ich darüber nichts. Das ist zu intim. Man spricht auch nicht über den eigenen Tod.
Akzeptiert. Reden wir über Ihre langjährige Tätigkeit als Lawinenforscher. Dabei setzten Sie sich immer für ein Umdenken ein: Risiko- statt Sicherheitskultur. Klären Sie uns auf?
Nach meiner Auffassung ist Risiko ein Menschenrecht und müsste sogar in der Verfassung verankert sein. Weniger Unfälle anstreben, indem wir die Vorsichtsmassnahmen der Gefahr anpassen («erst wägen, dann wagen») und nicht durch Erhöhung der «Sicherheit» ist der richtige Weg.
Das bedarf einer Erklärung...
Immer wenn Skifahrer oder Tourengänger eine Lawine auslösen, heisst es überall, die Schuldigen seien zu verurteilen und müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Für mich ist das eine Horrorvorstellung. Es ist doch das Recht eines jeden Einzelnen, kalkulierte Risiken einzugehen und damit zu leben. Gleichzeitig muss man dann aber auch bereit sein, allfällige Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Selbstverantwortung heisst das Schlagwort.
Wenn ich Sie richtig verstehe, finden Sie es auch nicht in Ordnung, wenn es nach einem Unglück zu einem juristischen Nachspiel kommt?
Die Justiz sollte sich nur dann einmischen, wenn unbeteiligte Dritte zu Schaden kommen. Juristische Verfahren drehen sich immer um die Frage der «Sicherheit». Das ist in meinen Augen falsch. Wer in die Berge geht, nimmt bewusst höhere Risiken in Kauf. Und nicht jeder Unfall beweist, dass ein zu hohes Risiko eingegangen wurde, das wäre Kausalhaftung, die unserer Rechtsprechung fremd ist. Schuldig ist nur, wer das Risiko nicht eingeschätzt hat und einfach kopflos drauflosgefahren ist. Wer das Risiko bewusst, aber falsch eingeschätzt hat, handelt nicht fahrlässig und ist in meinen Augen nicht schuldig.
Risiko ist ein
Menschenrecht
Wie bitte? Dann nehmen Sie ja Tote in Kauf? Das ist doch schrecklich…
Ich nehme Tote in Kauf. Das ist richtig und gehört zum Leben. Im täglichen Strassenverkehr verhält es sich ja beispielsweise so. Ein Autofahrer wird immer wieder mit heiklen Entscheiden konfrontiert. Überhole ich oder nicht? Auch da muss das Risiko eingeschätzt werden. Wenn die Risikoanalyse falsch ist, passierts. Dann muss man aber auch die Konsequenzen in Kauf nehmen. Absolute Sicherheit gibt es nicht. Risiken hingegen können nach dem heutigen Stand der Wissenschaft tief gehalten werden.
Darum sagen Sie auch, leben ist risikobehaftet...
Absolut. Das fängt bei der Geburt an. Alles Leben ist lebensgefährlich. Ich möchte gar nicht alle Risiken vermeiden, sie machen das Leben erst spannend und lebenswert. Zudem hat die Unfallforschung längst gezeigt, dass Risikobewusste weniger Unfälle verursachen als Personen, die überzeugt sind, die Sache im Griff zu haben.
Bergbahnen sehen im Freeriden eine Möglichkeit, weitere Gäste anzuziehen und diese mit entsprechenden Angeboten zu ködern. Was sagen Sie zu diesem Trend?
Das ist doch toll. Doch auch hier gilt für jeden Einzelnen: Selbstverantwortung und Risikomanagement. Dadurch bin ich überzeugt, dass Unfälle vermieden werden können und letztendlich alle profitieren.
Damit verbunden ist auch eine richtiggehende Industrie in Sachen Sicherheitsausrüstung entstanden. Was halten Sie davon?
Das ist im Prinzip eine gute Entwicklung, doch müssen diese Hilfsmittel zusammen mit bewusstem Risikomanagement eingesetzt werden. Sie dürfen auf gar keinen Fall dazu führen, dass wir uns zu leger in der Natur bewegen. Ansonsten vermitteln sie eine falsche Sicherheit und man geht grössere Risiken ein.
Behaupten Sie das einfach so, oder wie stützen Sie diese These?
Ich geben Ihnen ein Beispiel: In Österreich liess ein Ausbildner angehende Bergführer einen herrlichen Pulverschneehang schriftlich beurteilen. Fahren oder nicht, lautete seine Frage. Sämtliche Kandidaten sagten Ja. Dann wurde den Kandidaten das Verschüttetensuchgerät abgenommen. Plötzlich wollte keiner mehr fahren.
Aber Skifahren mit Helm beispielsweise ist doch zweifellos sicherer als ohne?
Persönlich trage ich auf Skitouren keinen Helm, aber ich würde niemandem verbieten, seinen Kopf auf diese Weise zu schützen. Auch hier gilt: Wer einen Helm trägt, geht grössere Risiken ein. Ich beobachte das täglich, wenn behelmte Skifahrer mit unsinnigem Tempo im dichten Wald Slalom fahren. Die moderne Ausrüstung wird immer mehr zur Rüstung, was zeigt, dass wir die Natur als feindlich empfinden. Helm auf, es geht in den Kampf! Ich fühle mich in der Natur geborgen und nicht bedroht… Das Helmtragen hat sich in der Gesellschaft einfach etabliert ohne auch nur einen einzigen Gedanken an das von mir gepredigte Risikomanagement zu verlieren. Wir werden nicht zuletzt von Justiz und Gesetzgeber geradezu zum Helmtragen gezwungen. Wer ohne Helm einen Unfall verursacht, wird von der Versicherung fallen gelassen. Das ist gesellschaftspolitisch eine gefährliche Entwicklung.
Risikomanagement als politische Komponente?
Der erste Satz meines Buchs lautet: «Risikobereitschaft ist von fundamentaler Bedeutung für die Entfaltung einer freien demokratischen Gesellschaft.» Heisst vereinfacht: Risikofreie Demokratien gibt es nicht. Dazu gehört auch die freie Meinungsäusserung und das Recht, eine eigene Meinung zu haben. Absolute Kontrolle führt zur Diktatur. Deshalb vertrete ich den Standpunkt: unter der Voraussetzung eines guten Risikomanagements, so wenig Verbote wie möglich. Ich wiederhole mich. Risiko- statt Sicherheitskultur.
Sie plädieren ja sogar für die Einführung eines Schulfachs «Risikokultur». Wie wäre der Unterricht gestaltet?
Anhand eines einfachen Beispiels wie Gartenarbeit. Mit was für Massnahmen kann das Risiko verkleinert werden, dass die Leiter umfällt. Mit ganz einfachen Verhaltensregeln kann dies erreicht werden. Aber auch hier gilt. Ein
Restrisiko bleibt, und damit müssen wir leben. Wenn dann trotz Berücksichtigung aller empfohlenen Vorsichtsmassnahmen genau dieses Restrisiko eintrifft, so ist es halt einfach passiert. Dann brauchen wir danach auch kein Juristentheater anzufangen. Immer unbedingt einen Schuldigen suchen zu wollen, sind amerikanische Methoden, welche in meinen Augen falsch und langfristig schlicht nicht zielführend sind. In den USA geht es letztlich um Geld und nicht um Schuld und Strafe.
Wer einen Helm trägt, geht grössere Risiken ein
Auf die Lawinenkunde übertragen, bedeutet das konkret?
Ich war der Erste, welcher in der Lawinenkunde versucht hat, das Risiko zu beziffern. Meine Reduktionsmethode akzeptiert einen Lawinentoten auf 100 000 Skitouren, d. h. wenn jemand 100 000 Skitouren macht, ist er einmal tot, vielleicht schon das nächste Mal… Dieses Restrisiko bleibt. Das hat die Gesellschaft zu akzeptieren.
Zum Schluss noch ein Wort zum 20. Jahrestag des tragischen Lawinenwinters von 1999 (unter anderem schweres Lawinenunglück in Evolène mit zwölf Toten. Im Nachgang wurden Verantwortliche verurteilt. Anm. Red.) Was haben wir Ihrer Meinung daraus gelernt?
Wahrscheinlich nicht viel. Wir setzen nach wir vor auf Sicherheitskultur und verlernen dadurch den Umgang mit dem Risiko. In einer «sicheren» Umgebung verlieren wir unsere Überlebensinstinkte. Auch der Gesetzgeber setzt heute immer noch auf Anklagen auf Teufel komm raus. Wenn dann der Schuldige gefunden wurde, gehen wir wieder zur Tagesordnung über. Aus Angst vor der Justiz agieren Sicherheitsverantwortliche oft übervorsichtig. So wurde das Haus in Arolla, in dem ich wohne, nach dem Unfall voreilig in die rote Zone eingestuft, eine typische Überreaktion nach dem Schock.
Sie wohnen in Arolla und somit in der Nähe von Evolène. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie dort vorbeifahren?
Das damalige Urteil gegen die Gemeindeverantwortlichen ist ungerecht. Der wahre Grund des tragischen Unglücks ist meiner Meinung nach nicht bei den damaligen Entscheidungsträgern zu suchen. Das betroffene Gebiet war ursprünglich in der roten Gefahrenzone. Später wurde es auf Stufe blau zurückgesetzt, damit es überbaut werden konnte.
Peter Abgottspon
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