Frontal-Interview | Kreativitätsforscher Gottlieb Guntern
«Ich finde es lächerlich, dass man ständig kreativ sein soll»
Psychiater und Kreativitätsforscher Gottlieb Guntern findet, dass man in der heutigen Zeit mit dem Begriff Kreativität Schindluder treibt. Nicht alles, was als kreativ gelte, sei es auch wirklich. Ein Interview über die Bedingungen für Kreativität.
Gottlieb Guntern, ich bin wie gewöhnlich mit einem Fragenkatalog zum Interview erschienen. War das eine gute Idee, wenn ich ein kreatives Interview führen will?
Durchaus. Ein kreativer Prozess gliedert sich in verschiedene Phasen. Die erste Phase ist die Schlummerzeit einer Idee. Der Urbeginn einer Idee kann jahrelang im Unterbewusstsein existieren. Dann kommt die Phase der Inspiration, wir kriegen plötzlich eine bewusste Idee, die uns begeistert. Diese Phase dauert, im Gegensatz zur ersten Phase, oft nur ein paar Sekunden lang. Direkt danach kommt die Vorbereitung. In Ihrem Fall war dies die Aufstellung des Fragenkatalogs mit der entsprechenden Recherche. Danach beginnt die Phase der Elaboration, die eigentliche Arbeit an der Umsetzung der ursprünglichen Idee.
Die Idee entsteht im Unterbewusstsein. Hat man als Mensch also keinen Einfluss darauf, ob man kreativ ist?
Ja und nein. Einerseits kann man Kreativität nicht erzwingen. Andererseits bringt es natürlich auch nichts, wenn man auf der Couch sitzt und auf einen Geistesblitz wartet. Die Chance, dass im Unterbewusstsein eine gute Idee keimt, wird umso grösser, je intensiver man sich mit einem spezifischen Thema auseinandersetzt. Man hat also einen indirekten Einfluss auf das Entstehen von Ideen.
Es braucht also eine gewisse Bildung, um die Chance auf eine kreative Idee zu verbessern.
Ja. Dazu gehört jedoch nicht unbedingt eine höhere Schulbildung. Viele Akademiker sind notorisch nicht kreativ.
«Viele Führungskräfte der Gesellschaft sind zu arrogant»
Warum das?
Ich glaube, dass jeder wirklich kreative Mensch letztlich ein Amateur sein muss. Ein Amateur, wie das Wort schon sagt, liebt die Sache, die er tut, hat Spass dabei. Auf der anderen Seite geht ein Amateur immer einen ihm völlig unbekannten Weg. Wäre er schon kundig auf dem Gebiet, sprich kein Amateur mehr, würde er vorhandene Dinge womöglich nur imitieren, was natürlich nicht kreieren ist.
Können Sie den Unterschied zwischen Kreativität und Innovation ein bisschen ausführen?
Nehmen wir die Wirtschaft. Ein beliebtes Wort ist hier Innovation. Leider wird das oft mit Kreativität verwechselt. Genauso wie Imagination. Das sind drei vollkommen unterschiedliche Dinge. Beginnen wir mit Innovation. Wenn eine Firma eine Etikette in einer anderen Farbe auf ihr Getränk klebt, nennt man das schon Innovation. Das ist es aber nicht.
Was ist es dann?
Eine Kleberei. Man hat nur eine neue Etikette auf eine Flasche geklebt. Eine Innovation dagegen wäre es, wenn die staatliche Bürokratie plötzlich anfangen würde, effizient und seriös zu arbeiten. Das wäre etwas, was neu ist, was es noch nicht gibt. Kreativ ist das deshalb aber nicht unbedingt.
Was ist mit Imagination?
Auch diese wird oft mit Kreativität verwechselt. Vorstellen kann ich mir die verrücktesten Sachen, oder ich kann die Vorstellungskraft anderer Menschen stimulieren. Nehmen wir mal die Folter. Da wird, zum Beispiel beim Waterboarding, die Vorstellung der Opfer manipuliert, sie würden jeden Moment sterben. Kein Mensch käme auf die Idee, diese sadistische Hinterlist kreativ zu nennen.
Was ist denn nun Kreativität?
Kreativ ist es, etwas zu machen oder zu erdenken, was einen gewissen Grad von Einmaligkeit hat, also nicht schon existiert. Das ist die erste Bedingung. Die zweite ist, dass etwas funktionieren muss, um als kreativ zu gelten. Ein Beispiel: Eine Werbeagentur, in der gewisse Leute sich selbst als «die Kreativen» bezeichnen, hat die Idee, als Imagekampagne für eine Bank jedem Passanten vor der Bank 10 000 Franken zu schenken. Einmalig wäre das auf jeden Fall, funktionieren würde es jedoch nicht, denn die Bank würde so weder ihre Produkte noch ihre Dienstleistungen besser verkaufen. Man würde die geistige Gesundheit der Verantwortlichen anzweifeln. Laut Definition funktioniert etwas nicht, was seinen eigentlichen Zweck nicht erfüllt.
«Einstein sagte: Was nicht schön ist, kann nicht wahr sein»
Welche Bedingung muss noch erfüllt sein?
Die dritte Bedingung für Kreativität ist Schönheit. Was schön ist, gefällt unseren Sinnen und regt unseren Geist an. Albert Einstein sagte einst über seine eigenen Formeln: «Was nicht schön ist, kann nicht wahr sein.» Wenn ihm eine von ihm erdachte mathematische Formel optisch nicht gefiel, warf er sie in den Papierkorb.
Als Kreativitätsforscher haben Sie diesen Bedingungen noch eine weitere hinzugefügt. Und zwar die Wertstiftung für die Menschheit. Warum das?
Zuerst habe ich mich mit den ersten drei Kriterien begnügt, musste dann aber den Nutzen für die Menschheit hinzufügen. Der Grund war die Argumentation des Erfinders der Gaskammern für die Nazis. Er «verkaufte» seine Höllenmaschine mit dem Argument, dass diese Art des Tötens völlig neu sei, dass sie absolut zuverlässig funktioniere und dass es eine «elegante Form des Tötens» sei, da die Opfer beim Sterben kein Blut, keinen Urin und keine Exkremente hinterlassen würden. Doch seine Erfindung war nicht eine kreative Leistung, sondern das Resultat einer destruktiven Fantasie. Deshalb kam ich zur Einsicht, was kreativ ist, darf nicht nur Profite für spezifische Interessengruppen produzieren, sondern es muss Werte für die Gesellschaft hervorbringen.
Wenn also die vier Kriterien erfüllt sind, ist Kreativität gegeben?
Ja, doch diese Kriterien sind rein subjektiv. Es gibt keine objektiven Kriterien der Kreativität. Aber mit der Zeit etabliert sich ein intersubjektiver Konsens, dass diese vier Kriterien erfüllt sind. Kein Mensch würde zum Beispiel heute bezweifeln, dass die Pietà von Michelangelo eine kreative Leistung war. Hinzufügen möchte ich, dass ein konkretes kreatives Resultat auf einer Skala von 1 bis 100 liegen kann; die obersten 5 bis 10 Prozent nennen wir geniale Leistungen.
Dennoch, in vielen Fällen dürfte etwas, was man als kreativ bezeichnet, die Kriterien nicht erfüllen. Allerdings gehört Kreativität, oder zumindest Innovation, heute zu fast jedem Anforderungsprofil, wenn man sich für eine Stelle bewirbt.
Ich finde diese Entwicklung absolut lächerlich. Die Begriffe Innovation und Kreativität sind einem regelrechten Hype unterworfen, also vollkommen übertrieben. Wer sich ein Produkt von Apple kauft, irgendetwas in die Tasten haut und dann meint, er sei kreativ, ist für mich ein Naivling. Wer sich von diesem beeindrucken lässt, ebenfalls. Computer oder Smartphones sind nützliche Hilfsmittel, mehr nicht. Der Grund ist vielleicht, dass den Menschen nichts mehr einfällt und daher versucht wird, diese Lücke mit Aktionismus zu füllen. Aber es ist klar: Wenn der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft von den Menschen fordern, kreativ zu sein, dann werden diese alles daran setzen, diesem Bild zu entsprechen, auch wenn es nur zum Schein ist. Dieses Phänomen betrifft aber nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze Länder. Ich käme beispielsweise nie auf die Idee, China als ein kreatives Land zu bezeichnen. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Nation gründet nämlich weitgehend auf Kopien. Das ist schade, denn einst war China ein wirklich sehr kreatives Land, dem wir zum Beispiel die Erfindung des Papiers und der Seide verdanken.
Wie kann es passieren, dass die Fähigkeit zur Kreativität verloren geht?
Immer dann, wenn sich in einer Gesellschaft die Idee durchsetzt, dass man viel auswendig lernen muss, um Erfolg zu haben, ist das Kind in den Brunnen gefallen. In China kam der Zeitpunkt, als es Bedingung für eine Staatskarriere wurde, dass man die Lehren von Konfuzius auswendig lernte. In der Welt der Muslime wird dasselbe passieren, wenn man Kinder dressiert, die Suren des Korans wie Papageien nachzuplappern. Kreativität setzt selbstständig denkende Menschen voraus.
«Wären Mediziner kreativ, würde die Versorgung anders aussehen»
Interessant, dass Sie das sagen. Als Psychiater mussten Sie während des Medizinstudiums sicher viel auswendig lernen.
Ja, das ist so. Viel vom Stoff, den man sich in den Kopf hineingestopft hat, hat man nach einem Examen oft erstaunlich schnell vergessen. Wären Mediziner sehr kreativ, würde unsere medizinische Versorgung weltweit anders aussehen. Ähnliches gilt für sehr viele Disziplinen. Ich habe 15 Jahre lang auf drei Kontinenten Topmanagern grosser Konzerne bei der Entwicklung kreativer Führung geholfen. Dabei traf ich zahllose Abgänger von Business Schools, die Schemata gepaukt und Sachbestseller verschlungen hatten, die aber sehr oft nur des Kaisers neue Kleider verhökert haben. Ignoranz brütet Arroganz aus. Diese beobachtet man bei vielen Führungskräften in sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft — und deshalb schlittern wir von Krise zu Krise. Das gilt für Kirche und Staat, Wirtschaft und Politik, Erziehungs- und Gesundheitswesen und leider auch für die Medizin.
Was würden Sie persönlich als Ihre grösste, kreative Leistung einstufen?
Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Denn man ist ein schlechter Richter, was die eigenen Leistungen betrifft. Entweder man überschätzt sich, wenn es gerade gut läuft, oder man unterschätzt sich, wenn es nicht so rund läuft. Die Beurteilung meiner Leistungen überlasse ich daher gerne der Nachwelt.
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