Frontal | Sabine Studer, Jast-Leiterin und Michael Ruppen, Jast-Leiter
«Gegen Regeln zu verstossen, gehört zum Erwachsenwerden»
Das Oberwallis zählt acht regionale Jugendarbeitsstellen (Jast). Im Interview sprechen die Leiterin der Jast Briglina, Sabine Studer, und der Leiter der Jast Visp, Michael Ruppen, über ihre Arbeit, Sorgen der Jugend und warum ein Fehlverhalten nicht per se schlecht ist.
Michael Ruppen, Sie leiten die Jugendarbeitsstelle Visp. Erklären Sie doch einmal, warum muss man überhaupt mit der Jugend arbeiten, sprich die jungen Leute «bearbeiten»?
Ruppen: Die Gesellschaft und die Lebensumstände der Jugendlichen sind sehr kurzlebig und ständig im Wandel begriffen. In dieser Welt bieten wir den jungen Leuten verschiedene Ansatzpunkte und Angebote, um sich zu orientieren und die Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu meistern.
Welche Ansatzpunkte und Angebote sind dies, Sabine Studer?
Studer: Offene Jugendarbeit, also das, was die Jugendarbeitsstellen (Jast) machen, basiert auf mehreren Grund- und Arbeitsprinzipien. Das wären Offenheit, Freiwilligkeit, Bildung, Partizipation, Niederschwelligkeit und Lebensweltorientierung. Auf unseren Jugendtreffs in Brig und Visp angewendet bedeutet dies zum Beispiel, dass die Treffs allen Jugendlichen ab der Orientierungsstufe offenstehen, dass man kommen und gehen darf, wann man möchte, oder dass wir Kurse anbieten, in denen die Jugendlichen lernen, wie man Projekte selbst organisiert und durchführt oder Ähnliches.
Ruppen: Der Punkt der Partizipation ist besonders wichtig, da die Jugendlichen hier gesellschaftliche Teilhabe lernen und erfahren können. Es geht darum, dass sie mitentscheiden und mitarbeiten können. Dadurch erfahren die Jugendlichen auch eine Selbstwirksamkeit, also beispielsweise dass Entscheidungen Konsequenzen haben. Lebensweltorientierung hingegen meint, dass unsere Arbeit sich an den Gegebenheiten und Realitäten der Jugendlichen orientiert.
So viel zur Theorie. Wie profitieren die Jugendlichen und somit die Gesellschaft von dieser Arbeit?
Ruppen: Nehmen wir den Bereich der Partizipation. Es ist doch sehr sinnvoll, wenn Jugendliche lernen, dass das Recht mitzubestimmen und Umkehrschluss auch heisst, dass die eigene Entscheidung auch Konsequenzen hat. Zudem lernen die Jugendlichen bei uns, Konflikte zu bewältigen, die durch das Zusammensein entstehen.
Studer: Dadurch, dass bei uns auch die unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Form von Kultur, Religion oder sexueller Orientierung aufeinandertreffen, fördert unsere Arbeit auch das gegenseitige Verständnis und die Toleranz untereinander. Wir vermitteln also die Grundpfeiler der Gesellschaft und des Zusammenlebens.
Ruppen: Unsere informelle Bildungsarbeit können die Jugendlichen ebenfalls weiterbringen. Bei uns lernt man beispielsweise, wie man einen Anlass oder ein Projekt organisiert, eine Möglichkeit, die sich so jungen Leuten sonst eher selten bietet. Ganz wichtig finde ich aber, dass die Jugendlichen bei uns stärker ihre Grenzen austesten können als sonst wo.
Was heisst das?
Studer: Wir glauben an das Prinzip einer zweiten, oder auch dritten Chance. Zudem geht es darum, dass die Jugendlichen ihr Verhalten reflektieren. Das heisst wenn jemand ein «Fehlverhalten» an den Tag legt, so sprechen wir mit der Person darüber und handeln künftiges Verhalten zusammen aus. Das geht in vielen anderen Bereichen nicht, zum Beispiel im schulischen. Dort gelten klare Regeln und Verstösse dagegen ziehen Konsequenzen nach sich. Bei uns aber können die Jugendlichen dadurch, dass Ebenen ausgehandelt wird, sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln.
Aber Sanktionen und Verbote gibt es auch bei Ihnen.
Ruppen: Ja, auch wir kennen eine Hausordnung. Kommt eine Person beispielsweise alkoholisiert zu uns, so muss er oder sie nach Hause. Ein Verstoss gegen die Regeln ist aber nicht nur schlecht. Zum Beispiel gibt uns ein Verstoss gegen das Alkoholverbot die Möglichkeit, mit dem Jugendlichen über die Thematik Alkohol zu sprechen und eben künftiges Verhalten auszuhandeln und etwaige Probleme zu klären. Übrigens gehört es zum Erwachsenwerden dazu, gegen Regeln zu verstossen. Dem tragen wir bei unserer Arbeit Rechnung.
Hat Jugendarbeit einen präventiven Charakter?
Ruppen: Auf alle Fälle. Wir kennen die Jugendlichen gut, sie kennen uns. Dadurch fühlen sie sich nicht so anonym, was aber auch dazu führt, dass sich die Jugendlichen nicht in der Masse verstecken können. Gleichzeitig fühlen sie sich wertgeschätzt, weil wir sie kennen und schätzen, was natürlich für Menschen, die sich altersbedingt in einem grossen Verwandlungsprozess befinden, von grossem Wert ist.
Studer: Gerade unsere Jugendtreffs bieten einen geschützten Rahmen. Hier sind die Jugendlichen beaufsichtigt, können sich aber auch zurückziehen, wenn ihnen das situativ mehr zusagt. Zudem stehen wir Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter als Ansprechpersonen für die unterschiedlichsten Fragen und Probleme zur Verfügung.
Wie sehen die täglichen Herausforderungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendarbeitsstellen aus?
Studer: Die Bedürfnisse sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen selbst. Für uns bedeutet das, dass wir sehr flexibel sein müssen und uns ständig anpassen müssen. Auch, weil ja ständig neue Jugendliche zu uns in unsere Treffs kommen.
Ruppen: Das bedeutet, dass wir natürlich immer wieder neue Beziehungen aufbauen müssen. Einerseits ist das eine sehr spannende Sache. Andererseits auch viel Arbeit, da die angesprochenen Aushandlungsprozesse immer wieder neu durchgeführt werden müssen. Man ist immer in Bewegung und die Angebote ändern sich laufend.
Woran sieht man, dass Jugendarbeit erfolgreich ist?
Ruppen: Das ist relativ komplex, da die Jugendlichen wie gesagt sehr unterschiedlich sind. Was aber sicher schön ist, wenn man die persönliche Entwicklung eines Jugendlichen über die Jahre hinweg mitverfolgen kann und sieht, welche Fortschritte er oder sie macht. Auch wenn man von ehemaligen Jugendlichen auf der Strasse angesprochen wird und man ein positives Feedback zur Zeit im «Jugi» erhält, sind das sicher Erfolgsmomente.
Lassen Sie uns über die Jugend sprechen. Was beschäftigt die jungen Menschen im Oberwallis in diesen Tagen?
Studer: Ein grosses Thema ist sicher die Entwicklung der digitalen Medien und der Umgang damit. Dies geht Hand in Hand mit einem anderen sehr wichtigen Aspekt, nämlich dem des steigenden Drucks. Leistungsmässig wird den Jugendlichen immer mehr abverlangt, in Kombination mit dem Druck auch in den sozialen Medien ein gutes Bild abgeben zu müssen und ständig erreichbar zu sein, kann das sehr belastend sein.
Das hört sich ziemlich oberflächlich an.
Ruppen: Das liegt in der Natur der Sache. Man ist in dem Alter, in dem sich der eigene Körper verändert und es ist schwer, damit umzugehen. Es ist daher nur logisch, dass man sich darauf ein Feedback wünscht, erfahren möchte, wie man bei den anderen ankommt. Die sozialen Medien haben dafür natürlich gewaltige neue Möglichkeiten eröffnet. Es ist aber ein ganz normaler entwicklungspsychologischer Schritt, dass Jugendliche sich intensiv mit ihrem Äusseren und den Reaktionen darauf befassen.
Studer: Ausserdem interessieren sich die jungen Leute auch sehr stark für Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz, was alles andere als oberflächlich ist.
Wie schafft man es als Jugendarbeiterin oder Jugendarbeiter am Puls der Zeit zu bleiben? Schliesslich wird man selbst immer älter, die Jugendlichen aber nicht.
Studer: Zentral ist, dass man offen bleibt und sich immer wieder direkt bei den Jugendlichen informiert, was gerade in ist und dergleichen. Dann sollte man neue Sachen auch ausprobieren und sich informieren, zum Beispiel wenn eine neue App auf den Markt kommt, die bei Jugendlichen beliebt ist.
Ruppen: Gut ist, wenn man von den Jugendlichen neue Dinge lernt und sie direkt um Erklärungen dazu bittet. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass man so gleichzeitig ihr Selbstwertgefühl stärkt, denn Jugendliche finden sich nur sehr selten in der Expertenrolle wieder. Andererseits muss ich als Jugendarbeiter auch nicht so sein wie Jugendliche und ihren Lifestyle teilen. Genau darum geht es ja auch. Wir sind Jugendarbeitende und nicht einfach ein weiterer bester Freund. Das wissen und schätzen die Jugendlichen.
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