Frontal-Interview | 30 Jahre Kita Ringelreija in Brig-Glis
«Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder hat nachgelassen»
Vor dreissig Jahren gründete Claudia Volken die Kindertagesstätte (Kita) «Ringelreija» in Brig. Ein Interview über die Kinder von heute, den Nutzen der Kitas für die Gesellschaft und Ansprüche der Eltern.
Claudia Volken, im Jahr 1987 gründeten Sie in Brig mit der «Ringelreija» die erste Kindertagesstätte im Oberwallis. Überwiegt zum 30. Geburtstag die Freude über das Geschaffte oder die Erkenntnis, dass es noch viel zu tun gibt?
Ganz klar die Freude. Der Betrieb ist gut aufgestellt und wächst weiter. Da darf man sich schon freuen. Mit dem zweiten Teil Ihrer Frage sprechen Sie die Akzeptanz der Kitas in der Gesellschaft an. Auch hier besteht für mich zum 30. Geburtstag durchaus Anlass zur Freude, wenn man bedenkt, wie sich der Rückhalt der Kitas in Politik und Bevölkerung seit den 1980er-Jahren verbessert hat. Das Wichtigste für mich zum Jubiläum ist, dass die Kinder und die Eltern mit uns zufrieden sind.
Blicken wir auf die Anfänge der «Ringelreija» zurück. Wie kamen Sie dazu, Ende der 1980er in Brig eine Kita zu eröffnen?
Ich war gerade dabei, meine Ausbildung als Erzieherin zu beenden. Im Oberwallis gab es wie gesagt noch keine Kita. Meine Lehrer ermunterten mich daher, doch auch im Oberwallis ein solches Angebot ins Leben zu rufen. Die Idee gefiel mir sehr gut, schliesslich wollte ich immer als Kleinkinderzieherin arbeiten, das war mein Traumjob. Ein Jahr nach Beendigung meiner Ausbildung setzte ich die Idee dann in die Tat um und gründete in der alten Abwartswohnung des Primarschulhauses Brig die erste Kita in der Region.
Wie kam dieses Angebot damals an?
Eigentlich sehr gut, muss ich sagen. Die Stadtgemeinde unterstützte mich von Beginn an, indem sie mir die Wohnung zur Verfügung stellte. Ich veranstaltete mehrere Informationsabende, die gut besucht waren. Natürlich wurden damals viel weniger Kinder von mir betreut als heute. Fünf bis zehn Kinder kamen pro Tag in die Kita, ich war die einzige Betreuerin. Schon nach etwa anderthalb Jahren war die «Ringelreija» so weit gewachsen, dass ich bei der Stadtgemeinde um weitere Unterstützung bitten musste. Weil der Stadtrat aber keine Privatperson unterstützen konnte, wurde der Trägerverein gegründet, der bis heute existiert. Kritik gab es damals kaum. Das lag wohl daran, dass die Kitas noch nicht als ein Politikum angesehen wurden. Diejenigen, die sich dafür interessierten, kamen; diejenigen die keinen Bedarf hatten, ignorierten uns.
Heute werden in der «Ringelreija» 450 Kinder pro Woche betreut.
Ja, das ist so. Wir bieten 130 Betreuungsplätze mit acht verschiedenen Angeboten an. Die Zahl der betreuten Kinder ist eigentlich die grösste Veränderung, die ich in den letzten 30 Jahren erlebt habe. Die Tatsache, dass viele Frauen mehr und mehr in Teilzeit arbeiten gehen, hat natürlich massgeblich dazu beigetragen, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen dermassen gestiegen ist. Am Anfang wurde das Angebot vor allem von ausländischen Frauen in Anspruch genommen, die darauf angewiesen waren, weil sie arbeiten gehen mussten. Heute sieht das anders aus.
Und wie?
Heute wird unser Angebot von Frauen beziehungsweise Familien aus sämtlichen Gesellschaftsschichten genutzt. Besonders zugenommen hat in den letzten fünf bis zehn Jahren die Nachfrage von Familien, in denen beide Elternteile eine gute Ausbildung haben. Die Frauen aus solchen Familien setzten für die Geburt ihrer Kinder zunehmend weniger lang im Berufsleben aus. Entsprechend hoch ist der Bedarf an unseren Betreuungsangeboten. Was auch stark geändert hat, ist das Verhalten der Männer.
Inwiefern?
Früher wurden die Kinder fast ausschliesslich von den Frauen zu uns gebracht. Heute haben wir fast genauso viel mit den Vätern zu tun wie mit den Müttern. Das finde ich eine sehr positive Entwicklung.
Haben sich auch die Kinder verändert?
Kinder sind nach wie vor Kinder. Dennoch gibt es schon Veränderungen. Zum Beispiel ist es schwieriger geworden, ein Kind über eine längere Zeit für etwas zu begeistern. Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder hat nachgelassen, denke ich. Auch die Feinmotorik der Kleinen war früher besser. Auf der anderen Seite erlebe ich die Kinder von heute als aufgeschlossener, kontaktfreudiger und mutiger als früher, auch als vielseitiger interessiert. Das ist sicher positiv.
Was denken Sie, in welche Richtung geht die Entwicklung der Kitas in den kommenden zehn Jahren? Genügt das jetzige Angebot den Bedürfnissen oder müssen Sie weiter ausbauen?
Die «Ringelreija» hat heute drei Standorte, an denen 450 Kinder zwischen drei Monaten und zwölf Jahren betreut werden. Wir haben 47 Mitarbeiterinnen in 32 Vollzeitstellen. Ich denke, dass wir damit vorerst einmal das Bedürfnis der Bevölkerung abdecken können. Denkbar wäre die Schaffung von zehn weiteren Betreuungsplätzen für 30 Kinder. Auch beim Mittagstisch wird der Bedarf wohl noch etwas ansteigen, was vor allem der früheren Einschulung der Kinder mit vier Jahren geschuldet ist. Auf der anderen Seite brauchen wir dadurch weniger Plätze in den Spielgruppen. De facto bleibt der Bedarf mehr oder weniger stabil, lediglich die Ansprüche an das Angebot ändern ein wenig.
Eine lange Warteliste existiert bei Ihnen also nicht, wie man es von Kitas in den Städten kennt?
Die Krippe ist für das kommende Jahr ausgebucht, in der Babygruppe gibt es noch ein paar wenige Plätze. Dennoch haben wir keine lange Warteliste. Das liegt nicht zuletzt daran, dass auch in anderen Gemeinden im Oberwallis in den letzten Jahren das Betreuungsangebot ausgebaut wurde.
«Überall steigen die Preise, auch bei uns»
Die Eröffnung der Kita in Bitsch hat so beispielsweise jene in Naters entlastet, was wiederum Druck von uns genommen hat. Wäre das Betreuungsangebot nicht im gesamten Oberwallis ausgebaut worden, wäre die Situation sicher eine andere.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie im Arbeitsalltag am meisten zu kämpfen?
Wir haben 130 Plätze, betreuen pro Woche 450 Kinder. Die grösste Herausforderung für uns ist, diese Plätze so aufzuteilen, dass sie den Bedürfnissen der Eltern gerecht werden. Das heisst, vielleicht hat man am Mittwoch noch Plätze frei, die Familie braucht jedoch einen am Donnerstag, da die Frau an diesem Tag arbeiten geht. Das Angebot so zu organisieren, dass es den Bedürfnissen der Kunden entspricht, ist das Schwierigste, schliesslich kann die Kita ja nicht vorschreiben, wann jemand arbeiten zu gehen hat.
Die Kunden sind die Eltern. Wie anspruchsvoll sind diese, was das Angebot der Kita betrifft?
Selbstverständlich werden Ansprüche an uns gestellt, was die Betreuung und die Versorgung der Kinder betrifft. Den Eltern ist besonders wichtig, dass sich ihr Kind bei uns wohl fühlt. Das ist natürlich legitim, schliesslich bezahlen die Eltern, je nach Einkommen, zwischen 35 und 100 Franken am Tag für unseren Service. Das bedeutet für uns, dass wir die Eltern stark einbeziehen und zum Beispiel auch Elterngespräche durchführen. Die Anforderungen der Eltern sind sicher gestiegen, aber das ist in Ordnung. Wir stellen ja auch in allen anderen Bereichen immer höhere Ansprüche an erbrachte Dienstleistungen.
Was ist Ihnen bei Ihrer täglichen Arbeit am wichtigsten?
Dass wir auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen.
Was heisst das konkret?
Das fängt bereits bei der Eingewöhnung des Kindes an. Es ist nicht so, dass, wenn ein Kind neu zu uns kommt, es einfach bei uns abgegeben wird und es dann heisst: «Macht mal!» So läuft das nicht. Das Kind wird langsam an die Kita herangeführt. Das heisst, zuerst findet ein Gespräch statt mit der Leitung und der Gruppenleiterin. Dann wird der Aufenthalt in der Kita schrittweise immer mehr ausgebaut. Bei Kleinkindern dauert diese Phase drei Wochen. Zentral dabei ist, dass vor allem die ganz kleinen Kinder immer mit der gleichen Bezugsperson zu tun haben. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Eltern Vertrauen aufbauen, denn dann fassen auch die Kinder Vertrauen zu uns. Zudem mildert diese Vorgehensweise auch etwaige Trennungsschmerzen bei Eltern wie Kindern. Auf der anderen Seite gibt uns diese Eingewöhnungsphase die Möglichkeit, das Kind und seine Bedürfnisse kennenzulernen, denn wie gesagt ist uns das Eingehen auf diese besonders wichtig.
Ihr Einsatz für die Kinder ist sehr gross, die Gehälter in den Kitas dagegen nicht, heisst es. Auch hört man immer wieder, dass in Kitas gerne auf «billige» Praktikantinnen zurückgegriffen wird, die aber keine Aussicht auf eine Lehrstelle haben. Ist das so?
Dieses Problem existiert tatsächlich. Die Anziehungskraft, die unser Beruf auf junge Frauen ausübt, ist nach wie vor sehr hoch. Entsprechend bewerben sich viele für eine Lehrstelle. Wir halten es so, dass wir nur so viele Praktikantinnen einstellen, wie wir nachher auch eine Lehrstelle anbieten können. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass wir in gewissem Masse auf Praktikantinnen zurückgreifen müssen. Würden wir das nicht tun und nur ausgebildete Erzieherinnen einsetzen, würden die Kosten explodieren. Dennoch müssen wir darauf achten, dass unsere Arbeit auch über den Lohn wertgeschätzt wird. Nur weil ein grosses Interesse am Job besteht, darf es keinen Lohnzerfall geben.
Stichwort Kosten, billig ist ein Kitaplatz schon heute nicht. Wird die externe Betreuung der Kinder in Zukunft noch teurer?
Überall steigen die Preise, auch bei uns. Alle drei Jahre nehmen wir daher eine Preisanpassung vor. Überlegungen, wie wir unsere Betriebe kosteneffizient führen können, gehören zum täglichen Geschäft. Ich muss aber dazu sagen, dass die Tarife im Oberwallis sich nach wie vor im landesweiten Vergleich im guten Mittelfeld bewegen.
Trotz der Elternbeiträge sind Sie auf Mittel des Kantons und der Gemeinde angewiesen. Rechnet sich Ihrer Meinung nach eine Kita für die Gesellschaft?
Auf jeden Fall, und das gleich zweifach. Nehmen wir jene Leute, die den Spitzensatz bezahlen. Das müssen sie ja, weil sie eben gut verdienen. Entsprechend bezahlen sie auch eine Menge Steuern. Doch auch bei den niedrigen Tarifen hat die Gesellschaft etwas von den Kitas. Oftmals werden die niedrigen Tarife von Leuten bezahlt, die auf Sozialhilfe angewiesen wären, gäbe es die Kita nicht. Die Kita ermöglicht es ihnen, arbeiten zu gehen und sich von der Sozialhilfe zu lösen. In beiden Fällen stellt sich die Frage sicher nicht, ob sich eine Kindertagesstätte für die Gesellschaft rechnet.
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