Frontal | Bratsch
«Nicht alle Schüler können dasselbe Tempo gehen»
Vor zwei Jahren eröffnete Damian Gsponer die gd-Schule in Bratsch und geht mit seinem Schulmodell neue Wege. Im RZ-Interview spricht er über Erfahrungen, Herausforderungen und der fehlenden Unterstützung vom Kanton Wallis.
Damian Gsponer, über 50 Kindernamen stehen auf der Warteliste der gd-Schule Bratsch, wann bauen Sie die Schule aus?
Es liegt weniger an mir, diese Frage zu beantworten, als vielmehr an jenen, die ähnliche Interessen bezüglich Schulsystem pflegen wie wir bei der gd-Schule. Es gibt Gemeinden, die sich für unser Schulmodell interessieren oder es gibt auch das Beispiel von Brig: Dort wurde ein Vorstand gegründet mit dem Ziel, irgendwann eine Schule nach dem Brader Modell aufzubauen. Grundsätzlich ist es erstrebenswert, dass jedes Kind im Oberwallis, das unser Schulsystem bevorzugt, Platz an einer solchen Schule findet. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass wir zu schnell wachsen.
Weshalb ist ein zu schnelles Wachstum eine Gefahr?
Es braucht eine gute Verwurzelung. Deshalb empfinde ich es als wichtig, dass die Leute, die eine Schule nach unserem System leiten, zuerst ein Jahr lang mit uns Erfahrungswerte sammeln.
Sie sind Lerntherapeut, Pädagoge, leiteten die Regionalschule Leuk als Schuldirektor und waren früher Dozent an der Hochschule Wallis. Was hat Sie bewegt, die gd-Schule in Bratsch zu gründen?
Bereits als Student an der PH definierte ich diverse Dinge anders, als sie im Lernplan vorgegeben waren. Das Ganze war jedoch ein laufender Prozess; ich habe Schulen besucht, mir über Schulmodelle Gedanken gemacht. In Leuk habe ich dann vom ersten Tag an neue Ideen umgesetzt. Deshalb war es auch mein grosser Wunsch, dass wir unsere Schule unter dem kantonalen Dach aufbauen. Während die Gemeinden Gampel-Bratsch und Leuk die Idee getragen haben, erhielten wir vom Kanton keine Unterstützung. Deshalb blieb für uns eigentlich nur noch der Weg einer Privatschule übrig. Doch das wiederum wollte ich nicht.
Warum eigentlich nicht?
Es kann nicht sein, dass Eltern ihren Kindern die Schule bezahlen und gleichzeitig mit ihrem Steuergeld ein anderes Modell mitfinanziert wird. Das stimmt für mich so nicht. Kommt hinzu, dass Familien einen hohen Aufwand betreiben müssen, damit ihre Kinder unsere Schule besuchen können. Deshalb wünsche ich mir, dass unser Modell eines Tages vom Kanton unterstützt wird.
Ihr Schulmodell wird im Kanton Wallis nicht von allen gutgeheissen. Weht Ihnen manchmal ein eisiger Wind entgegen?
Ja, das kann vorkommen. Das geht von offiziellen Statements bis hin zu anonymen Briefen. Erst kürzlich bin ich mit Christophe Darbellay und Vertretern seines Departements zusammengesessen, als sie mir erklärt haben, dass sie auch künftig keine Gelder für unser Schulmodell sprechen werden. Doch glücklicherweise fürchte ich das Urteil der Mitmenschen nicht, sonst wäre es sehr schwierig gewesen, die Schule in Bratsch überhaupt aufzubauen.
Wie sehr frustriert Sie das, dass der Kanton Ihr Schulmodell nicht unterstützt?
Gar nicht. Ich bin froh, dass sie sich überhaupt Zeit für mich genommen haben. Das ist nicht selbstverständlich. Hinzu kommt, dass wir durch dieses Gespräch Klarheit gewonnen haben. Denn vorher hatte ich immer noch ein bisschen die romantische Vorstellung, dass uns der Kanton allenfalls finanziell unterstützen könnte.
In Ihrer Schule gibt es keinen Stundenplan, keine Noten, keine Schulfächer – worauf wird der Fokus gelegt?
Das beginnt bereits mit der Anmeldung: Wir sprechen mit sämtlichen Eltern ein halbes Jahr vor Schuleintritt. Das finde ich sehr wichtig, wenn man bedenkt, dass anschliessend eine zehn- bis elfjährige Zusammenarbeit entsteht. Anschliessend entscheiden wir aufgrund der individuellen Entwicklung sämtlicher Schüler, wer welches Pensum absolviert. Die Vorstellung, dass sämtliche Kinder, welche im selben Jahr geboren wurden, dasselbe Tempo in der Schule gehen können, ist eine Illusion. Die Entwicklungspsychologie verrät uns, dass siebenjährige Kinder Unterschiede von bis zu vier Jahren haben können.
Ihre Schulklassen sind aufgeteilt in drei Phasen. In der dritten und letzten Phase bereiten Sie die Kinder auf das Berufsleben vor und werden diesbezüglich schon sehr praktisch.
Es ist so, dass die Kinder in der dritten Phase meist noch nicht eine klare Berufsrichtung haben. Ist die Berufsrichtung jedoch schon vorhersehbar, wie dies zurzeit bei zwei unserer Schüler der Fall ist, so ermöglichen wir ihnen, dass sie einmal pro Woche Erfahrungen im Berufsalltag sammeln können und an vier Tagen die Schule besuchen. Zudem wollen wir die Lerninhalte auf den Berufsalltag ausrichten.
Haben Ihre Schüler nach Abschluss der Phase drei sämtliche Basics, die ein Schüler nach der Orientierungsschule aufweist?
Ich unterscheide bei dieser Frage zwischen drei Bereichen: der Selbstkompetenz, der Sozialkompetenz und der Fachkompetenz. Für mich ist die Sozial- und Personalkompetenz matchentscheidend. Wenn ich weiss, wie ich lerne und wo ich Hilfe beim Lernen holen kann, dann kann ich alles lernen. Darauf legen wir den Fokus. Anders ist es beim Bereich Wissen, dieser Bereich verändert sich ständig.
Heisst das, die Schüler erreichen das gewünschte Level ihrer Altersklasse?
Ja, das tun sie. Gerade im vergangenen Schuljahr hat der kantonale Schulinspektor die Jahresprüfungen unserer Schüler persönlich überwacht und Zuständige des Kantons haben sie später korrigiert. Das Ergebnis war erfreulich: Unsere Schule hat auf sämtlichen Stufen überdurchschnittlich abgeschlossen. In teils Klassen sogar mit jüngeren Schülern als sie es im kantonalen Schulsystem sind. Demnach sind wir gut unterwegs.
Die Schule befindet sich in Bratsch. Das ist ein Standortnachteil. Einverstanden?
Nein, Bergdörfer bieten eine ideale Lernumgebung. Ruhig, nahe der Natur und mit viel Gestaltungspotenzial. Die Leute sind sich bewusst, wie wertvoll eine Schule für das Dorf ist und beteiligen sich dementsprechend aktiv. Bezüglich Standort gilt zudem zu sagen, dass das Dorf Bratsch seit der Eröffnung der Schule leicht angewachsen ist und noch weiterwachsen wird. Das ist eine tolle Geschichte für ein Bergdorf.
Die Gemeinde Gampel-Bratsch beteiligt sich mit 30 000 Franken an der Schule. Das allein wird nicht reichen.
Richtig. Wir haben ein sehr soziales Schulgeldmodell. Das heisst, die Eltern kreuzen an, was sie bezahlen können. Es ist uns einerseits wichtig, dass unser Modell für alle zugänglich ist, andererseits entstehen dadurch natürlich finanzielle Löcher. Support erhalten wir von unterschiedlichen Unternehmen, Stiftungen sowie Privatpersonen und unserem Gönnerverein. Weiter haben wir auch eine eigene Stiftung gegründet. Dennoch gilt diesbezüglich zu sagen, dass in meiner Vorstellung ein Schulbesuch kostenlos sein müsste.
Ihre Schule lehnt sich an den neusten Erkenntnissen der Hirnforschung an. Was heisst das konkret?
Die neusten Erkenntnisse gehen darauf zurück, was Leute bereits in früheren Jahren gesagt haben: Wir handeln mit Kopf, Herz und Hand. Lernen ist keine kurzfristige Aufnahme von Wissen. Lernen ist ein Prozess zur Erkenntnis und ein Verständnis aufgrund von gesammelten Erfahrungen. Die Hirnforschung zeigt uns auf, dass Kinder dann lernfähig sind, wenn sie mit Begeisterung und Neugier lernen können und die Inhalte mit ihrer Lebenswelt verknüpft sind.
Simon Kalbermatten
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar