Frontal | Präsidentin des Vereins CHWolf ist überzeugt:
«Im Wallis hat es Platz für mehrere Wolfsrudel»
Christina Steiner ist Präsidentin des Vereins CHWolf. Sie spricht über die Wichtigkeit des Wolfs im Wallis und die Sturheit der Walliser Bevölkerung.
Frau Steiner, der Winter steht im Wallis bevor. Was macht eigentlich der Wolf um diese Jahreszeit?
Je mehr Schnee es in höheren Lagen gibt, desto tiefer ins Tal zieht sich das Wild zurück. Der Wolf folgt dem Wild und wird demnach von den Menschen während der Wintermonate auch in der Nähe von Siedlungen gesichtet.
Hält sich der Wolf während des Winters in Walliser Dörfern auf?
Nein, es ist aber möglich, dass er einmal in einem Dorf gesehen wird. Der Wolf ist ein scheues Tier und meidet direkte Begegnungen mit dem Menschen. Was viele nicht wissen, ist, dass er menschliche Infrastruktur nicht meidet.
Was heisst das konkret?
Ein Wolf kann durchaus durch ein Dorf laufen, wenn es nicht belebt ist; zum Beispiel in der Dämmerung oder in der Nacht. Das kann im Winter vermehrt vorkommen und gehört zu seinem natürlichen Verhalten. Das Ganze hat jedoch nichts damit zu tun, dass der Wolf die Scheu vor dem Menschen verloren hat. Und: Wenn wir in einem Auto sitzen und einen Wolf auf der Strasse sehen, wird das Tier womöglich nicht flüchten, denn ein Auto ist für ihn nicht gleichbedeutend wie ein Mensch.
Der Wolf ist das grösste Raubtier in der Familie der Hunde. Viele Menschen haben Angst vor Wölfen. Verstehen Sie das?
Das kann ich verstehen. Die Menschen kennen den Wolf als Bestie und als gefährliches Wesen. Das beginnt schon im Märchen «Rotkäppchen», wo es um den bösen Wolf geht. Und dann kommt auch noch die lange Zeit hinzu, in der es bei uns keine Wölfe gegeben hat.
Sie sind mehreren Wölfen begegnet. Was haben Sie für Erfahrungen mit dem Wolf gemacht?
In der Schweiz hatte ich leider noch keine Begegnung mit frei lebenden Wölfen. Einzig im Calanda-Gebiet hörte ich die Wölfe einmal heulen. In anderen Ländern – darunter in den USA und in Deutschland – hatte ich unterschiedliche Begegnungen mit Wölfen. Mehrere Male durfte ich dabei sein, als Wolfswelpen von Hand aufgezogen und sozialisiert wurden. Das waren stets faszinierende Begegnungen. Wolfsfamilien sind nämlich ähnlich wie Menschenfamilien.
Wie bitte?
Ja. Eine Wolfsfamilie besteht aus den Elterntieren, die ihr ganzes Leben zusammenbleiben, wie es im Idealfall auch bei uns Menschen vorkommt, den Welpen und den noch nicht abgewanderten Jungtieren. Das Rudel ist sozial und hält enorm zusammen. Das heisst, die gesunden Tiere kümmern sich auch mal um ein krankes Tier. Das ist sehr beeindruckend.
Der grosse Konflikt zwischen Mensch und Wolf im Wallis ist, dass er Nutztiere reisst, die dann auf brutale Art verenden. Das ist nicht tolerierbar, einverstanden?
Natürlich ist es nicht schön, wenn Schafe gerissen werden, aber Schafe können geschützt werden. Gibt es trotz Herdenschutz Risse, werden meist bei der Umsetzung der Schutzmassnahmen Fehler gemacht. Ich nenne dazu ein Beispiel.
Bitte.
Auf einer Alp wurde eine Schafherde nachts eingezäunt und von vier Hunden bewacht. Eine Seite wurde jedoch nicht eingezäunt, weil ein Bach eine natürliche Grenze bildete. Die Schafe gingen in der Nacht nicht über den Bach, für den Wolf war es jedoch einfach, über den Bach zur Herde zu gelangen. Solche Fehler im Herdenschutz nutzt der Wolf aus.
Warum haben die Herdenschutzhunde nicht eingegriffen?
Die Herdenschutzhunde haben in diesem Fall zu spät reagiert. Da der Bach laut rauschte und Gegenwind herrschte, konnten sie den Wolf erst spät hören und wittern. Zudem war der Nachtpferch viel zu gross, sodass die Schafe und Hunde weit verstreut waren.
Vier Herdenschutzhunde konnten einen Wolfsangriff nicht verhindern. Demnach ist der Herdenschutz grandios gescheitert.
Das stimmt nicht. Hier haben die Hirten Fehler gemacht. Dank der Hunde hat es nicht noch mehr tote Schafe gegeben. Überall, wo der Herdenschutz richtig und gut eingesetzt wird, funktioniert er auch. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass ein Wolfsriss nicht die häufigste Ursache ist, wenn Schafe verloren gehen oder verenden.
Sondern?
Während eines Sommers sömmern in der Schweiz circa 250 000 Schafe auf unterschiedlichen Alpen. Früher überlebten 10 000 Schafe die Sömmerung nicht. Heute sind es dank des Herdenschutzes «nur» noch 4000 bis 5000 Schafe, die auf den Alpen verenden. Sie sterben durch Krankheiten, durch Stein- oder Blitzschläge, Abstürze oder verhungern im Schnee. Der Wolf reisst eine Minderheit dieser Schafe.
Was heisst das konkret?
Er reisst pro Jahr in der Schweiz durchschnittlich 200 Schafe. Ein Grossteil der Walliser Bevölkerung sieht in der Wolfsdebatte nur eine Lösung: den Abschuss. Das Problem wird dadurch nur kurzfristig gelöst. In der Region, in der der Wolf geschossen würde, wäre es wohl einen Moment lang ruhig, doch irgendwann wird der nächste Wolf einwandern und alle stehen wieder am Anfang. Es ist nur eine Zeitfrage, bis der nächste Wolf in den Walliser Wäldern ist. Zudem wird ein Wolf nicht so schnell geschossen.
Das heisst, der Walliser denkt nicht langfristig?
Die Walliser müssen lernen umzudenken und aktiven Herdenschutz zu betreiben.
Warum bildet sich Ihrer Meinung nach im Wallis ein derart grosser Widerstand gegen die Herdenschutzmassnahmen?
Es ist wie überall: Sobald etwas mit Aufwand verbunden ist, suchen die Leute nach anderen Lösungen. Es ist einfacher, die Schafe im Frühling auf die Alp zu bringen und zwischendurch nach ihnen zu schauen als aktiven und finanziell aufwendigen Herdenschutz zu betreiben. Grundsätzlich geht es darum, dass jeder Tierhalter verantwortlich für sein Tier ist.
Frau Steiner, für wie viele Wölfe hat es im Wallis Platz?
Ein Rudel braucht im Schnitt 200 bis 300 Quadratkilometer. Wenn wir davon ausgehen, dass sich circa zehn Tiere in einem Rudel befinden, hat es im Kanton Wallis bestimmt Platz für drei bis vier Rudel. Eine Studie hat aufgezeigt, dass es in der Schweiz Platz hat für 17 Wolfsrudel.
Weshalb sollten die Walliser mehrere Rudel dulden?
Der Wolf ist ein heimisches Tier und hat – wie jedes andere heimische Tier auch – ein Recht hier zu leben. Wo nimmt sich der Mensch das Recht heraus zu entscheiden, welches Tier eine Lebensberechtigung hat und welches nicht? Nicht zu vergessen ist, dass der Wolf einen positiven Einfluss auf unser Ökosystem und auf unseren Wildbestand hat. Denn: Der Wolf reisst vor allem altes, krankes und schwaches Wild, demnach können sich Krankheiten durch seine Anwesenheit kaum ausbreiten, denn die Tiere werden vorgängig vom Wolf eliminiert.
Ist das nachweisbar?
Ja, wo Wölfe sind, ist das Wild kräftiger und gesünder, das sind Fakten. Genauso wie die Tatsache, dass andere Tiere zurück in die Wälder kommen, wo sich Wölfe aufhalten. Denn der Wolf lässt Reste seiner Beute im Wald liegen, dadurch entsteht eine Lebensgrundlage für andere Tiere. Weiter zersetzten Bakterien und Pilze das restliche tote Material, dadurch entsteht wiederum nährstoffreiche Erde, wovon die Pflanzen profitieren. Das ist ein Kreislauf, der funktioniert, wenn Wölfe in unseren Wäldern sind.
Verhalten sich die Walliser in der ganzen Wolfsdebatte anders als die Restschweizer?
Ja. Sie sind ein bisschen sturer (lacht). Meine mehrjährige Erfahrung zeigt, dass es im Bündnerland viel einfacher ist, die Leute vom Herdenschutz zu überzeugen. Die Walliser pochen immer wieder auf die Tradition.
Auf die Tradition?
In den vergangenen 100 Jahren gab es bei uns keine Wölfe. Die Schafe konnten sich unbeaufsichtigt den ganzen Sommer in der Natur aufhalten. Doch das ist nun vorbei. Die Tiere müssen geschützt werden. Nun gilt es, dass der Mensch umdenkt.
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