Einsiedeln | Frontalinterview mit Pater Martin Werlen

«Die Kirche verabschiedet sich von den Menschen, nicht umgekehrt»

Pater Martin Werlen.
1/2

Pater Martin Werlen.
Foto: RZ

Pater Martin Werlen.
2/2

Pater Martin Werlen.
Foto: RZ

Quelle: RZ 1

In seinem neuen Buch «Zu spät.» geht Martin Werlen mit der katholischen Kirche hart ins Gericht. Zu lange habe sie an Verstaubtem festgehalten, zu weit habe sie sich von den Menschen entfernt. «Zu spät» heisst aber nicht zwangsläufig verloren.

Pater Martin Werlen, am gestrigen Aschermittwoch begann die Fastenzeit. Was bedeutet diese für Sie?
Ich benütze das typisch deutsche Wort «Fastenzeit» praktisch nie. In anderen Sprachen spricht man von den heiligen 40 Tagen, was mir persönlich viel besser gefällt. In diesen Tagen bereiten wir uns besonders auf die Begegnung mit Gott vor. Das Fasten ist nur ein kleiner Aspekt davon. Es ist eine Zeit, in der die Sehnsucht trainiert wird. Eine Zeit, in der man sich dem stellt, was ist. Das möchte ich ja auch in meinem neuen Buch: sich der Situation der Kirche stellen wie sie ist und darin Gott suchen.

Ihr vorletztes Buch stellten Sie im Bahnhofbuffet Zürich vor. Anfang Februar präsentierten Sie Ihr neues Buch «Zu spät.» im Brockenhaus Altstetten – sehr spezielle Orte für eine Buchvernissage.
Mir ist wichtig, dass ein neues Buch in einer Umgebung vorgestellt wird, die zu seinem Thema passt. Die Atmosphäre, die ein Raum ausstrahlt, soll die Botschaft des Buchs unterstützen. In einem Brockenhaus beispielsweise stehen viele Sachen, die «zu spät» sind, die nicht mehr gebraucht werden. Das Brockenhaus «Arche» in Altstetten schafft Lebens- und Arbeitsraum für Menschen in schwierigen Situationen. Zu seinen Angestellten zählen Behinderte, Flüchtlinge, Menschen mit Suchtproblemen oder psychischen Erkrankungen. Menschen also, die sonst nirgends unterkommen und von unserer Gesellschaft als «zu spät» eingestuft werden.

Ihr Verleger Manuel Herder hatte mit dem Titel «Zu spät.» Mühe.
Ja, er fand ihn zu stark, zu drastisch. Er wollte ihn unbedingt noch durch einen Untertitel ergänzt haben. Ich habe schliesslich nachgegeben – mit einer Ergänzung. Mit dem Untertitel «Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle» kann ich jetzt gut leben.

«Zu spät», so schreiben Sie in Ihrem Buch, ist es auch für die Kirche. Für die ist der Zug abgefahren. Dies aber nicht etwa, weil sich die Menschen von der Kirche verabschiedet haben, sondern weil sich die Kirche ständig von den Menschen verabschiedet. Eine ziemlich deftige Aussage.
Ja. Das Buch soll auch deftig sein. Es ist kein Buch zum Einschlafen. Es soll Menschen wecken für eine Situation, die da ist. Was interessant ist: Die Erfahrung des «Zuspätkommens» kommt in praktisch allen wichtigen Erzählungen der Bibel vor. Etwa als Lazarus starb, sagte dessen Schwester zu Jesus: «Wärst du hier gewesen, so wäre er nicht gestorben.» Oder Karfreitag: Wenn Jesus am Kreuz stirbt, dann ist es zu spät.

Wer ist dafür verantwortlich, dass die Kirche wie Sie schreiben «zu spät» ist?
Leute, die in den vergangenen Jahren immer wieder dazu beigetragen haben, dass es in der Kirche ruhig ist. Aber: In einer Kirche, die lebt, kann es nicht ruhig sein. Deshalb gilt die Widmung meines Buchs all jenen Menschen, die die Kirche nicht in Ruhe lassen.

Sie provozieren gerne…
Alle in der Kirche sollten provozieren. Sehen wir uns doch das Wort genauer an. Pro heisst «für» und vocatio bedeutet «Berufung» – also die Berufung hervorlocken. Unter provozieren verstehe ich: Man versucht etwas, das in Ruhe ist, in Bewegung zu bringen, damit es lebendig wird. Darin sehe ich die Aufgabe eines Seelsorgers: Wenn jemand zu mir kommt, bei dem alles zusammengebrochen ist, so versuche ich denjenigen wieder aufzurichten. Auch Jesus sprach ja: Kommt alle zu mir, die ihr überbürdet seid. Ich will euch auf­atmen lassen. Das ist eine Provoka­tion, die Berufung wieder lebendig werden lässt.

«Ich hoffe, mein Buch ist ein Weckruf»

Sie machen eine Unterscheidung zwischen Tradition und Traditionen…
Tradition ist etwas sehr Lebendiges. Sie gehört wesentlich zur Kirche. Tradition ist letztlich Treue zu Jesus Christus, durch den Wandel aller Zeiten. Traditionen hingegen sind immer Konkretisierungen in einer bestimmten Zeit. Diese müssen immer wieder geändert und angepasst werden, damit man treu zu Jesus bleiben kann. Leute, die Traditionen mit Tradition verwechseln nennen wir Traditionalisten. Diese halten Traditionen, die man verändern kann, für unveränderbar und blockieren damit alles.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Traditionalisten wollen, dass der Gottesdienst in der Kirche auf Lateinisch gefeiert wird. Aber: Die lateinische Sprache ist nicht die Tradition der Kirche, sondern eine der Traditionen. Die lateinische Sprache kam in die Kirche, weil damals im vierten Jahrhundert die meisten Gläubigen lateinischer Muttersprache waren. Deshalb gab Papst Damasus dem heiligen Hieronymus den Auftrag, die Bibel ins Lateinische zu übersetzen. Warum? Damit die Menschen sie verstehen. Tradition ist also nicht die lateinische Sprache. Tradition ist, dass die Menschen das Wort Gottes verstehen. Indem wir zwischen Tradition und Traditionen unterscheiden, erhalten wir einen Schlüssel zur Lösung vieler Probleme und Streitfragen in der Kirche. Das würde ziemlich viel Bewegung in die Kirche bringen.

Auch in der Frage der Frauenordination, also der Priesterweihe für Frauen?
Ich bin je länger je mehr davon überzeugt: Die Ausschliessung der Frauen vom Priesteramt ist nicht Tradition, die man nicht verändern kann, sondern eine der Traditionen, geprägt vom Patriarchalismus, der auch in der Kirche starke Spuren hinterlässt.

Papst Franziskus bringt frischen Wind in die römisch-katholische Kirche. Sein Reformkurs wird aber doch auch harsch kritisiert.
Das ist eine lautstarke, aber sehr kleine Gruppe. Eine Gruppe, die wünscht, dass wieder Ruhe herrscht und es in der Kirche wieder wird wie früher. Das ist keine Hoffnung, die eine Zukunft hat. Das ist eine Hoffnung, die zurückschaut. Für mich ist dies ein Ausdruck von Angst und mangelndem Glauben.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die Schweizer Bischofskonferenz…
Ein Beispiel: Im letzten April wurde der Bischof von Chur 75 Jahre alt. Viele Menschen haben auf den Moment gewartet, dass es zu einem Wechsel kommt. Dann kam von Rom die Mitteilung: Die Amtszeit wird um zwei Jahre verlängert. Die Medienmitteilung der Bischofskonferenz beinhaltete nur einen einzigen Satz: Wir haben die Entscheidung erfahren und natürlich respektieren wir sie. Wenn ich diesen Satz lese, so merke ich: Die Bischofskonferenz kümmert sich nur um sich selbst. Was mich erschreckt: Keine Zeile an die vielen Tausend Menschen, die im Bistum Chur einen Wechsel herbeisehnen, kein Wort der Ermutigung, kein Versuch, all diese Menschen aufzufangen. Diese werden von der Bischofskonferenz überhaupt nicht erwähnt. Das ist eine Ohrfeige für alle, die sich in der Kirche engagieren und auf einen Aufbruch hoffen. Dies ist für mich leider ein typisches Beispiel – von höchster Stelle – dafür: Es ist nicht so, dass sich die Menschen von der Kirche verabschieden, die Kirche verabschiedet sich von den Menschen. Die Bischofskonferenz ist in dieser Situation offensichtlich nur mit sich selbst beschäftigt. Meine versuchte Intervention bei der nächsten Sitzung der Bischofskonferenz in Einsiedeln, dass man dies nicht so stehen lassen kann, war erfolglos.

Hans Küng, einem streitbaren Schweizer Theologe, den Sie im Buch auch erwähnen, wurde ja seinerzeit die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Haben Sie keine Bedenken, dass auch Sie einmal gemassregelt werden?
Dann wäre es ja plötzlich nicht mehr ruhig. Genau das möchte ich: Dass es nicht mehr ruhig ist. Ich möchte dazu beitragen, dass die Kirche lebt. Aber zurück zur Frage. Vor Sanktionen habe ich keine Angst. Dazu gibt es auch keinen Grund.

Was erhoffen Sie, mit Ihrem Buch zu bewirken?
Hoffnung wecken. Ich hoffe, mein Buch ist ein Weckruf – auch für die Schweizer Bischofskonferenz. Anstatt im letzten Moment noch krampfhaft die paar wenigen kirchentreuen Gläubigen bei Laune zu halten oder althergebrachte Traditionen zu retten, gründet die Zukunft einer lebendigen Kirche in einem Neuanfang. Für einen glaubenden Menschen bedeutet zu spät nicht das Ende. Im Gegenteil: Die Erkenntnis, dass es zu spät ist, schafft Raum und Zeit, sich für einen neuen Aufbruch zu sammeln. Eine Neuorientierung bedeutet Luft holen, neue Hoffnung schöpfen, aufbrechen und alte Traditionen ablegen, um die Tradition am Leben zu erhalten.

Was hat das Buch für Reaktionen provoziert?
Sehr gefreut hat mich ein Statement von Andreas Kapp, eine der grossen geistlichen Persönlichkeiten im deutschsprachigen Raum: «Ein sehr persönliches Zeugnis der Hoffnung, dass trotz der dramatischen Verzögerung im kirchlichen Betriebsablauf Gott nie zu spät kommt.»

Frank O. Salzgeber

Artikel

Infos

Zur Person

Vorname Martin
Name Werlen
Geburtsdatum 28 März 1962
Funktion Mönch
Hobbies lesen, Musik hören, diskutieren, laufen

Nachgehakt

Die Kirche braucht ein neues vatikanisches Konzil. Nein
In 50 Jahren gibt es auch in der katholischen Kirche Priesterinnen. Ja
Ich würde mich auch in der reformierten Kirche wohl fühlen. Joker
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

Artikel

Kommentare

  • Erwin Gasser, Zürich - 41

    Ich danke Herrn Martin Werlen für die klaren Worte. Wenn man gelegentlich den Gottesdienst besucht, stellt man fest, dass die jungen Leute in der Kirche fehlen. Im Weiteren bedauere ich, dass man den Frauen in der kath. Kirche nicht die nötige Wertschätzung und selsorgerische Kompetenz einräumt, denn ohne das grosse Engagement der Frauen, müsste man alle Kirchentüren schliessen. Sobald das Buch "Zu spät" im Handel angebogen wird, werde ich es kaufen.
    Erwin Gasser

Kommentar

schreiben

Loggen Sie sich ein, um Kommentare schreiben zu können.

zum Login

Sitemap

Impressum

MENGIS GRUPPE

Pomonastrasse 12
3930 Visp
Tel. +41 (0)27 948 30 30
Fax. +41 (0)27 948 30 31