Zermatt/Bern | Frontalinterview mit Regisseurin der Zermatter Freilichtspiele
«Die Story ist mit einem Augenzwinkern zu geniessen»
Sie führt bei den Zermatter Freilichtspielen bereits zum dritten Mal Regie und steht kurz vor der Premiere zu «Matterhorn: No Ladies please!» Die Bernerin Livia Anne Richard (50) über die letzten Proben und warum sie in der Vergangenheit schon fast gratis gearbeitet hat.
Frau Richard, für die diesjährigen Freilichtspiele auf dem Riffelberg haben Sie sich mit «Matterhorn: No ladies please!» für die Geschichte der Engländerin Lucy Walker, der ersten Frau auf dem Matterhorn, entschieden. Ist die Geschichte schon erzählt?
Nein, eben nicht. Das ist lediglich der vordergründige Stoff. Hintergründig geht es darum, dass Lucy Walker bei ihrem Aufenthalt in Zermatt das einheimische Mädchen «Lina» trifft, welches als Arbeitskraft in der Küche arbeiten muss und auch nicht das Kollegium in Brig besuchen darf, weil dort zur damaligen Zeit nur Buben zugelassen waren. Beim Treffen spiegeln sich ihre beiden Leben ineinander und sie entwickeln ein gegenseitiges Zutrauen. Und dann musste ich zwangsläufig noch verschiedene Geschichten rundherum einbauen.
Warum zwangsläufig?
Bei den vorherigen Stücken («The Matterhorn Story» und «Romeo und Julia am Gornergrat», Anm. Red) konnte ich auf viel vorhandenen Stoff zurückgreifen und musste verdichten. Dieses Mal war es anders. Über Lucy Walker ist ausser mit einigen Eckdaten, wie beispielsweise dem Jahr 1871 als Datum ihres Besteigungsversuchs, fast nichts überliefert. Zur damaligen Zeit veröffentlichten Frauen praktisch nichts und auch die Gesellschaft veröffentlichte keine Biografien von Frauen. Somit konnte ich mich künstlerisch voll ausleben.
Das Stück handelt von zwei Frauen, welche sich durchsetzen mussten, und wird nun zu einer Zeit aufgeführt, in der die Frauendebatte aktuell ist. Zufall?
Als ich mit den Planungen vor zwei Jahren begonnen habe, war die von Ihnen angesprochene Frauendebatte kein Thema. Deshalb ist das mehr als Zufall. Wobei zu sagen ist, dass ich nicht das erste Mal das Glück habe, mit einem Thema genau richtigzuliegen. In einem unterscheidet sich das diesjährige Stück von den zwei vorangegangen Aufführungen. Es ist mit Abstand das witzigste Stück. Lustige Anekdoten wechseln sich mit ernsteren Abschnitten ab. Die Story ist mit einem Augenzwinkern zu geniessen, bei welcher weder Mann noch Frau das Gesicht verliert.
Wie man hört, waren Sie zu Beginn des Projekts aber nicht so überzeugt von der Geschichte von Lucy Walker?
Ich hatte meine Zweifel, das stimmt. Aber je länger ich mich dann damit auseinandergesetzt habe, umso stärker ist die Geschichte in mir gewachsen und ich fand den Stoff je länger, je spannender.
«Das Stück vor zwei Jahren war ein Kamikaze-Projekt»
Mittlerweile sind Sie beide zusammengewachsen. Was haben Lucy Walker und Livia Anne Richard gemeinsam?
Ganz viel.
Bitte…
Wir sind beide stur. Wenn wir uns einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, dann verfolgen wir das mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bis ans Ende. Vielleicht hängt das auch mit meiner Geburt zusammen. Die war nämlich sehr schwer, meine Mutter und ich sind beide fast gestorben daran. Eigentlich müsste ich schwer behindert sein. Meine Mutter sagt mir noch heute: «Du wolltest schon damals mit dem Kopf durch die Wand.» Möglich, dass mich das geprägt hat. Lucy Walker musste sich gesellschaftlichen Widerständen und Verboten ihrer Zeit stellen, musste extrem zielstrebig sein.
Apropos Zielstrebigkeit. Wenn man Sie bei den Proben beobachtet, so leben Sie, was Sie sagen, sind leidenschaftlich und fordern von den Darstellenden viel. Wie erleben Sie das?
Es trifft zu, dass ich viel verlange. Ich will, dass alles perfekt ist, und ich will eine Top-Produktion auf die Bühne bringen, will die Menschen berühren. Das ist kein Zufall, das ist Handwerk. Ich fordere aber auch von mir sehr viel und verlange das Beste von mir selber. Ich bin teils so konzentriert, dass ich nicht merke, wenn ich stolpere oder hinfalle. (lacht)
So schlimm können Sie ja nicht sein. Wenn man die Liste der Darstellenden sieht, fällt auf, dass viele schon bei den zwei vorangegangenen Produktionen dabei waren. Offenbar arbeitet man gerne mit Ihnen zusammen?
(lacht) Es macht den Anschein. Ich verlange wie gesagt viel von ihnen und versuche immer noch mehr aus ihnen herauszuholen. Und trotzdem steht bei mir die Menschlichkeit im Mittelpunkt. Hinter jedem Darsteller und auch hinter mir steckt ein Mensch, welcher nebst dem Theater seine Alltagssorgen hat. Das lassen wir gemeinsam nie ausser Acht.
Sprechen wir über die letzten Proben. Woran müssen Sie bis zur Premiere am 11. Juli noch arbeiten?
Die Erarbeitung eines solchen Projekts kann man vergleichen mit einem Gemälde, das in verschiedenen Schritten entsteht. Derzeit steht das Sujet und jetzt setze ich die letzten Akzente. Wir sind ein Team mit 23 Schauspielerinnen und Schauspielern und einem Hund. Das Ganze muss nun mehr werden als die Summe der Anzahl Darsteller. Noch ein kleiner Tupfer hier und noch ein kleiner Strich dort. Aber auch ein Bild ist aus Sicht des Malers nie perfekt, nie ganz fertig. So ist es auch bei mir. Doch irgendwann einmal muss es dann doch irgendwie abgeschlossen werden. Diese Feinarbeit gegen Ende ist für mich das Schönste.
Das Stück ist mit Deutsch, Walliser Dialekt und Englisch mehrsprachig. Eine zusätzliche Herausforderung?
Natürlich. Wobei ich auf hervorragende Sprachkenntnisse einiger Schauspieler zurückgreifen kann.
Diese «Internationalität» kommt ja nicht ganz von ungefähr. Im Nachgang zum letzten Stück «Romeo und Julia am Gornergrat» gab es Stimmen, welche diesen Aspekt vermissten. Das habe das internationale Publikum von einem Besuch abgehalten. Was sagen Sie dazu?
Dazu muss ich etwas ausholen. Als wir vor vier Jahren mit den Freilichtspielen begannen und die Geschichte der Erstbesteigung des Matterhorns aufführten, hatten wir nur schon aufgrund des Jubiläums der Erstbesteigung des Matterhorns eine grosse Anzahl an Publikum. Das zweite Jahr mit «Romeo und Julia am Gornergrat» war etwas ein «Kamikaze-Projekt». Ich wollte schauen, ob es uns gelingt, mit einem reinen Walliser-Dialekt-Stück und ohne das Jubiläum im Rücken den Riffelberg als Theaterort zu etablieren.
Die nackten Zahlen beantworten diese Frage wohl. Bei der ersten Austragung waren es insgesamt knapp 24 000 Zuschauer, das zweite Mal noch 16 000…
Als Regisseurin bin ich mit diesen Zahlen trotzdem zufrieden, sie entstanden aus eigener Kraft – ohne Schubkraft des besagten Jubiläums zwei Jahre zuvor. Ich bin aber auch selbstkritisch. Es ist uns im Vorfeld nicht gelungen, deutlich zu machen, dass es sich bei «Romeo und Julia am Gornergrat» um eine neue Geschichte handelte. Viele meinten, es handle sich um Romeo und Julia von Shakespeare. Schliesslich hat sich das dann auch finanziell ausgewirkt.
«Ich habe grosse Erwartungen an mich selber»
Verraten Sie uns Details?
Wir konnten die Rechnung mit einem vorangeschlagenen Budget von 1,2 Millionen Franken, welches dank vielen treuen Sponsoren getragen wird, ausgeglichen gestalten. Jedoch habe ich auf meine Tantiemen (Vergütung für Aufführung, Anm. Red.) für das Stück verzichtet. Sonst hätte es anders ausgesehen.
Mit wie vielen Besuchern rechnen Sie dieses Jahr?
Nach derzeitigem Stand der Reservationen werden wir so zwischen den Zahlen der ersten und der zweiten Austragung stehen.
Sie sagen von sich selber, Sie seien kein Zahlenmensch. Und dennoch mussten Sie sich dieses Jahr zwangsläufig vermehrt damit beschäftigen. Wegen einem personellen Abgang mussten Sie, nebst der künstlerischen Leitung, auch noch die Geschäftsführung übernehmen. Hat diese Doppelbelastung Einfluss auf Ihre Regiearbeit?
Überraschenderweise nicht. Um die Zahlen kümmere ich mich übrigens ja nicht selber. Dafür haben wir einen Treuhänder. Die Doppelbelastung war heftig, aber ich habe ein tolles Team und gemeinsam haben wir das gemeistert.
Im Zusammenhang mit Finanzen, Sponsoren, dem internationalen Zermatt usw. ist auch Druck vorhanden. Nicht zuletzt auch das Publikum will für sein Geld etwas geboten haben. Wie gehen Sie damit um?
Wie schon gesagt, habe ich grosse Erwartungen an mich selber. Der grösste Druck kommt also von mir. Wenn ich aber sagen kann, ich habe mein Bestes gegeben, und alles Herzblut hineingiesse, damit das Projekt ein Erfolg wird, dann kann ich mir keine Vorwürfe machen. Dann habe ich auch kein Problem, mit Druck und Kritik umzugehen.
Peter Abgottspon
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar