Frontal-Interview | Der ehemalige Rettungschef über den Felssturz von Randa

«Die Staubwolke nach dem Felssturz sah aus wie ein Atompilz»

Der ehemalige Rettungschef von Randa, Yann Dupertuis, am Ort des Geschehens.
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Der ehemalige Rettungschef von Randa, Yann Dupertuis, am Ort des Geschehens.
Foto: RZ

Randa nach dem Felssturz von vor 25 Jahren
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Randa nach dem Felssturz von vor 25 Jahren
Foto: zvg

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Vor 25 Jahren donnerten in Randa insgesamt 30 Millionen Kubik Gestein ins Tal. Die Narben sind bis heute sichtbar. Auch im Kopf des damaligen Rettungschefs Yann Dupertuis (50) haben sich die Ereignisse eingeprägt. Er erinnert sich.

Es ist Donnerstag, 18. April, 1991 frühmorgens. Herr Dupertuis, wenn Sie sich an diesen Tag zurückerinnern, wo befanden Sie sich zu diesem Zeitpunkt?

Ich war noch im Bett. Plötzlich hörte ich ein Poltern und spürte ein leichtes Beben. Zuerst dachte ich an den vorbeifahrenden Zug. Dann wiederholte sich der Lärm und ich dachte spontan an meine über mir wohnende Nachbarin, welche vielleicht verschlafen hatte und sich beeilen musste, um pünktlich bei der Arbeit zu sein. Plötzlich aber wiederholte sich der Lärm ein drittes Mal, und ich schaute durchs Fenster.

Und was sahen Sie?

Ich traute meinen Augen nicht. Ein mächtiger Felssturz und eine unglaubliche Staubwolke. Weil diese aber so dicht und es auch noch nicht richtig hell war, konnte ich das Ausmass nicht genau abschätzen. Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Da kam mir die Staubwolke entgegen. Es kam mir vor wie dichter Nebel. Aus sicherer Entfernung versuchte ich mir ein Bild des Geschehenen zu verschaffen. Kurz darauf traf auch schon der damalige Feuerwehrkommandant ein. Wir alarmierten unverzüglich die Polizei, um die darunter verlaufende Strasse sowie die Bahnlinie zu sperren. Beides war zwar teils verschüttet, aber sonst noch intakt.

Was waren Ihre ersten Gedanken?

Wir wussten nicht, ob allenfalls Menschen begraben wurden. Direkt darunter befanden sich zwar keine Wohnhäuser, jedoch Hütten und Ställe mit Vieh. Darum klärten wir das so rasch als möglich ab. Als dann feststand, dass keine Menschen zu Schaden kamen, fiel uns ein Stein vom Herzen. Uns war aber auch bewusst, dass wir das Gelände nicht betreten durften, weil es nach wie vor unsicher war.

Wie ging es dann weiter?

Die alarmierte Polizei sperrte umgehend die Verkehrswege und im Verlauf des Vormittags trafen immer mehr Fachleute des Kantons ein. So auch der Kantonsgeologe. Mit ihm überflog ich dann das Gelände und die Abbruchstelle, und wir versuchten, uns so ein Bild der Situation zu verschaffen. Es musste ja jederzeit mit weiteren Abbrüchen gerechnet werden. Oberhalb der Abbruchstelle stiegen wir aus dem Helikopter und stellten dort weitere Risse fest. Daraufhin waren wir uns bewusst, dass der ganze Berg nach wie vor in Bewegung ist und es noch nicht vorbei ist.

Als Rettungschef waren Sie demnach hautnah dabei...

Ja. Zusammen mit dem Kantonsgeologen wurde dann entschieden, die Risse mit Messgeräten zu überwachen. Als diese installiert waren, überprüften wir damit weitere allfällige Bewegungen. So flogen wir täglich hoch zu den Messpunkten und überprüften dabei die Daten. Das waren die ersten Massnahmen. Später wurden weitere Experten beigezogen, welche bessere und genauere Messgeräte installierten. In den folgenden Tagen stellten wir zuerst eher kleinere Veränderungen fest, später bewegte sich der Fels sogar täglich um mehrere Zentimeter. Da stand fest, dass es zu einem weiteren Felssturz kommen würde. In der Folge blieben wir im Schichtbetrieb permanent bei den Messpunkten.

Dann kam der 9. Mai. Wiederum ein Donnerstag. Wie erlebten Sie diesen Tag?

Wie immer überwachten wir das Gebiet. Dabei konnten schon fast von blossem Auge die Bewegungen im Fels beobachtet werden. Da es so akut war, wurde die Strasse umgehend geschlossen. Wir flogen ins Tal und verbrachten den Nachmittag im Gemeindehaus, wo in der Zwischenzeit eine Einsatzzentrale eingerichtet wurde. Hier befand sich auch der Kantonsgeologe, welcher gegenüber mir sagte, dass man ein solch grosses Ereignis nur einmal im Leben mitbekommen würde. Da wurde mir das Ausmass richtig bewusst. Während dieser Zeit «rumorte» es am Berg ständig, und es kam immer wieder zu einzelnen Steinschlägen. Wir entschlossen uns dann, das Gebiet noch einmal zu überfliegen. Kaum oben angekommen, ging es richtig los. Der halbe Berg kam ins Rollen. Die Staubwolke war so stark, dass wir so schnell wie möglich aus dem Gebiet verschwinden mussten. Es war apokalyptisch. In Randa konnten wir darum anschliessend gar nicht mehr landen. Deshalb flogen wir Richtung Zermatt. Aber die Staubwolke folgte uns richtiggehend. (Auch in Zermatt war die anschliessende Staubschicht mehrere Zentimeter hoch. Anm. der Red.)

Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?

Aufgrund der immensen Staubentwicklung konnte ich nicht richtig erkennen, was sich darunter genau abspielt. Ich war verunsichert und wollte noch vom Helikopter aus meine Frau anrufen, was mir aber nicht gelang. Später erfuhr ich von ihr, dass sie zum Zeitpunkt des Felssturzes im Kamin ein Feuer entfache wollte, vor lauter Staub wurde es dann so dunkel, dass sie das Zündholz nicht mehr erkennen konnte. Der feine Staub kam durch die geschlossenen Fenster bis in die Stube. Innerhalb von Sekunden wurde es dunkel. Im Vergleich zum zweiten Mal war die Staubentwicklung viel stärker. Noch Tage später sah es darum in der ganzen Region gespenstisch aus. Weil dieses Mal das Bachbett der «Vispa» verschüttet wurde, ging das Unheil erst richtig los... In den ersten Tagen danach wurde der Hang weiterhin überwacht. Diesmal sogar Tag und Nacht. So wechselten wir uns im Schichtbetrieb ab und übernachteten sogar oben am Berg. Dann staute sich die «Vispa», die Flut stieg immer höher und bewegte sich immer näher zum Dorf. Die Armee kam zu Hilfe und es wurde so gut es ging ein provisorisches Bachbett erstellt. Doch dann spitzte sich die Lage weiter zu.

Was geschah dann?

Es gab heftige Gewitter. Dadurch schwoll eines Tages der Dorfbach an und trat über die Ufer. Gleichzeitig führte dieser dadurch viel Gestein mit sich und da er in die «Vispa» mündete, wurde damit das provisorisch erstellte Vispa-Bachbett gestaut. Ab diesem Zeitpunkt war die Flut nicht mehr aufzuhalten. Haus um Haus fiel ihr zum Opfer. Weil die Kantonsstrasse auch unterbrochen wurde, erstellte die Armee eine Pontonbrücke. Die Bahn fuhr lange Zeit gar nicht mehr.

Wurde Ihr damaliges Zuhause auch überflutet?

Ich hatte Glück, obwohl sich meine Wohnung auch im betroffenen Gebiet befand, jedoch etwas erhöht. So kamen wir davon. Andere aber hatten weniger Glück. So wurde unsererseits während einer Nacht Haus um Haus evakuiert. Aufgrund des Frühlings führte die Vispa viel Schmelzwasser mit sich und entsprechend schnell stieg der Pegel an. Schliesslich bildete sich ein richtiger See, welcher in der Folge immer grösser wurde. Ich erinnere mich gut daran, dass ich, um nach Hause zu gelangen, mit dem Boot abgeholt werden musste und in der Nähe meiner Wohnung abgesetzt wurde.

Wie erlebten Sie die betroffenen Bewohner bei der Evakuation?

Den Umständen entsprechend gut. Sie hatten ja keine Wahl. Ich erinnere mich an einen taubstummen Bewohner. Er bekam die Durchsagen für die Evakuation nicht mit. Wir fuhren mit einem Boot zu ihm und holten ihn schliesslich auf dem Wasserweg aus dem Haus.

Machte sich dann eine gewisse Solidarität unter der Bevölkerung breit?

Man half sich gegenseitig, und die Armee griff ebenfalls unter die Arme. Eigentlich war das Dorf «dreigeteilt». Zum einen die überfluteten Quartiere, in welchen zahlreiche Häuser vom Hochwasser betroffen waren. Zum anderen die Quartiere «Wildi» sowie der Dorfteil bei der Kirche etwas oberhalb. Diese Teile blieben vom Wasser verschont.

Was blieb Ihnen am meisten in Erinnerung?

Eigentlich alles. Vom ersten Geräusch, Steinschlag, über die Staubwolke und den Felsüberwachungen, welche übrigens im Verlauf des Sommers zurückgefahren wurden, bis zu den Evakuationen und dem Armeeeinsatz. Es gab auch schon fast amüsante Szenen. So wurde ein kleineres Gebäude aus Holz wegen der Flut im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Sockel gehoben und schwamm im Wasser. Später, als sich das Wasser zurückzog, kippte es dann zur Seite und lag weiter weg umgekehrt auf dem Dach.

Alles in allem also Glück im Unglück?

Ja. Es kamen ja Gott sei Dank keine Menschen zu Schaden. (Insgesamt wurden rund 20 Gebäude, 30 Schafe und sieben Pferde verschüttet, Anm. der Red.) So gesehen verlief es verhältnismässig glimpflich. In meiner ehemaligen Funktion als Rettungschef habe ich bei der Vielzahl an Einsätzen leider viele tragischere Schicksale erleben müssen.

Peter Abgottspon

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Infos

Zur Person

Vorname Yann
Name Dupertuis
Geburtsdatum 17. Januar 1965
Familie verheiratet, fünf Kinder 
Beruf Zimmermann, Bergführer
Funktion ehemaliger Rettungschef Randa
Hobbies Jagd, Hirschhalter

Nachgehakt

Ich kann ohne Berge leben. Nein
Der Felssturz ist das Schlimmste, was ich erlebt habe. Nein
Das Fleisch meiner eigenen Hirsche esse ich Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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