Frontalinterview | Anni Lanz, Rentnerin und Menschenrechtsaktivistin

«Menschlichkeit steht für mich über dem Gesetz»

«Unsere Privilegien haben wir auch auf Kosten anderer Länder», Anni Lanz
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«Unsere Privilegien haben wir auch auf Kosten anderer Länder», Anni Lanz
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Mitte August wurde die Baslerin Anni Lanz (73) vom Walliser Kantonsgericht zu einer Busse verurteilt, weil sie einen obdachlosen und kranken Flüchtling aus Afghanistan illegal in die Schweiz holen wollte. Im RZ-Interview erzählt sie, warum sie den Mann über die Grenze schleusen wollte und weshalb sie Flüchtlingen unter die Arme greift. 

Frau Lanz, was empfinden Sie als Baslerin, wenn Sie an den Kanton Wallis denken?

Dazu kann ich wenig sagen, weil ich das Wallis zu wenig kenne. Ich kenne nur einen Staatsanwalt und zwei Richter. Sie sind aber viel freundlicher als die Richter in Basel, besonders wenn ich an diejenigen im Zwangsmassnahmengericht für Ausländer denke. Die Walliser waren sehr Anteil nehmend und fanden es sogar richtig von mir, geholfen zu haben – nur legal hätte es sein sollen.

Sie wurden im Dezember 2018 vom Bezirks­gericht Brig und im vergangenen August vom Kantonsgericht Sitten wegen Förderung der illegalen Einreise verurteilt. Wie haben Sie diese Urteile aufgenommen?

Ich weiss, dass man niemandem die illegale ­Einreise erleichtern darf. Ich habe mich aber von Anfang an auf übergeordnete Rechtsprinzipien berufen, weil ein Mann aus Afghanistan in einer unmenschlichen Situation war. Das Gericht war aber der Ansicht, dass es legale Mittel gegeben hätte, dem Mann zu helfen. Das ist spekulativ.

Hatten Sie kein schlechtes Gewissen, dem Flüchtling bei der Einreise zu helfen, obwohl Sie wussten, dass Sie etwas Illegales tun?

Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich das nicht gemacht hätte, weil ich mich dadurch der Unterlassung von Nothilfe schuldig gemacht hätte.

Sie hätten ihn doch ins Spital in Domodossola bringen können?

Der Staatsanwalt war sogar der Ansicht, dass man den Mann in einer warmen Stube hätte unterbringen können. Aber in Italien ist es strafbar, jemanden unterzubringen, der keine Papiere hat. Der Mann war zwar nur leicht unterkühlt, aber psychisch schwer krank. Und er hat gefroren, weil er schon drei Nächte in der Kälte ­verbracht hatte. Wären wir ins Spital gegangen, hätte man uns gesagt, ein Spital sei keine Notschlafstelle. Zudem hatte er seine Medikamente nicht dabei – starke Neuroleptika, die man nicht plötzlich absetzen darf –, weil sein Gepäck am Flughafen verloren ging. Auch die Arztzeugnisse aus der Schweiz hatte er nicht dabei. Ausserdem hatten ihm die Ärzte in der Schweiz geraten, bei seiner Schwester zu bleiben, die in Basel lebt und eine feste Aufenthaltsbewilligung hat. Sie ist die einzige Person, die ihn stabilisieren kann. Also stand ich unter Druck. Es war Samstag, Wochenende, niemand hatte Zeit und ich konnte mich an keine Behörde wenden. Ich hatte in diesem Moment keine andere Möglichkeit, als den Mann mit dem Auto in die Schweiz zu bringen.

Trotzdem sind Sie zu weit gegangen…

Ich bereue nichts. Es gibt viele Leute, die Not leidenden Menschen helfen, über die Grenze zu kommen. Die meisten zahlen ihre Geldstrafe, weil ein Rekurs teuer und anstrengend ist. Ich war aber so empört über die Abschiebepolitik der Schweizer Asylbehörden, dass ich vor Gericht ging. Ich wollte, dass dieser Fall an die Öffentlichkeit kommt.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als man Sie an der Grenze in Gondo angehalten hat?

Natürlich habe ich mir erhofft, dass wir ohne Scherereien über die Grenze kommen. Aber ich wusste auch, dass hinten im Auto jemand sitzt, der keine Papiere hat. Darum habe ich auch in Kauf genommen, vor Gericht gestellt zu werden. Ich nahm die Verantwortung auf mich, obwohl ich nicht am Steuer gesessen bin.

Und dann? Wie hat die Grenzpolizei reagiert?

Die Grenzpolizistin hat mir einen Vortrag gehalten und sagte zu mir, das Gesetz komme vor der Moral. Damit bin ich nicht einverstanden. Menschlichkeit steht über dem Gesetz.

Weshalb haben Sie sich für diesen Flüchtling, der aus Afghanistan geflohen ist, so eingesetzt?

Ich gehe jede Woche zweimal ins Ausschaffungsgefängnis in Basel. Da habe ich ihn kennengelernt. Ich konnte zwar nicht mit ihm reden, weil er nur Paschtun spricht, habe aber nonverbal gespürt, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmt. Er hat mir dann die Telefonnummer seines Schwagers gegeben, der mir die Gründe für sein Asylgesuch erklärt hat. Er sagte, dass der Mann beim Geheimdienst tätig war und deshalb von seinen Gegnern, den Taliban, gesucht werde. Ich erfuhr auch, dass er schon fünf oder mehr Selbstmordversuche hinter sich hatte, weil er in Afghanistan so viel Schlimmes erlebt hat. Solange er bei seiner Schwester in Basel gelebt habe, hätte er sich etwas entspannen und beruhigen können. Aber kurz vor seiner Ausschaffung habe er erfahren, dass seine Frau und eines seiner Kinder getötet worden seien. Das habe ihm stark ­zugesetzt.

Warum wurde sein Asylantrag abgelehnt?

Weil gemäss dem Dublin-Abkommen (ein Völkerrechtsvertrag, der festlegt, welches Land für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, Anm. der Redaktion) Italien für das Asylgesuch zuständig ist. Trotzdem bin ich der Meinung, dass sich die Schweizer Asylbehörden bei besonders verletzlichen Personen, wie in diesem Fall, oder bei Flüchtlingen, die ihre Familie zurücklassen müssen, auf Asylgesuche trotzdem ein­treten sollten. Man muss solche Menschen nicht in andere Länder abschieben. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die Schweiz schiebt enorm viele Flüchtlinge nach Italien ab. Darum leben immer weniger Flüchtlinge bei uns und wir ­feiern das als grossen Erfolg. Es ist aber nicht ­solidarisch gegenüber Staaten wie Italien, die ans Meer grenzen und viele Flüchtlinge aufnehmen müssen.

Was treibt Sie an, für die Rechte von Flüchtlingen zu kämpfen?

Flüchtlinge und Migranten werden diskriminiert, und ich setze mich für die Rechte von Diskriminierten ein. Zudem bin ich nach dem Zweiten Weltkrieg in Basel aufgewachsen, direkt an der Grenze zu Nazi-Deutschland. Darum war die Flüchtlingspolitik in meiner Familie oft ein Thema.

Inwiefern können Sie den Flüchtlingen helfen?

Ich urteile nicht darüber, wer nach Europa und in die Schweiz kommen darf und wer nicht. Auch wirtschaftliche Gründe berechtigen zur Auswanderung. Solange die Ressourcen der Welt so ungleich verteilt sind, gibt es nicht nur politische und religiöse, sondern auch Armutsflüchtlinge. Ende der 1980er-Jahre, als in der Schweiz erstmals Bundeszentren errichtet wurden, war es schwierig, mit den Flüchtlingen in Kontakt zu bleiben. Darum haben wir uns von der Asyl­bewegung zu sogenannten Barfuss-Juristen ­ausbilden lassen.

Barfuss-Juristen?

Wir sind zwar keine ausgebildeten Juristen, wir haben aber gelernt, wie man Rekurse und Wiedererwägungsgesuche im Ausländerrecht verfasst. So kamen wir auch mit vielen Menschen in Kontakt, deren Asylgesuche abgelehnt wurden. Viele von ihnen sitzen zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Gefängnis und können das nicht verstehen (in der sogenannten Ausschaffungshaft, Anm. der Redaktion). Es ist also keineswegs so, dass ich mich über Gesetze und Vorschriften leichtfertig hinwegsetze. Im Gegenteil: Ich halte mich, wann immer möglich, daran. Ich musste zwar bei Hunderten von Beschwerden und Gesuchen viele Misserfolge einstecken, habe aber auch einige Erfolge erzielt.

Können Sie von anderen Schicksalen ­erzählen?

Kürzlich traf ich einen Flüchtling aus Guinea, der über ein Jahr in einem Foltergefängnis in Libyen gesessen hat. Dann wurde er als Sklave verkauft und ist später über Italien in die Schweiz geflohen. Leider werden die traumatischen Erfahrungen auf der Flucht nicht als Asylgrund anerkannt. Was auf der Flucht passiert, zählt nicht, ist aber oft genauso schlimm wie im Herkunftsland. Besonders grauenvoll ist, was Frauen auf der Flucht erleben.

Wie gehen Sie mit solchen Einzelschicksalen um?

Ich bewahre mir eine positive Grundstimmung, sehe auch das Schöne am Leben und geniesse die Landschaft vom Jura. Ich bin mir bewusst, dass es mir wahnsinnig gut geht und dass ich privilegiert bin. Darum setze ich mich für benachteiligte Menschen ein und möchte etwas zurückgeben.

Trotz Ihrem Alter bleiben Sie aktiv und ­sammeln gerade Unterschriften, um auf die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer aufmerksam zu machen...

Ich mache so lange weiter, wie ich dazu in der Lage bin. Die Flüchtlingshilfe gibt meinem Leben einen Sinn.

Wünschen Sie sich von der Bevölkerung mehr Anteilnahme in dieser Angelegenheit?

Von den Asylbehörden wünsche ich mir eine grosszügigere Auslegung, was das Dublin-Abkommen angeht. Es braucht mehr Solidarität mit Ländern, die mehr Flüchtlinge aufnehmen als wir. Von der Bevölkerung wünsche ich mir mehr Verständnis, auch für Armutsflüchtlinge, und ein grösseres Bewusstsein für unsere Privilegien – wir haben sie zum Teil auf Kosten der Bevölkerung anderer Länder.

Zu guter Letzt: Ziehen Sie das Urteil ans ­Bundesgericht weiter?

Das weiss ich noch nicht. Ich werde, sobald ich ein schriftliches Urteil habe, mit meinem Anwalt darüber reden.

Christian Zuffrey

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Infos

Zur Person

Vorname Anni
Name Lanz
Geburtsdatum 16. April 1946
Familie verwitwet
Beruf Sozio­login, Wirtin, Rentnerin
Funktion Vorstand Basler Solidaritätsnetz
Hobbies Ehrenamtliche Tätigkeiten, Garten

Nachgehakt

Ich wünsche mir mehr Menschen mit
Mut zu zivilem Ungehorsam.
Ja
Ich würde trotz Verurteilung nochmals
genau gleich handeln.
Joker
Die Schweiz muss mehr tun, um
Flüchtlinge aufzunehmen.
Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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