Interview | Integrationsdelegierte Silvia Eyer

«Man kann rassistisch handeln, ohne sich dessen bewusst zu sein»

«Man kann nicht davon ausgehen, dass alle eine ‹dicke Haut› haben», Silvia Eyer.
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«Man kann nicht davon ausgehen, dass alle eine ‹dicke Haut› haben», Silvia Eyer.
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Quelle: RZ 0

Silvia Eyer ist eine von drei regionalen Integrationsdelegierten im Oberwallis. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit, unterschwelligen Rassismus und warum man auch positive Vorurteile kritisch hinterfragen sollte.

Silvia Eyer, Sie sind die Integrationsdelegierte von Brig-Glis/Naters. Worin besteht Ihre hauptsächliche Tätigkeit, was sind die Aufgaben der Integrationsstelle Oberwallis?

Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die regionale Integrationsstelle Oberwallis nicht für Menschen im Asylwesen zuständig ist. Das wird leider oft verwechselt. Unsere Klientel sind Menschen mit einer Niederlassungsbewilligung (Permis C), einer Aufenthaltsbewilligung (B) und einer kurzfristigen Aufenthaltsbewilligung (L), die sich längerfristig im Oberwallis aufhalten. Unsere hauptsächliche Tätigkeit besteht darin, das kantonale Integrationsprogramm in der Praxis umzusetzen. Konkret heisst das, die Migrantinnen und Migranten in den Bereichen abzuholen, wo sie Unterstützung brauchen, ihnen die nötigen Informationen abzugeben und sie an andere Fachstellen weiterzuvermitteln.

Wie sieht dies in der Praxis aus?

Ziehen Menschen mit oben genannten Aufenthaltstiteln in Gemeinden, die der regionalen Integrationsstelle angegliedert sind (im Oberwallis sind dies Brig-Glis, Naters, Visp, Leukerbad, Randa, Täsch und Zermatt Anm. der Red.), so werden sie von uns angeschrieben. Wir laden die Leute ein, an einer Erstinformation teilzunehmen, in der wir sie mit Informationen versorgen, zum Beispiel zu Themen wie dem Deutschkursangebot, dem Angebot der Kinderbetreuung, Schulbildungs- und Gesundheitswesen, Versicherungen oder Kehrichtentsorgung. Es geht darum, die Zugezogenen in ihren allgemeinen Alltagsfragen zu beraten.

Welche Gruppen nutzen Ihr Angebot, welche eher weniger?

Als Integrationsdelegierte im Talgrund habe ich es vor allem mit Fachkräften aus dem EU-Raum zu tun, darunter viele Deutsche, die beispielsweise im Spital oder bei Lonza arbeiten. Diese nutzen unser Angebot gerne und regelmässig, sind also ziemlich affin. Anders sieht es bei meiner Kollegin im Mattertal aus. Die hohe Anzahl von Migrantinnen und Migranten aus Portugal erschwert deren Erreichbarkeit. Diese Personen bilden eine starke Gemeinschaft, die sich sehr gut untereinander organisiert und Informationen austauscht. Ein weiterer Knackpunkt sind die Inhaber einer Kurzaufenthaltsbewilligung. Wie es der Aufenthaltstitel beschreibt, sollten diese Personen nur kurz hier sein. Fakt ist jedoch, dass es aufgrund ihrer saisonalen Tätigkeit sehr viele Migranten gibt, die im Besitz einer solchen Bewilligung sind, aber schon seit vielen Jahren bei uns leben.

Ob jemand Ihr Angebot nutzt, hängt also stark davon ab, ob die Leute richtig in die Schweiz ausgewandert sind sprich sich hier ein Leben aufbauen wollen, oder ob sie «nur» hier sind, um zu arbeiten, auch wenn dies für Jahrzehnte ist?

Zusammengefasst und etwas vereinfacht kann man das so sagen, ja. Das Interesse für Integration von jemand, der sich hier ein Leben aufbauen möchte, zumindest für eine gewisse Zeit, ist sicher ein anderes, als von jemand, der nur mit der Absicht hier ist, hier zu arbeiten.

Lassen Sie uns nun über die Sicht der ansässigen Bevölkerung auf die Zugezogenen sprechen. Simpel gefragt: Gibt es im Oberwallis ein Problem mit Rassismus?

Nicht mehr und nicht weniger als in anderen Regionen der Schweiz auch. Bei der Frage, ob es Rassismus gibt oder nicht, muss man aber immer zwischen offensichtlichem Rassismus und den unterschwelligen Formen unterscheiden.

Das heisst?

Offensichtlicher Rassismus heisst, dass Fremde direkt angegriffen werden, sei dies verbal oder gar körperlich. Solche Fälle gibt es auch im Oberwallis, aber nur sehr selten. In einem spezifischen Fall wurde zum Beispiel eine Person massiv mit anonymen Briefen belästigt. Für Menschen, die rassistische Erfahrungen machen, gibt es übrigens die kantonale Beratungsstelle gegen Rassismus, die für solche Fälle zuständig ist.

Wie sieht es mit den unterschwelligen Formen aus? Was heisst das überhaupt?

Man kann rassistisch handeln oder denken, ohne sich dessen bewusst zu sein. Oftmals spielen dabei Vorurteile eine grosse Rolle, wobei diese nicht einmal negativ sein müssen. Wenn man zum Beispiel denkt oder sagt: «Deutsche sind pflichtbewusst», so ist dies auch ein rassistisches Vorurteil, obwohl es durchaus positiv gemeint ist. Rassismus beginnt dort, wo man verallgemeinernd einer ethnischen Gruppe gewisse Eigenschaften zuschreibt.

Wie sehen die negativen Konsequenzen eines solchen unterschwelligen Rassismus aus?

Besonders direkt sind die negativen Konsequenzen eines unterschwelligen Rassismus bei der Arbeitssuche festzustellen. Wenn beim Arbeitgeber Vorurteile da sind, kann das schnell einmal einer Karriere im Weg stehen, auch wenn die Qualifikationen durchaus vorhanden wären. Konsequenzen gibt es aber auch im Sozialleben. Nehmen wir das Beispiel der deutschen Gemeinschaft. Diese hat hier bei uns keine Sprachbarriere, jede Oberwalliserin und jeder Oberwalliser kann sie verstehen und kann mit ihnen problemlos kommunizieren. Dennoch fällt es vielen Deutschen bei uns schwer, Anschluss zu finden. Der Grund dafür liegt meiner Meinung nach darin, dass Oberwalliser einfach gerne im Dialekt sprechen. Können sie dies nicht, entsteht oftmals bereits eine ablehnende Haltung. Auch das könnte als unterschwelliger Rassismus verstanden werden. Sehr oft, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft ausgegrenzt respektive benachteiligt werden, ist Rassismus im Spiel. Das Problem ist, dass diese Form von Rassismus nicht als solche wahrgenommen wird. 99 Prozent der Leute sagen von sich voller Überzeugung, dass sie nicht rassistisch sind, weil sie eben nur auf die offensichtlichen Formen fokussiert sind.

Was kann man denn tun, um nicht auch unterschwellig rassistisch zu sein? Einfach scheint das nicht zu sein, immerhin handelt es sich ja um unbewusste Denkmuster, wie Sie sagen.

Man muss sein Handeln und Denken immer wieder selbstkritisch hinterfragen und auch ehrlich zu sich selbst sein. Wird man sich den eigenen Vorurteilen bewusst, so kann man sie zum Verschwinden bringen. Es ist eine Art Training. Dann spielt auch die Erziehung eine grosse Rolle. Eltern sollten sich bewusst sein, dass sie ihre unterschwelligen Vorurteile an ihre Kinder
weitergeben.

Muss ich mir als Zugezogener, in meinem Fall als Kind deutscher Einwanderer, nicht auch einen gewissen Rassismus gefallen lassen? Schliesslich sind meine Eltern hierhergezogen, weil sie etwas von diesem Land und seinen Bewohnern sprich Arbeit und einen Lebensunterhalt wollten.

Grundsätzlich denke ich nicht, dass man das so sehen sollte. Vielfach werden von Migrantinnen und Migranten Arbeiten gemacht, für die es an einheimischen Arbeitskräften fehlt oder die schlicht nicht gemacht werden wollen. Auffällig ist dies zum Beispiel mit der portugiesischen Bevölkerung im Mattertal. Ohne sie funktioniert kaum ein Betrieb in Zermatt. Dem sollte man sich immer wieder bewusst werden. Es ist aber natürlich so, dass Rassismus auch von der Haltung des Betroffenen abhängig ist. Einer erträgt Witze über seine Herkunft besser, der andere fühlt sich gekränkt. Weil man aber nicht davon ausgehen kann, dass alle eine «dicke Haut» haben, sollte man sich rassistische Bemerkungen oder Witze grundsätzlich verkneifen. Zudem gibt es das Diskriminierungsverbot in der Schweizer Verfassung und die Rassismus-Strafnorm im Schweizer Strafgesetzbuch. Diese Strafnorm stellt rassistische Diskriminierung, die in der Öffentlichkeit stattfindet, unter Strafe.

Am 21. März beginnt die Woche gegen Rassismus. Unter dem Motto «Ich bin nicht rassistisch, aber…» führen die Integrationsstellen im Wallis verschiedene Anlässe durch. Warum hat sich der Kanton für dieses Motto entschieden?

«Ich bin nicht rassistisch, aber…» zeigt eigentlich das ganze Problem des unterschwelligen Rassismus in wenigen Worten. Nur weil jemand nicht direkt gegen Fremde hetzt oder diese gar tätlich angreift, heisst das eben nicht, dass man nicht rassistisch ist. Eigentlich ist es so, dass jeder, der diesen Satz in den Mund nimmt, sich vom ersten Teil der Aussage schon einmal verabschieden kann, denn er kündigt ja bereits an, dass er oder sie Vorurteile gegenüber anderen pflegt. Das wollen wir in der Woche gegen Rassismus der Öffentlichkeit näherbringen. Denn die Sensibilisierung und Aufklärung in dieser Thematik gehören neben der Integrationsarbeit zu den zentralen Aufgaben der regionalen Integrationsstelle Oberwallis.

Martin Meul

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Infos

Zur Person

Vorname Silvia
Name Eyer
Geburtsdatum 22. September 1984
Familie ledig
Beruf Integrationsdelegierte
Hobbies Yoga, Ayurveda

Nachgehakt

Integration im Oberwallis ist schwieriger
als in urbanen Gebieten.
Ja
Richtig integrierte Ausländer
sind die «besseren» Schweizer.
Nein
Ich bin manchmal auch unter-
schwellig rassistisch.
Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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