Brig-Glis | Frontalinterview
«Die heutige Jugend ist keinesfalls sozial abgestumpft»
Christian Bayard ist Schulsozialarbeiter an der OS Brig-Glis und der Primarschule Glis. Ein Interview über das Lösen von Konflikten, Herausforderungen von Schülern und wo die Grenzen der Schulsozialarbeit liegen.
Christian Bayard, im Wort Schulsozialarbeit steckt das Wort Sozialarbeit. Haben Sie nur mit Sozialfällen im schulischen Umfeld zu tun?
Mit Sozialarbeit werden in der Tat oft Menschen mit Problemen in Verbindung gebracht. Die Sozialarbeit im Allgemeinen und wir Schulsozialarbeiter sehen uns aber etwas anders. Bei uns geht es darum, persönliche und soziale Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und zu stärken. Wir bieten zudem für Eltern mit Unsicherheiten und Fragen im Umgang mit ihren Kindern eine Anlaufstelle an und pflegen mit Lehrpersonen einen fachlichen Austausch in Bezug auf die Selbst- und Sozialkompetenz von Schülerinnen und Schülern. Aber es ist klar, wir sind teilweise mit dem Vorurteil konfrontiert, wir hätten es nur mit Problemstellungen zu tun. Dem versuchen wir entgegenzuwirken.
In diesem Fall: Was macht ein Schulsozialarbeiter konkret?
Wir sind eine Fachstelle der Kinder- und Jugendhilfe, das heisst, wir arbeiten direkt im Schulhaus. Sind aber nicht direkt Teil der Schule, sondern an das Sozialmedizinische Zentrum Oberwallis angegliedert und arbeiten für die Gemeinden im Sinne der von den Kommunen wahrgenommenen bürgernahen Aufgaben. Wir sind eine Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrpersonen, wenn es Fragen oder Herausforderungen im nicht schulischen Umfeld gibt. Zudem sind wir auch präventiv tätig. Wir veranstalten beispielsweise Workshops, in denen wir Wissen zu Themen wie beispielsweise dem richtigen Umgang mit sozialen Medien vermitteln.
Also doch hauptsächlich Konfliktlöser.
Nicht ausschliesslich. Erstens basiert unsere Arbeit auf Freiwilligkeit. Wenn jemand, sei es Schüler, eine Lehrperson oder auch Eltern, unsere Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen möchte, so akzeptieren wir dies. Zweitens sehen wir uns als Förderer und Berater. Das bedeutet: Wir gehen nicht hin und sagen: «Ihr macht das jetzt so». Vielmehr versuchen wir, die Akteure bei dem, was sie für sich erarbeiten möchten, zu unterstützen und dass sie zukünftig selbst Lösungen finden können.
Das tönt sehr theoretisch. Geben Sie doch ein Beispiel.
Da ist zum Beispiel ein Kind in einer Klasse, das gemobbt wird. Diese Situation kann man angehen, indem man beispielsweise ein Unterstützerteam in der Klasse installiert. Mit diesen «Helfern» erarbeiten wir, wie sie diesem Kind in kritischen Situationen beistehen können. So kann das gemobbte Kind lernen, neue Rollen in der Klasse zu finden. Gleichzeitig installieren wir in dem Unterstützerteam auch Kinder, die für das Mobbing mitverantwortlich sind. Durch ihre neue Rolle werden sie in die Pflicht genommen und entwickeln im besten Fall die Kompetenz, die Konsequenzen ihres Handelns für das Opfer zu erkennen und dadurch neue Verhaltensmuster zu erlernen.
«Konflikte zwischen Eltern und Lehrer sind für Kinder irritierend»
Konflikte im schulischen Umfeld gibt es aber nicht nur zwischen den Schülerinnen und Schülern. Was tun Sie, wenn ein Kind im Elternhaus Probleme hat?
Das Gleiche. Wir versuchen auf die Eltern zuzugehen und mit ihnen zu erarbeiten, wie sie die Fragen und Herausforderungen mit ihrem Kind lösen und künftig neue Wege finden.
Reagieren die Eltern nicht genervt, wenn Sie sich in ihre Privatangelegenheiten einmischen?
Ein paar wenige sicher. Und da unsere Arbeit auf Freiwilligkeit basiert, müssen wir uns dann zurückziehen. Das ist manchmal ein bisschen frustrierend. Der grosse Teil steht unserem Angebot sehr offen gegenüber und nimmt es in Anspruch, so lange, wie man es für nötig hält.
Aber sind es nicht genau diese Familien, die Sie nicht im Haus haben möchten, in denen Sie eigentlich am dringendsten gebraucht würden?
Sie sprechen sogenannte Gefährdungssituationen an, wie Missbrauchs- oder Misshandlungsfälle. Wenn ein Offizialdelikt vorliegt, so geben wir den Fall von Gesetzes wegen sowieso an die Staatsanwaltschaft oder beim Verdacht auf Gefährdungssituationen an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde weiter. Wir dürfen uns auch glücklich schätzen, in solchen Situationen mit anderen Fachstellen zusammenarbeiten zu dürfen. Aber das sind die wirklichen Härtefälle. Unsere Kompetenzen liegen eher bei nicht so gravierenden Konfliktsituationen.
In welchen Konfliktsituationen stecken Kinder und Jugendliche denn heutzutage am meisten?
Vieles ist gleich wie früher auch. Kinder und Jugendliche wollen von Mitschülern und ihren Bezugspersonen akzeptiert und respektiert werden. Sie wollen aktiv Einfluss auf ihre Leben nehmen. Sie wünschen sich ein besseres Selbstbewusstsein, sehen sich mit Motivationsschwierigkeiten in der Schule oder mit Konfliktsituationen zu Hause konfrontiert. Neu ist dagegen natürlich alles, was mit den sozialen Medien und dem Internet zusammenhängt. Und wir stellen fest, dass Kinder und Jugendliche zunehmend mit Situationen zu kämpfen haben, die sie überfordern, was dann zu Konflikten mit den Eltern und/oder der Schule führt.
«Scheitern ist verboten, denn man hat ja gefördert»
Überforderung? Aber die Förderung und Unterstützung für junge Menschen ist doch so gut wie noch nie?
Irgendwie ist das genau die Ursache des Problems. Ständig werden die Schülerinnen und Schüler gefördert. Daraus resultiert aber auch eine hohe Erwartungshaltung. Scheitern ist verboten, denn es wurde ja gefördert. Wenn ich sehe, dass ein Kind in der dritten Klasse aus Angst zu versagen nicht mehr zur Schule gehen will, dann läuten bei mir alle Alarmglocken. Wir Schulsozialarbeiter setzen uns zusammen mit Lehrpersonen darum dafür ein, dem Kind, aber auch dem Umfeld zu erklären, dass auch ein Scheitern in einem schulischen Bereich kein Weltuntergang ist und dass trotz aller Förderung nicht alle Ziele erreicht werden können. Oft ist es so, dass wir viele der Konflikte lösen können, indem wir Eltern und Kindern ein gewisses Mass an Gelassenheit zurückgeben, wenn einmal etwas nicht auf Anhieb klappt.
Wer überfordert denn die Kinder und Jugendlichen? Eltern oder Schule?
Die Schule ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und unsere Gesellschaft verlangt nach Leistung. Somit würde ich eher sagen, es ist unsere momentane gesellschaftliche Entwicklung. Leistungen und Erfolge sind schon in frühster Kindheit von enormer Bedeutung, da man sich ja sonst etwas «verbauen» könnte. Die Lehrpersonen sind da besonders gefordert. Sie sollen sich an den Maximen der Gesellschaft orientieren, sehen aber, dass das eigentlich nicht immer möglich ist. Hier bin ich oft in meiner Tätigkeit als Schulsozialarbeiter beeindruckt von der Art, wie kreativ und mit welch grossem Engagement dies Lehrpersonen angehen. Gleiches gilt natürlich auch für die Eltern. Ich erlebe viele Eltern, die ihre Kinder tatkräftig unterstützen. Manchmal kann es dann aber auch passieren, dass dies für Kinder zu Situationen der ständigen Überforderung führt. Wenn ich sehe, dass sich in manchen Familien 80 Prozent der gemeinsamen Gespräche um Schulthemen drehen, muss man sagen, dass hier etwas nicht stimmt. Wir Schulsozialarbeiter versuchen dann diese Situation zu entschärfen, indem wir die Erwachsenen dazu anhalten, dem Kind mehr Entscheidungsfreiheit darüber zu geben, was es wie tun möchte.
Schützen Sie damit nicht das Kind vor einer Realität, in die es unweigerlich irgendwann hineingeworfen wird?
Nein. Es geht nicht darum, die Kinder vor den Anforderungen der Welt zu schützen, das wäre falsch. Ich denke aber, wir fahren besser, wenn wir den Kindern gewisse Kompetenzen in sie betreffenden Dingen zugestehen. Kinder und Jugendliche sind heute viel selbstbewusster als früher, eine Erziehung von oben herab funktioniert darum nicht mehr. Versucht man es als Eltern dennoch so, so sind die Probleme meistens vorprogrammiert. Zudem würden sich die Eltern selbst entlasten, wenn sie ihren Kindern mehr Verantwortung gewähren würden. Denn je grösser die Kontrolle der Eltern über das Leben des Kindes ist, desto mehr ist das Scheitern des Kindes auch ein Versagen der Eltern. Die Überforderung der Kinder und Jugendlichen kann aber noch zu anderen Schwierigkeiten führen.
Die da wären?
Beispielsweise zu Belastungen auf der Eltern-Lehrpersonen-Beziehung. Es ist irritierend für Kinder, wenn Konfliktsituationen zwischen Eltern und Lehrpersonen offen vor dem Kind ausgetragen werden. Das Kind sucht nach Orientierung, versteht dann aber nicht mehr, wo es sich wie zu orientieren hat. Eigentlich ist es völlig normal, dass es manchmal zu solchen Konfliktsituationen kommt. Wichtig scheint mir hier aber, dass dieser Konflikt auf der Erwachsenen-Ebene angegangen wird und Lösungsvorschläge mit dem Kind im Anschluss besprochen werden.
Sind denn eher Mädchen oder Jungen von solchen Problemsituationen betroffen?
Was die Häufigkeit betrifft, hält es sich die Waage. Die Art des Konflikts variiert teilweise. Zum Beispiel mobben Jungs eher mit körperlichen Aktionen, während Mädchen dies subtiler, beispielsweise im Internet, tun. Auch kann ich nicht sagen, dass die Probleme zunehmen, je älter die Kinder werden. Mobbingsituationen kommen schon im Kindergarten vor. Wir versuchen daher möglichst früh aktiv zu werden. Löst sich ein Problem schon früh, erspart man sich später einiges an Ärger. Wir können auch nicht sagen, dass hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund mit Problemen zu kämpfen haben.
Macht die Jugend von heute generell mehr Probleme als die von früher?
Nein, im Gegenteil. Die Statistiken zeigen, dass die heutige Jugend weniger zu Gewalt greift und beispielsweise auch weniger Suchtmittel konsumiert. Die heutige Jugend ist keinesfalls sozial abgestumpft und gleichgültig gegenüber dem Leben, wie es ihr heute oft vorgeworfen wird. Was ich sehr erfreulich finde, ist, dass Kinder und Jugendliche heute zunehmend den Mut finden, sich bei Herausforderungen Hilfe zu organisieren. Das macht mich eigentlich zu einem Fan der heutigen Jugend und ich finde, dass wir Erwachsenen davon etwas lernen können.
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