Frontal | Tillmann Luther, reformierter Pfarrer
«Die Armee ist für mich wie eine unfreiwillige Berufung»
Vor 18 Jahren ist der reformierte Pfarrer Tillmann Luther (58) aus Oberfranken ins Wallis gekommen. Wie er zum Namen Luther kam und warum ihm die Armeeseelsorge am Herzen liegt, lesen Sie auf den folgenden Zeilen.
Herr Pfarrer, die Fasnacht ist vorbei. Haben Sie sich auch unters Narrenvolk gemischt?
Ich bin das ganze Jahr über Narr. Wie der Apostel Paulus sagt, wir sind alle Narren um Christi willen. Da ich in der zweiten Februarhälfte immer Ferien habe, war ich während der Fasnacht nicht da. Aber ich werde im Nachgang am nächsten Sonntag eine Predigt halten zum Thema «Besiege deinen Drachen». Und da werde ich immerhin den Drachenausbruch in der Einleitung erwähnen. Der Walliser Drache bricht ja aus und dann wird er wieder eingesperrt. Aber es gibt so Drachen im Leben wie «Ich kann nichts und ich bin nichts». Über diesen Drachen möchte ich sprechen.
Jetzt stehen wir in der Fastenzeit. Was bedeutet Fasten für Sie?
Obwohl das Fasten in der reformierten Kirche nicht Pflicht oder Aufgabe ist, machen es viele. Sei es jetzt geistig oder körperlich. Da ich wenig Alkohol trinke, regelmässig Sport treibe und auch nicht rauche, nehme ich mir vor, weniger Süssigkeiten zu essen. Es gibt auch wichtige Sachen zur Besinnung: zum Beispiel die Leute weniger kritisieren. Ein Kritikfasten oder ein Vorurteilsfasten fordert einen genauso wie das körperliche Fasten.
Sie sind in Coburg im deutschen Oberfranken aufgewachsen und vor 18 Jahren ins Wallis gekommen. Was hat Sie hierher verschlagen?
Meine vorherige Gemeinde war in der Pfalz. Dort habe ich mich ganz glücklich gefühlt. Da kam ein Kurpfarrer von Zermatt und hat mir gesagt, im Oberwallis sei eine Stelle frei. Eigentlich wollte ich gar nicht weg. Aber ich wurde im wörtlichen Sinne von diesem Kanton verfolgt. Als ich den Fernseher eingeschaltet habe, kam ein Bericht über die Rettungsflieger im Wallis. Ein paar Tage später las ich in der Zeitung etwas über Walliser Raclettekäse. Und dann gehe ich zum Kühlschrank, heute sage ich ja Frigor, also ich mache den Kühlschrank auf, hole mir eine Toblerone zur Nervenberuhigung heraus – und was sehe ich auf der Verpackung: «ds Hore». Da dachte ich mir, also jetzt reichts, jetzt rufe ich da unten mal an. Es hat sich ein freundlicher Herr gemeldet und ich habe meine Unterlagen geschickt. Schliesslich bin ich nach Visp gekommen, bin durchs Dorf gelaufen, da kam mir eine junge Frau entgegen und sagte kurz nach ein Uhr mittags ganz freundlich zu mir: «Güetun Abund.» Ich war völlig perplex und dachte mir: Wo bin ich denn hier gelandet? Sie müssen wissen, in meiner vorherigen Gemeinde sagte man bis zwölf Uhr mittags «Guten Morgen», da bleibt ja nur noch eine Stunde Zeit für «Guten Tag» (lacht herzlich). Das war meine erste Begegnung im Wallis. Inzwischen bin ich seit 18 Jahren hier und liess mich sogar einbürgern.
Wie erleben Sie die Walliserinnen und Walliser?
Sehr positiv. Auch wenn man sich nicht kennt, grüsst man einander auf der Strasse. Das ist ein Stück Lebensqualität und hat mich sehr beeindruckt. Der Walliser ist bodenständig und sehr traditionell, weiss um seine Wurzeln, auch von seiner Sprache her, die ich persönlich als schönsten Dialekt der Schweiz empfinde. Gleichzeitig ist der Walliser auch offen und neugierig für Neues. Das finde ich sehr spannend. Mir gefallen die Menschen hier, die Landschaft und meine Aufgabe.
Was nur wenige wissen, Ihr eigentlicher Name ist Tillmann Geyer – warum haben Sie den Namen des berühmten Reformators Luther angenommen?
Geyer ist sozusagen mein «Mädchenname». Nach meiner Ausbildung zum Vikar bin ich nach Kaiserslautern gezogen, wo ich meine pädagogische Ausbildung gemacht habe. Da lauerten mir die Schüler immer hinter einem Gebüsch auf und riefen «gra, gra». Das war ganz furchtbar für mich. Da dachte ich mir, wenn ich mal heiraten sollte, nehme ich den Namen meiner Frau an. Egal ob die Adler, Bussard oder Habicht heisst (lacht). Als ich meine Frau kennenlernte, sagte sie mir, dass sie mit Nachnamen Luther heisst. Das ist in etwa genauso, wie wenn ein Physiker eine Frau heiratet, die Einstein heisst.
Was verbindet Sie mit dem Reformator Martin Luther?
Viele Dinge. In Coburg, in meinem Geburtsort, gibt es ein Luther-Zimmer. Seine Bibelübersetzung finde ich grossartig, und auch den Auftrag, selbst in der Bibel nachzuforschen und sich nicht auf andere oder auf Autoritäten verlassen zu können. Das war auch die Entdeckung von Martin Luther. Dass man nicht andere vorschickt, sondern dass man selbst vor Gott steht. Das ist wichtig.
Sie sind nicht nur ein zugänglicher Mensch, sondern auch ein begnadeter Redner. 2013 wurden Sie sogar Europameister in Stegreifrede. Was hat es damit auf sich?
Stegreifreden heisst reden ohne Vorbereitung. Ich war früher ein sehr schlechter Redner und habe alles abgelesen. Darum habe ich mir gesagt, ich muss was dagegen tun. Über die Jahre hinweg habe ich Literatur studiert und experimentiert, wie ich freier sprechen kann. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich mit anderen Menschen zusammentun muss. Schliesslich habe ich mit Studenten in Bern einen eigenen Rhetorikklub gegründet, habe an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen und die Europameisterschaft gewonnen.
Wie wichtig ist die Rhetorik in der Kirche oder auf der Kanzel?
Unser Alltag besteht aus Stegreifreden und Rhetorik. Das ist auf der Kanzel nicht anders. Stegreifreden bringt mich in der Kirche und in meinem Alltag voran. Ich war früher viel mehr introvertiert, und durch die Rhetorik bin ich viel offener geworden. Ich lasse die Leute in der Kirche auch mal eine Frage beantworten und beziehe sie in den Gedankenprozess mit ein. Wenn jemand merkt, dass er in die Predigt miteinbezogen wird, dann hört er auch ganz anders zu.
Würden mehr Leute den Gottesdienst besuchen, wenn es weniger langweilige Predigten gäbe?
Ja, das denke ich schon. Wichtig ist, dass man sich als Redner und Pfarrer verletzlich zeigt. Das ist echt und authentisch. Das spüren die Leute auch sofort. Dabei ist auch die Planung einer Predigt nicht unwesentlich. Ich bereite meine Predigten immer lange im Voraus. Qualität heisst gute Vorbereitung. Wer viel predigt und redet, muss den Menschen gut zuhören können. Was beschäftigt sie, was wollen sie, was haben sie für Herzensanliegen? Dann wird es immer besser.
Einst war der Herr Pfarrer die unangefochtene Autorität in der Gemeinde. Heute verliert der Pfarrerberuf an Kraft. Wie erleben Sie das im Alltag?
Früher wurde der Pfarrer durch das Amt getragen. Als Pfarrer und Autorität im Dorf. Heute wird das hinterfragt. Es ist zwar schwieriger für den Pfarrer geworden, aber zugleich auch schöner. Die Leute trauen sich heute mehr, ihre Meinung zu sagen. Ich lobe immer die Leute, die mir mit offenem Visier entgegenkommen und ihre Meinung ins Gesicht sagen. Dann kann man sich darüber unterhalten.
Der Volkskirche rennt das Volk davon. Stellen Sie das auch in der reformierten Pfarrgemeinde Visp fest?
Wir leben hier im Wallis auch in der katholischen Kirche in glänzenden Verhältnissen. Weil wir keine direkte Kirchensteuer haben, gibt es nur ganz wenige Kirchenaustritte. Davon abgesehen, muss man schauen, dass man immer neue Angebote schafft. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass bei uns weniger Leute in der Kirche sind. Im Gegenteil: Es werden sogar mehr. Ich muss als Pfarrer mit dem Kirchgemeinderatsteam etwas anbieten und gleichzeitig Vorschläge aus der Gemeinde aufnehmen.
Mit 55 Jahren haben sie freiwillig die Rekrutenschule gemacht und wurden Armeeseelsorger. Was gab den Anstoss dazu?
Es war so was wie eine unfreiwillige Berufung. Nachdem man mich in Deutschland nicht haben wollte – ich bin mit meinem Hebräisch-Buch unter dem Arm zur Musterung gegangen – habe ich mich sozusagen für die Schweizer Armee aufgespart (lacht). Nach meiner Einbürgerung habe ich mich zum Armeedienst gemeldet und die Rekrutenschule gemacht. Natürlich gab es Momente – wenn ich morgens um vier Uhr aufgestanden bin, «Blaatern» an den Füssen hatte oder herumkommandiert wurde –, wo ich mich gefragt habe, was ich mir antue. Aber es war sehr wichtig, damit ich mich einfühlen konnte, was die Rekruten mitmachen. Ich konnte dabei viel lernen über die Armee und kann für eine Altersgruppe da sein, die in der Kirche nicht viel anzutreffen ist. Dann ist die Armeeseelsorge ökumenisch. Da wird nicht sortiert nach Glaubensrichtungen, sondern nur nach Sprache. Da ist das Militär viel weiter als die Zivilgesellschaft. Auch die Indikation hat viel gebracht. Ein Grossteil der Armeeangehörigen hat seine Wurzeln ausserhalb der Schweiz und will dem Land dienen. Das finde ich sehr spannend.
Sie wirken das ganze Jahr über als Armeeseelsorger. Mit welchen Anliegen kommen die Armeeangehörigen zu Ihnen?
Es gibt Gewissensprobleme, persönliche Probleme – mit den Eltern, der Freundin, mit Drogen – und auch die eigene Lebensgeschichte, die die Leute mitbringen. Sicher gibt es auch Gespräche, wo jemand einfach nur eine Auskunft haben will. Aber es gibt auch Probleme, wo ich alles liegen und stehen lasse und in die Kaserne fahre, um mit den betroffenen Personen zu reden. Es ist eine spannende und befriedigende Aufgabe.
Sie wollen in nächster Zeit ein Buch schreiben. Wie das?
Ich würde gerne ein Buch über Optimismus schreiben. Bei allen Problemen, die wir haben – die will ich auch gar nicht wegreden –, geht es uns sehr gut. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten. Wir leben wie im Vorparadies. Dazu gehört, dass wir frei wählen können. Ich wurde in Deutschland nie gefragt, ob ich in der EU sein will, ob ich den Euro haben will oder einer EU-Verfassung zustimme. Ich finde das so wertvoll, dass man hier seine Meinung einbringen kann. Das treibt mich immer wieder an. Ich bin ein Optimist und stehe dafür ein, positiv zu denken. Darüber möchte ich in meinem Buch schreiben.
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