Leukerbad | Schriftsteller Adolf Muschg im RZ-Interview
«Die Schweiz im 19. Jahrhundert ist ein Modell für Europa»
Nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt ist Adolf Muschg der wohl wichtigste kultur- und gesellschaftspolitisch engagierte Schriftsteller der Schweiz. Im RZ-Interview spricht der 82-Jährige über die aktuelle politische Situation in Europa und seine Erfahrung mit dem Wallis.
Herr Muschg, Sie waren dieses Jahr zum ersten Mal am Literaturfestival in Leukerbad.
Ich war schon an vielen Literaturereignissen wie etwa in Solothurn oder auch in Deutschland. Leukerbad und ich haben uns bis jetzt noch nicht gefunden. Es hatte sich bis jetzt einfach noch nicht ergeben.
Aber im Wallis waren Sie schon öfters?
Mit meiner Familie verbrachte ich früher regelmässig Ferien im Wallis. Wir besassen ein altes Bauernhaus in Niedergampel. Im Winter fuhren wir Ski – nicht in den berühmten Tourismusdestinationen, sondern in Visperterminen und in Jeizinen.
Wieso erwarben Sie gerade in Niedergampel ein Haus?
In einem Zeitungsinserat sah ich ein altes Bauernhaus zum Verkauf ausgeschrieben. Als ich deswegen nach Niedergampel reiste, musste ich erfahren, dass das Haus gerade verkauft worden war. Ich konnte dann aber ein anderes Bauernhaus kaufen und renovieren. 15 Jahre lang schenkte es uns einen wunderbaren Auslauf in eine andere Welt. Mit dem Wallis verbinde ich etwas ungemein Intimes.
Während einer Lesung erzählten Sie aus Ihrer Schulzeit, wie der Griechischunterricht Sie geprägt hat. Was als kleine Anekdote begann, entwickelte sich zu einer kurzen, flammenden Rede. Sie beklagten, dass Europa das Geschichtsbewusstsein abhandengekommen ist. Verlieren wir den Kontakt zu unseren Wurzeln?
Es gehen vor allem Umgangsformen mit Problemen verloren. Wenn mir die Griechen in etwas Vorbild sind, so ist das nicht Architektur oder Kunst, sondern das Drama und die Agora. Ich bewundere bis heute eine Zivilisation, die eigentlich aus dem Nichts kam. Wo man einerseits im Theater unlösbare Probleme vorgesetzt bekommt und auf der anderen Seite in der Akropolis in der Agora, dem zentralen Versammlungsplatz, die Fähigkeit erwirbt, diese unlösbaren Probleme zu diskutieren. Der Anfang der Demokratie, der Anfang all dessen, was wir heute als Politik bezeichnen, entstand zu jener Zeit in Athen. Wenn ich Bücher auf eine einsame Insel mitnehmen müsste, so würde ich die drei grossen griechischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides für unentbehrlich halten. Sie sind mir die wichtigsten Autoren, mit Shakespeare und Goethe.
«Mit dem Wallis verbinde ich etwas ungemein Intimes»
Und Sie glauben, dass die Schule heute diese klassischen Werte nicht mehr vermittelt?
Die ursprüngliche griechische Bedeutung des Worts «Schule» bedeutet «freie Zeit». Freiheit über das Lebensnotwendige hinaus. Diese ganzheitliche Komponente hat die Schule verloren. Heute ist sie, Humboldt würde sagen, zur reinen Abrichtung geworden. Also zur Qualifikation für einen Job, für eine Karriere und vielleicht für einen «Start-up». Die Kreativität muss der Schule wieder künstlich zugesetzt werden. Ich glaube, wenn man die Griechen, Goethe oder Shakespeare liest, wächst einem die Kreativität von selbst zu. Man hat Vorbilder, die sich einprägen.
Sie bezeichnen den heutigen Umgang mit Griechenland als respektlos.
Die deutsche Kultur gäbe es in zentralen Stücken ohne die griechische gar nicht. Wenigstens in eigener Sache, um jetzt nur von den Deutschen zu sprechen, müssten sie sich daran erinnern, was sie den Griechen verdanken. Dass jetzt alles auf ein ökonomisches Kalkül reduziert wird, ist für mich einfach skandalös.
Ist es aber nicht einfach so, dass Griechenland in den vergangenen Jahren gesündigt hat und jetzt die Zeche bezahlen muss?
Ja, aber von ihren Sünden hat die deutsche Industrie auch hervorragend gelebt. Und jetzt hat man ja nicht die Griechen gerettet, sondern die Banken. Zu den Griechen ist ja nur ein Bruchteil der eigentlichen Hilfe gelangt. So geht das nicht. Das ist nicht Europa.
Sie haben sich immer zu Europa bekannt. Müssen wir uns aber in der heutigen Zeit nicht von der Idee Europa verabschieden?
Das können wir gar nicht, ob wir es wollen oder nicht. Wir sind mit Fleisch und Blut Europäer. Sogar die Basis unserer Diskussion und unseres Streits identifiziert uns als Europäer. Für mich ist Europa die Umgangsform mit der Verschiedenheit und dem anderen. Und auch wenn viele Schweizer es nicht gern hören: Die Schweiz im 19. Jahrhundert ist ein Modell für Europa. Sie hat sich zusammengerauft im kleinen Bürgerkrieg, obwohl sie eigentlich keine Einheit ist, und sie lebt die Vielfalt. Genau dies wird jetzt Europa zugemutet.
«Wir sind mit Fleisch und Blut Europäer, ob wir wollen oder nicht»
Ein EU-Beitritt ist für die Schweiz aber zurzeit kein Thema.
Die Schweiz hat eine bequeme Stellung. Sie ist noch nicht existenziell oder ökonomisch bedroht. Sie teilt die Vorteile der Europäischen Union und will ihre Nachteile nicht in Kauf nehmen. Das ist, wie man so schön sagt, pragmatisch. Mir ist das ein bisschen zu wenig, auch für die Schweiz selber, aber ich kann es sehr gut nachfühlen. Die Frage ist jetzt aber nicht, ob die EU an der Schweiz vorbeigeht. Die viel grössere Frage ist, ob die Europäer ihre Chance, die sich nach 1945 auftat, nicht im Begriff sind zu verspielen.
An welche Chance denken Sie?
Europa hat nach 1945 erstmals praktische Konsequenzen aus einer mörderischen Geschichte gezogen. Für mich ist die europäische Einigung immer noch das grosse Friedensprojekt. Wir sollten es zu schätzen wissen, was da erreicht wurde. 1989 konnte man sich der Illusion hingeben, wir seien ans Ende der Geschichte angelangt. Seither wurden wir eines anderen belehrt. Wir sehen, wie unglaublich bedroht die Errungenschaften der Zivilisation nicht nur in Europa, sondern überall sind, weil die Ressourcen auf dieser Welt begrenzt sind. Wir müssen lernen, knapp gewordene Güter zu teilen, ohne uns totzuschlagen.
Stichwort Brexit. Wie kommentieren Sie die jüngsten Ereignisse in Grossbritannien?
Ich fürchte, es könnte in vielen europäischen Ländern etwas Ähnliches passieren. Wir haben fast überall einen etwa gleich hohen Anteil an renationalisierten Patrioten, die das Gefühl haben, ohne Europa geht es besser. Die Renationalisierung Englands ist ein reines Phantom, wie die Rückkehr zum Imperium. Sie haben sich am meisten selbst geschadet. Das ist traurig, und wenn sie es merken, ist es leider nicht so, dass sie sich zur Vernunft bekehren. Die Radikalität wird zunehmen.
Fühlen sich nicht viele Bürger von der politischen Elite entfremdet und im Stich gelassen? Wird nicht an den Nöten des kleinen Mannes vorbeipolitisiert?
Das glaube ich. Es hat auch damit zu tun, dass man das Volk in seiner eigenen Sache nicht genügend befragt hat. Das gilt für alle Ebenen, auch der EU. Natürlich kann man argumentieren, wenn die EU-Gewaltigen vieles wie etwa den Euro nicht als «Fait accompli» eingeführt hätten, dann hätten wir diesen Boden der Gemeinsamkeit nicht. Aber dass er nicht tragfähig ist, ohne dass diese Gemeinsamkeit auch in Form von Einvernehmen hergestellt ist, das zeigt sich jetzt auch. Europa hätte ein sehr viel demokratischeres Projekt sein müssen, als es geworden ist. Wenn man allerdings bei den sogenannten «kleinen Leuten» genauer hinschaut, dann sind das zum grössten Teil Verlierer des Fortschritts. Das sind Leute, die aus Gründen, die mit Europa nichts zu tun haben, zu Verlierern geworden sind. Das hat vielmehr mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun, mit der Öffnung der Schere von Reich und Arm auf der ganzen Welt.
«Die Briten haben sich mit dem Brexit am meisten selbst geschadet»
Wie sieht Ihr Ausblick in die Zukunft aus?
Überspitzt formuliert geht es wieder in Richtung National-Bindestrich-Sozialismus, wenn wir das alte, schreckliche Wort in seine Bestandteile zerlegen. Die Kernlehre der Faschisten war: «Unsere Nation ist etwas ganz Besonderes und sie ist implizit besser als die anderen. Entsprechend sind wir innerhalb unseres Volkes auch sozial.» Man denke etwa an die «Kraft durch Freude-Bewegung» der Nazis. Dieses Rezept spüren wir in verschiedenen Ausprägungen heute wieder: Reaktion auf die Globalisierung und Reaktion zurück zum Nationalen. Das sind die Totengräber eines europäischen Bündnisses.
Das klingt sehr pessimistisch…
Das ist es auch. Um anekdotisch einen gewissen Lichtblick reinzubringen, was ich an der Europameisterschaft so schön gefunden habe: Die Menschen lernen ein Spiel höher schätzen als die eigene Mannschaft. Wenn man einen Zwerg wie Island über England siegen sieht, so hat das nichts mit England und Island als Nation zu tun, sondern im Grunde mit der alten Märchengeschichte, dass der Dümmling sein Glück macht. Derjenige, der klein und schwach ist und nichts versteht, gewinnt am Ende die Prinzessin. Das sind so Mechanismen, welche die Börse nicht versteht. Ein Beweis dagegen, dass der Markt immer automatisch die Besten bevorzugt. Das sind wunderbare Dinge. Es hat mit einer Substanz zu tun, welche tiefer liegt als die schlichte ökonomische Logik. Auch die Kunst arbeitet mit dieser Substanz, mit den Widersprüchen, mit den Dilemmata und mit den Ironien. Einer der Gründe, warum ich hier sitze, ist, weil ich auch das Literaturfestival hier in Leukerbad als eine wunderbare Spielgemeinschaft auf Zeit empfinde. Mit Leuten, die Literatur auch lieben, über Literatur zu diskutieren, das ist eine Befreiung.
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