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«Ich habe Angst, dass ein Toter plötzlich wieder aufwacht»
Dr. Bettina Schrag (39) ist Rechtsmedizinerin des Kantons Wallis. Im Interview spricht sie über ihr Verhältnis zum Tod, ihre Aufgaben und warum sie Rechtsmediziner in Fernsehserien amüsant findet.
Frau Dr. Schrag, wie reagieren die Menschen, wenn Sie ihren Beruf nennen?
Grob kann man sagen, dass die Leute auf drei verschiedene Arten reagieren. Da sind die, die meinen Beruf als ganz normalen Job zur Kenntnis nehmen. Dann sind da jene, die mit etwas Ekel reagieren und zum Schluss noch die, auf die mein Beruf eine gewisse Faszination ausübt, die neugierig sind, was ich tue. Teilweise schon mit einer fast morbiden Neugier. Mir persönlich sind die am liebsten, die meine Arbeit ganz unaufgeregt zur Kenntnis nehmen.
Warum wird man eigentlich Rechtsmedizinerin?
Der Entscheid, mich auf die Rechtsmedizin zu spezialisieren, fiel eigentlich während eines Praktikums während des Studiums. Ursprünglich hatte ich recht Mühe mit der Materie. Während dieses Praktikums in der Pathologie wurde ich dann aber von einem Rechtsmediziner an die Hand genommen, der festgestellt hatte, dass mir die Arbeit ziemlich an die Nieren ging. Dieser Rechtsmediziner führte mich an das Thema Tod von einer anderen Seite heran, nahm mir meine Ängste und Vorurteile. In der Folge habe ich mich immer mehr für das Thema interessiert. Während meiner Assistenzzeit in der Chirurgie geisterte das Thema immer wieder in meinem Kopf herum und nach einem weiteren Praktikum habe ich mich dann entschieden, die Ausbildung zur Rechtsmedizinerin zu machen.
Woraus ziehen Sie Befriedigung in ihrem Berufsleben? Viel für Ihre «Patienten» können Sie ja nicht mehr tun.
Ganz im Gegenteil, wir können viel für die Menschen machen. Im Normalfall ist es ja so, dass der Arzt den Patienten befragt, Untersuchungen macht, dann die Diagnose stellt und eine Behandlung einleitet. Wir in der Rechtsmedizin gehen den umgekehrten Weg. Wir beginnen mit der Diagnose, die meistens Tod heisst. Von da an arbeiten wir uns zurück, bis wir wissen, was diesen Tod verursacht hat. Das ist auf zwei Arten von grosser Bedeutung. Einerseits können wir so dem Justizwesen helfen, die Umstände eines Todes zu klären, auf der anderen Seite können wir auch den Angehörigen sagen, warum ein geliebter Mensch gestorben ist, und ob er gelitten hat. Das gibt mir grosse Befriedigung in meiner Arbeit.
Muss man vom Tod fasziniert sein, um Ihre Arbeit machen zu können?
Nein. Man muss Respekt vor dem Tod haben, das auf jeden Fall. Man darf keine Angst haben und darf den Tod nicht mystifizieren. Sobald man eine Faszination entwickelt, wird es schräg und das geht überhaupt nicht. Der Tod ist etwas Natürliches, mit dem wir arbeiten.
Kommen wir zu Ihrer Arbeit im Einzelnen. Was macht eine Rechtsmedizinerin eigentlich genau?
Wir haben mehrere Aufgabenfelder. Da ist das, welches den meisten bekannt ist, das, wo wir mit Leichen zu tun haben. Stirbt jemand und der Arzt vor Ort hält fest, dass es sich um einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt, beginnt unsere Arbeit. Natürlich auch, wenn ein gewaltsamer Tod vorliegt. Dann kann es sein, dass wir vor Ort gerufen werden. Wir nehmen dann erste Untersuchungen vor, sichern Daten für eine mögliche Identifizierung und schätzen den Todeszeitpunkt. Natürlich schauen wir auch, ob die Umstände, die wir vor Ort antreffen, mit dem vermuteten Geschehen übereinstimmen.
Wie geht es anschliessend weiter?
Schritt zwei, der aber auch Schritt eins sein kann, ist die sogenannte Legalinspektion. Dazu wird der Leichnam in einen Obduktionssaal transportiert. Dann werden die Leiche, aber auch die Kleider, genauestens untersucht, wobei wir nach verdächtigen Dingen suchen. Es geht vor allem darum zu klären, ob die Spuren an der Leiche mit dem Szenario übereinstimmen, das uns von der Polizei präsentiert wird.
Können Sie das in einem Beispiel ausführen?
Nehmen wir an, wir wissen, dass die Leiche auf dem Bauch liegend gefunden wurde und dass Blut auf dem Boden war. Wir müssen anhand der Leichenschau klären, ob die Leichenflecken mit der Lage des Toten übereinstimmen oder ob er möglicherweise bewegt wurde. Oder woher das gefundene Blut stammt. Weist der Leichnam Abwehrverletzungen auf? Das sind Fragen, die wir während der Leichenschau klären. Immer steht die Frage im Vordergrund: Gab es eine Dritteinwirkung oder war es möglicherweise ein Unfall?
Und wenn dabei irgendwelche Ungereimtheiten festgestellt werden?
Dann wird obduziert. Bis jetzt ging es um die Frage: Wie waren die Todesumstände? Bei der Obduktion suchen wir dann nach der genauen Todesursache. Dies geht nur, wenn wir die Leiche öffnen. Das ist vor allem in Fällen besonders zentral, in denen der Tote keine äusseren Spuren aufweist. Die Obduktion muss Klarheit darüber schaffen, was den Tod verursacht hat. Ausgehend davon wird anschliessend versucht, Rückschlüsse darauf zu ziehen, welche Ursachen zum Tod geführt haben. Ein Beispiel: Die Todesursache unbekannt, äusserlich sind keine Hinweise für Fremdeinwirkung vorhanden. Wir müssen dann klären, ob eventuell ein Gift dafür verantwortlich war oder ob es sich um einen natürlichen Todesfall handelt, zum Beispiel einen Herzinfarkt.
Welche Aufgaben hat die Rechtsmedizin sonst noch?
Die Identität einer Leiche wird ebenfalls geklärt, und zwar zweifelsfrei. Eine ID in der Tasche reicht heute nicht mehr für eine Identifizierung. Dann kommen zum Beispiel zahnmedizinische Unterlagen zum Zug, oder die Person wird von Angehörigen optisch mit Unterschrift identifiziert.
Die Rechtsmedizin kümmert sich aber auch um die Lebenden, oder?
Ja, das ist das andere grosse Arbeitsfeld. Kommt es zum Beispiel zu Misshandlungen, Missbrauchsfällen oder Verletzungen ohne Todesfolge führen wir ebenfalls Untersuchungen durch, um den Tathergang zu rekonstruieren oder zu bestimmen, ob die Verletzungen mit den Schilderungen der Tatbeteiligten übereinstimmen. Oder wir klären ab, welche Verletzungen von welchen Waffen verursacht worden sein könnten.
Kommen denn im Wallis viele Fälle vor, in denen die Rechtsmedizin zum Zuge kommt?
Die Arbeit geht uns auf alle Fälle nicht aus, wir sind gut ausgelastet.
Und wie lange dauern Ihre Fälle im Schnitt?
Das ist schwer zu sagen, das hängt immer davon ab, welche Untersuchungen gemacht werden müssen. Es handelt sich aber bei Obduktionen eher um Monate als um Wochen, auf alle Fälle dauert es länger als im TV (lacht).
Stichwort TV. Ihr Beruf kommt ja in Serien und Krimis sehr oft vor. Wie stehen Sie zu dem dort gezeichneten Bild von Ihren «Kollegen»?
Ich finde meine «TV-Kollegen» sehr amüsant. Vor allem, weil die Charaktere so schön überzeichnet sind. Das Outfit ist immer perfekt, alles passt. Ich kann Ihnen aber versichern: Hochhackige Schuhe eignen sich für unseren Beruf nicht besonders. Was die Arbeit der Rechtsmediziner im Fernsehen betrifft, so ist zu sagen, dass da viele Aufgabenbereiche, die in der Realität strikt getrennt sind, vermischt werden. Ein Rechtsmediziner ist kein Fahnder oder arbeitet selten im Labor. Hinzu kommt, dass diesen Figuren oft technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die wir nicht haben und bei uns dauert alles, wie gesagt, einiges länger als 90 Minuten. Grundsätzlich habe ich aber nichts gegen das Bild, das die TV-Autoren für meinen Berufsstand entwerfen.
Gibt es Fälle, die Sie besonders beschäftigen?
Als Privatperson ja, als Profi darf man das aber nicht zulassen. Wenn man einen Fall bearbeitet, so muss man sich davon abgrenzen können. Man muss lernen, das persönliche Befinden in den Hintergrund zu rücken.
Wie gelingt Ihnen das?
Durch eine strikte Trennung von Berufs- und Privatleben. Ich nehme mir nie Arbeit mit nach Hause. Ein guter Ausgleich, zum Beispiel durch Hobbys, ist enorm wichtig.
Hat sich Ihr Verhältnis zum Tod durch Ihre Arbeit verändert?
Durch meinen Beruf weiss ich, welche Gesichter der Tod haben kann. Der Tod ist im Leben obligatorisch. Ich kenne die Arten, wie Menschen sterben. Auf der anderen Seite geht mir der Tod, wenn ich persönlich betroffen bin, genauso nahe, wie jedem anderen Menschen auch.
Warum haben Sie Angst, dass plötzlich jemand wieder aufwachen könnte?
Immer wieder stösst man in den Zeitungen auf Meldungen, dass jemand in einer Leichenhalle aufgewacht ist. Das Phänomen Scheintod muss jedem Arzt im Hinterkopf sein. Denn auch heute noch gibt es Umstände, in denen es möglich ist, dass jemand plötzlich wieder aufwacht. Obwohl wir Rechtsmediziner nicht gerne von Scheintod sprechen. Denn der Tod ist etwas Absolutes. Man ist tot oder eben nicht.
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Kommentare
Patty - ↑0↓3
Sogar schwarzer Lack auf den Fingernägeln - whow. Frau Dr. sieht aus wie das lange verschollene Töchterchen der Adams Family, aber was sie sagt, macht mich spontan sehr verliebt!
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Visper - ↑6↓0
Finde das ein gutes Interview. Frau Schrag macht einen sehr kompetenten Eindruck. Für die Familien, die mit einem speziellen Todesfall zu tun haben ist es sehr wichtig, dass sie wissen, dass Ihre Angehörigen in guten Händen sind.
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