Frontal | Dr. Franz Immer
«Jedes Jahr gibt es 100 Tote, weil wir keine Organe finden»
Braucht es eine Organspende-Pflicht oder wird der Mensch immer mehr zum Ersatzteillager? Dr. Franz Immer (52), Direktor von Swisstransplant, über die Meinungsverschiedenheiten in der Organspende.
Herr Dr. Immer, vor zwei Wochen wurde die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» der Bundeskanzlei übergeben. Die Initiative fordert, dass jede Person zum Organspender wird, ausser sie hat sich zu Lebzeiten dagegen geäussert. Glauben Sie, dass diese Initiative durchkommt?
Ich bin überzeugt, dass ein Grossteil der Bevölkerung die Initiative unterstützt. Ganz einfach darum, weil wir in erster Linie Klarheit schaffen wollen. Das heisst, wenn jemand seine Organe spenden will, kann er sich im Organspenderegister (organspenderegister.ch) ebenso registrieren wie jemand, der nicht spenden will. Damit wird der Wunsch des Verstorbenen respektiert und die Angehörigen müssen sich nicht wie heute stellvertretend in seinem Sinne entscheiden. Die Initiative beinhaltet also keine automatische Organspende.
Wird sich die Zahl der lebensrettenden Transplantationen durch dieses System erhöhen?
Wird die Widerspruchslösung angenommen, hätte das rund 100 zusätzliche Organspender zur Folge. Dadurch könnten in der Schweiz insgesamt rund 350 zusätzliche Transplantationen durchgeführt werden. Das wäre für die Menschen, die heute auf ein Organ warten, ein Segen. Wir haben jedes Jahr 100 Tote zu verzeichnen, weil wir keine Organe finden. Heute liegt die Ablehnungsrate von Organspenden in der Schweiz bei 60 Prozent. Im grenznahen Ausland hingegen, wo die Widerspruchslösung gilt, liegt diese Rate bei 25 bis 30 Prozent.
Die Initiative ist nicht ganz unumstritten. Vor allem ethische oder religiöse Gründe werden dagegen aufgeführt. Haben Sie Verständnis dafür?
Natürlich. Jeder Mensch soll selbst entscheiden, ob er ein Organ spenden will oder nicht. Die Selbstbestimmung und Autonomie jedes Einzelnen ist auch nach der Widerspruchslösung gegeben. Die Gegner der Initiative monieren, dass mit der Widerspruchslösung der Körper zum Objekt wird und nach Gutdünken Organe entnommen werden können, ohne den Wunsch des Verstorbenen zu kennen. Dem ist eben nicht so. Letztendlich kann jeder über seinen Körper selbst bestimmen und den Entscheid verbindlich festhalten.
Wer eignet sich eigentlich als potenzieller Spender?
Grundsätzlich können alle Frauen und Männer ihre Organe spenden. Es gibt keine eigentliche Alterslimite. 40 Prozent aller Spender 2018 waren älter als 60 Jahre. Der älteste Spender, den wir führen, ist 88 Jahre alt. Der einzige Grund, warum jemand seine Organe nicht spenden kann, ist ein Tumor. Wenn man aber geheilt ist, ist eine Spende möglich. Das heisst, die Frage nach der Organspende betrifft uns alle bis ins hohe Alter.
Wie ist das Verhältnis zwischen sogenannten Lebendspendern und Menschen, die klinisch tot sind?
Es gibt mehr verstorbene Spender als Lebendspender. Im letzten Jahr hatten wir 158 Organspenden von Menschen, die hirntot waren, aber künstlich am Leben erhalten wurden. Bei den Lebendspendern sind es rund 100 bis 120 pro Jahr, die mehrheitlich im Freundes- oder Bekanntenkreis eine Niere spenden.
Mit 158 Organspenden hat Swisstransplant im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand verzeichnet. Das zeigt auf, dass sich die Leute mit dem Thema Organspende stärker auseinandersetzen. Braucht es da noch eine Volksinitiative?
Der Anstieg ist darauf zurückzuführen, dass die Spitäler in der Schweiz im internationalen Vergleich eine ausgezeichnete Arbeit machen. Vergleicht man die Spenderzahlen aber mit dem Ausland, so stellen wir fest, dass die Schweiz nur in etwa halb so viele Spender auf eine Million Einwohner hat als Frankreich, Italien oder Österreich. Das ist auch der Grund, warum wir so viele Todesfälle haben und so viele schwerkranke Patienten auf der Warteliste. Es braucht diese Volksinitiative, wenn wir uns dem System der drei Nachbarländer annähern möchten.
Rund 1400 Menschen in der Schweiz warten auf ein neues Organ. Ist diese Zahl im Steigen begriffen?
Die Zahl ist in den letzten Jahren stark angestiegen, aber seit zwei Jahren stabil. Auch die Wartezeit für ein Organ, beispielsweise eine Niere, ist leicht zurückgegangen. Waren es früher drei Jahre, wartet heute ein Patient circa zweieinhalb Jahre auf eine Niere. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung ist das eine sehr lange Zeitspanne, vor allem wenn man bedenkt, dass ein Nierenpatient sich dreimal pro Woche einer Dialyse (Blutreinigung) unterziehen muss. Dazu kommen weitere Einschränkungen. Rund 80 Prozent der Menschen, die auf der Warteliste für eine Organtransplantation stehen, warten auf eine Niere. Personen, die auf ein neues Herz, eine Leber oder Lunge warten, sterben hingegen am häufigsten.
Wie gross ist die Chance, dass der Körper ein neues Organ annimmt?
Die Medizin hat hier in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Nur ein Prozent der Organe funktionieren im Operationssaal nicht. Das heisst, die erste Phase nach der OP ist relativ kritisch. Sind allerdings die ersten paar Wochen und Monate überstanden, ist die Prognose der transplantierten Patienten gut bis sehr gut. Und verglichen mit einem Organ, das gar nicht mehr funktioniert, ist eine erfolgreiche Transplantation ein Quantensprung in Sachen Lebensqualität.
Sie stehen täglich mit Direktbetroffenen, die auf ein Organ warten, oder deren Angehörigen in Kontakt. Wie gehen die betroffenen Personen mit der langen Wartezeit um?
Die meisten Betroffenen glauben sehr stark an das System und die Möglichkeit einer Organspende in unserem Gesundheitssystem. Je schlechter es jemandem geht, umso mehr ist das körperliche und psychische Empfinden ein Wechselbad der Gefühle und man wartet auf den erlösenden Anruf. Vor allem Patienten, die auf ein neues Herz, eine Lunge oder Leber warten, schwanken zwischen Bangen, Hoffen und Angst.
Gibt es Schicksale, die Ihnen sehr nahegehen?
Ich bin Mediziner mit Herzblut und jeder Mensch ist für mich wichtig. Wenn man mit solchen Schicksalen auf der Spender- wie auch auf der Empfängerseite in Kontakt kommt, beschäftigt mich das sehr. Vor allem die Schicksale von Kindern gehen mir sehr nahe.
Wieso soll ich einem starken Trinker meine Leber spenden?
Das Gesetz sagt, dass niemand diskriminiert wird. Insofern haben alle Patienten die gleiche Chance auf ein Organ. Es gibt Menschen, die sich diesbezüglich Gedanken machen und sich fragen, warum soll ich jemandem ein gesundes Organ schenken, der sich selbst in diese missliche Situation gebracht hat. Um auf ihre eigentliche Frage zurückzukommen; Alle Personen, die auf einer Warteliste sind, leben abstinent. Auch das Resultat nach einer Transplantation bei einem früheren regelmässigen Trinker ist genauso gut, wie wenn jemand nie Alkohol getrunken hat. In diesem Sinne betrifft das nur einen kleinen Teil der Wartenden. Die meisten Menschen auf einer Warteliste sind völlig unschuldig in diese Situation geraten.
Viele Menschen wollen zwar helfen, haben aber Angst, dass Ihre Organe zu früh entnommen werden. Sind diese Ängste berechtigt?
Die Schweiz hat in Bezug auf die Feststellung des Todes klare Richtlinien wie kaum ein anderes Land. Diese sind absolut bindend. Eine sogenannte Hirntod-Diagnose wird nur in einem der 14 Spitäler, die eine Organentnahme machen, durch zwei Fachärzte im Vieraugenprinzip festgestellt. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier kann man auf eine grosse Erfahrung zurückgreifen, um festzustellen, ob ein Patient auch wirklich hirntot ist.
Sie engagieren sich in zahlreichen internationalen Gremien zur Organspende und Transplantation. Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich der Organspender da?
Der Aktionsplan von Bund und Kantonen hat sehr viel dazu beigetragen, um auf Spitalebene weiterzukommen. Vor diesem Hintergrund wurde die Widerspruchslösung schon zweimal im Parlament diskutiert. Dabei kam man zum Schluss abzuwarten, was der Aktionsplan bringt. Letztes Jahr ist diese Frist abgelaufen und wir stellen eine deutliche Professionalisierung in den Spitälern fest. Trotzdem äussern sich rund 60 Prozent der Bevölkerung immer noch nicht zu diesem Thema. Darum kommt die Initiative zu einem sehr guten Zeitpunkt. Es bleibt das Problem der Willensäusserung und es ist wichtig, die Zustimmungsmodalität zu diskutieren. Die Widerspruchslösung wird ausser in Deutschland und der Schweiz in allen mittel- und westeuropäischen Staaten angewendet.
Mit der Kampagne «Rede über Organspende – deinen Liebsten zuliebe» wollen Sie die Bevölkerung dazu animieren, mit den Angehörigen über einen allfälligen Organspende-Entscheid zu reden. Macht das die Sache im Ernstfall einfacher?
Sowohl für die Angehörigen wie auch das Spitalpersonal ist es von zentraler Bedeutung, den Wunsch des Verstorbenen zu kennen. Swisstransplant hat ja am 1. Oktober das Organspenderegister lanciert. Hier kann sich jedermann dazu äussern, ob er einer Organspende zustimmen will oder nicht. Die Spenderkarten sind zwar eine gute Sache, können aber auch verloren gehen. Wenn man sich nun im Register einträgt, ist es eine grosse Erleichterung für alle beteiligten Parteien, wenn man den Wunsch des Verstorbenen kennt und diesen verbindlich umsetzen kann.
Walter Bellwald
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar