Frontal | Schwester Augusta
«Manchmal haben wir bis Mitternacht betoniert»
Schwester Augusta (84) war fast 50 Jahre als Missionarin in Indien und hat mitgeholfen, viele Bauprojekte zu realisieren. Im Frontalinterview spricht sie über Land und Leute und ihre Aufgabe als «Baumeisterin».
Schwester Augusta, Sie verbringen momentan einige Ferientage bei Ihrer Schwester in Visperterminen. Wie verbringen Sie Ihre freie Zeit?
Ich gehe viel spazieren und lasse mich von meiner Schwester verwöhnen. Ich geniesse diese freie Zeit und betrachte die herbstliche Farbenpracht in der freien Natur. Zudem bin ich immer wieder mal als Missionarin unterwegs. Ich war zu einem Besuch bei meinen Mitschwestern in Afrika und Rumänien, wo ich anstehende Arbeiten zu erledigen hatte.
Warum sind Sie eigentlich ins Kloster eingetreten?
Wir wuchsen in einer grossen Familie auf. Ich hatte vier Brüder und vier Schwestern. Wir halfen alle mit in Haus, Feld und Garten. Nach der obligatorischen Schulzeit arbeitete ich für zwei Jahre im Kollegium Brig, um die Familie finanziell zu unterstützen. Später entschloss ich mich, das Lehrerinnenseminar zu besuchen. Nach drei Jahren bin ich dann ins Kloster eingetreten. Ich habe schon früh diese Berufung gespürt. Bei meinen Abschlussexerzitien im Bildungshaus St. Jodern in Visp war ich mir bewusst, dass ich eines Tages ins Kloster eintreten werde. Und so ist es dann auch gekommen.
Wie hat Ihre Familie darauf reagiert?
Als ich meinen Eltern den Wunsch äusserte, ins Kloster zu gehen, lautete die Antwort meines Vaters: «Jetzt miesse wier folge.» Diese wohlwollende Antwort war für mich ein grosses Geschenk, ein Segen der Eltern.
Wie haben Sie das Klosterleben empfunden?
Das Klosterleben verlangte allerlei Umstellungen. Ich war jung und hatte meine Ziele und so ist der Übergang fliessend gegangen. Sicher gab es auch Momente, wo man sich hinterfragt hat. Aber Steine, die im Weg stehen, muss man zu einem Sprungbrett machen (lacht). Die schönen Augenblicke haben bei Weitem überwogen.
Mit 20 Jahren sind Sie ins Kloster eingetreten und acht Jahre später sind Sie nach Indien gegangen. Was war der Grund?
Als junge Schwester unterrichtete ich vier Jahre an der Oberstufe in Raron. Während der Fastenzeit kamen Missionare hier in die Pfarreien im Oberwallis und hielten die Sonntagspredigt. Einmal war ein ganz einfacher schlichter Missionar auf der Kanzel und sagte: «Wir brauchen nicht nur Geld, sondern auch helfende Hände, flinke Füsse und liebende Herzen.» Diese Worte haben mich tief bewegt. Ich betete und dachte nach über meine Zukunft und entschloss, mich für die Missionen zu melden. Die Obern bestimmten und sandten mich zum Einsatz nach Indien.
Wann sind Sie nach Indien aufgebrochen?
Am 25. November 1962 erhielten Sr. Thomas Odermatt und ich im Beisein der Schwesterngemeinschaft und der Familienangehörigen in der Klosterkirche den Sendungsauftrag. Schon am 30. November fuhren wir weg in Richtung Genua. Der Abschied fiel uns nicht leicht. Trotzdem freuten wir uns auf die neue Aufgabe. In Genua bestiegen wir das Schiff und fuhren zwei Wochen lang auf hoher See nach Bombay (heute Mumbai) in Indien.
Was haben Sie vor Ort angetroffen?
Es ist eine andere Welt, sowohl klimatisch wie auch kulturell. Die Eindrücke vor Ort waren völlig anders, als wir uns von zu Hause gewohnt waren. Es war drückend heiss und ich war froh, weisse, dünne, leichte Kleider zu tragen. Wir bewohnten das «Poor Home». Die ersten zwei Jahre vertiefte ich mich in die Aneignung der englischen Sprache und in das Einleben der indischen Kultur usw. Ich war mit Hausarbeiten beschäftigt und habe wieder begonnen, mit der Handmaschine zu nähen. Unsere Missionsstation war am Stadtrand von Pune, rund 165 Kilometer nördlich von Mumbai.
Wie viele Schwestern waren vor Ort?
Wir hatten zwei Stationen mit acht Schwestern aus der Schweiz. Junge, indische Frauen baten uns um Aufnahme in die Gemeinschaft. Am 21. November 1964 eröffneten wir das Noviziat. Ich wurde beauftragt, die jungen Schwestern ins Klosterleben einzuführen. Unsere Aufgabe war es, in den Pfarreien Religionsunterricht zu erteilen. 1946 erwarben wir ein Grundstück, auf dem wir eine Armenapotheke aufgebaut und eingerichtet haben. Das war eine grosse Notwendigkeit in dieser Gegend. Die Erziehung der Jugend lag uns sehr am Herzen. Um der Jugend in dieser Gegend eine Grundausbildung zu ermöglichen, bauten wir 1965 die St. Ursula Schule in Pune auf, und zwar mit elf Schülern/-innen. Zur Feier des goldenen Jubiläums 2015 stieg die Schülerzahl auf 3580 – vom Kindergarten bis zur 12. Klasse mit Staatsabschluss. Von 1975 bis 1985 hatte ich die gesamte Verantwortung für die Region Indien. Von 1985 bis 1992 begleitete ich wieder die jungen Schwestern im Noviziat. Nebenbei machte ich meine Lehrerfahrungen im Bausektor. 1992 bis 2011 war mein ganzer Einsatz auf der Baustelle.
Ein eher ungewöhnlicher Werdegang für eine Schwester. War das Ihr Wunsch?
Ich bin in diese Aufgabe hineingewachsen, weil Not am Mann war. Zusammen mit dem Architekten und einer juristischen Person haben wir die Arbeitsvergaben vorgenommen. Ich überwachte die Bauarbeiten mit dem Architekten auf dem Bauplatz. Eine indische Mitschwester, Sr. Rekha, stand mir immer mit Rat und Tat zur Seite. Auch viele Baumaterialtransporte mit dem Jeep, von Pune nach Varawade, habe ich gemacht, um Geld einzusparen. Auf der Baustelle gab es viele Erlebnisse, schöne und weniger schöne. Auf der Baustelle habe ich immer darauf geachtet, dass der Zement richtig gemischt wurde und die Arbeiten vorangekommen sind. Einmal mussten wir einen Unternehmer und einen Architekten entlassen, weil die Arbeiten nicht verantwortungsvoll und richtig ausgeführt wurden. Auf dieser Baustelle waren 150 Leute beschäftigt. Der Bau der Schule war termingerecht vollendet, sodass wir 1998 das neue Schulhaus einweihen durften. In dieser Schule werden heute 1600 Schüler/innen unterrichtet. Bei mehreren Bauprojekten hatte ich die Verantwortung wie bei Schulhäusern, Internaten und Kapellen.
Hatten Sie nie frei?
Am Dienstag war immer unser freier Tag. Alle anderen Tage waren wir immer beschäftigt. Es kam nicht selten vor, dass ich von morgens früh bis spätabends auf der Baustelle war. Manchmal haben wir bis um Mitternacht gearbeitet und betoniert (lacht). Mir war es immer ein Anliegen, dass es vorwärtsgeht und dass genau und sorgfältig gebaut wird. Mein grösstes Anliegen war es, dass die Bauten nicht einsturzgefährdet waren. Dazu war es mir wichtig, dass der Bau möglichst praktisch war und erst an dritter Stelle kam das Aussehen. Ich habe eine tiefe Freude, wenn ich Rückschau halte über meinen Einsatz in Indien. Meine Samen, die ich streute, tragen Früchte.
Sie waren fast 50 Jahr lang in Indien. Was bleibt Ihnen in Erinnerung?
Ich hatte viele schöne Erlebnisse und Begegnungen. Als ich vor einem Jahr wieder einmal zurückgegangen bin, haben mich viele Leute wiedererkannt und wollten mir viele Sachen schenken. Ich erinnere mich, dass in dieser Region der Alkohol ein grosses Übel war. Viele Familien haben aus Zuckermelasse Schnaps gebrannt und diesen weiterverkauft. Das war ein wichtiger Wirtschaftszweig. Die Folge davon war, dass es viele Alkoholiker gab. Und auch die Bildungsmöglichkeiten waren sehr beschränkt. Sobald wir die Schulen aufgebaut hatten, veränderte sich bald alles. Unser Anliegen war es, den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Wenn morgens in der Schule Kinder gefehlt haben, habe ich mich in meinen Jeep gesetzt und habe mich aufgemacht, die Familien aufzusuchen. Die Kinder waren teilweise noch am Schlafen und ihre Mutter war alkoholisiert. Also habe ich die Kinder in den Jeep gesetzt und sie zur Schule gefahren. Als ich wieder in der Schweiz war, hat man mir mitgeteilt, dass nur noch eine Familie vom Schnapsverkauf lebt. Alle anderen haben mittlerweile ein anderes Einkommen. Das hat mich sehr gefreut.
Was ist Ihnen weniger gut in Erinnerung geblieben?
Auf den Baustellen wurde hin und wieder gepfuscht. Einmal ist es sogar zu einem Einsturz gekommen. Als ich dann auf die Baustelle gekommen war, habe ich bald einmal gemerkt, was der Grund dafür war. Die Zementmischung war falsch, das war die Ursache des Einsturzes. Glücklicherweise war zu diesem Zeitpunkt niemand auf der Baustelle.
Vor sieben Jahren sind Sie wieder ins Oberwallis zurückgekehrt. Was war der Grund?
Die Schwester Oberin hat mich nach fast 50 Jahren in Indien wieder in die Heimat abberufen. Nach meiner Rückkehr war ich drei Jahre lang als Sakristanin in Zermatt tätig. Vor meiner Rückkehr ins Oberwallis habe ich noch zwei Jahre in Rumänien gewirkt und habe hier mitgeholfen, fünf Kindergärten und ein Internat aufzubauen. Jetzt bin ich im Ursulinen-Kloster in Brig beheimatet. 2015 besuchte ich wieder Indien. Der Aufbau des Archivs im indischen Kloster lag mir sehr am Herzen. Den Anfang habe ich jetzt gemacht, und die Weiterführung steht jetzt in den Händen der indischen Mitschwestern.
Haben Sie sich schnell wieder im Oberwallis eingelebt?
Ja, das ging rasch. Es kommt auch auf die innere Einstellung an. Es sind Kleinigkeiten, an die man sich erst wieder gewöhnen muss. Ich erinnere mich, dass ich einmal einem Mann, der alle Hände voll hatte, die Tür im Spital in Visp aufhalten wollte. Als die Eingangstüre dann automatisch aufgegangen war, bin ich erschrocken (lacht). Oder auch die Digitalisierung am Bahnschalter war für mich anfangs gewöhnungsbedürftig. Hier hinkt man in Indien noch hinterher. Und hier ist man mit dem Handy immer und überall erreichbar. So unterschiedlich sind diese zwei Welten.
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