Frontalinterview | Pfarrer Jean-Pierre Brunner

«Das Natischer Pfarrhaus ist ein Zuhause für Flüchtlinge»

Jean-Pierre Brunner.
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Quelle: RZ 4

Vor einem Jahr quartierte er drei Flüchtlinge aus der Ukraine im Natischer Pfarrhaus ein. Jetzt leben drei junge Frauen aus Eritrea in der Wohnung. Pfarrer Jean-Pierre Brunner über seine Erfahrungen mit Flüchtlingen und die Kritik von aussen.

Jean-Pierre Brunner, vor einem Jahr haben Sie drei ukrainische Flüchtlinge im Natischer Pfarrhaus aufgenommen. Die drei Lazarev-Brüder sind inzwischen weggezogen. Wie haben Sie die Zeit mit ihnen erlebt?
Es war eine sehr spannende Zeit, vor allem auch deshalb, weil ich sonst ganz allein in diesem grossen Haus lebe. Wir haben uns gut miteinander arrangiert. So kam es vor, dass es nach Mitternacht, als ich noch am Arbeiten war, an meiner Tür klopfte und sie mir ein Stück Pizza oder selbst gemachten ukrainischen Kuchen vorbeibrachten. Weniger schön war es, wenn ich morgens um vier Uhr durch lautes Geschrei geweckt wurde, weil sie noch am Computerspielen waren.

Und sonst? Hatten Sie nie Schwierigkeiten im Umgang mit den drei Männern?
Nein, wir hatten es wirklich gut miteinander. Ich wollte sie ein bisschen verwöhnen und ihnen gelegentlich etwas kaufen. Aber das war praktisch unmöglich. Sie sagten mir immer wieder: «Wir sind keine Bettler, wir sind Flüchtlinge.» So wollte ich ihnen vor dem Winter anständige Winterschuhe kaufen. Das haben sie abgelehnt. Stattdessen haben sie selber billige Schuhe gekauft, die ihnen zu gross waren. Um das zu kaschieren, haben sie zwei, drei Paar Strümpfe angezogen. Es gab auch viele lustige Momente. So haben sie mich eines Tages darauf angesprochen, warum ich keine Frau hätte? Als ich ihnen antwortete, ich sei ein katholischer Priester, tippte mir der mittlere der drei Brüder auf die Schulter und sagte: «Wir sollen organisieren für dich? Wir kennen Frauen.» Da habe ich dankend abgelehnt (lacht).

Inzwischen wurden die drei Männer wieder in die Ukraine abgeschoben. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?
Sie sind wieder bei ihrer Familie in Mariopol und leben mit ihren drei jüngeren Geschwistern und ihren Eltern in einer Zweizimmerwohnung. Täglich hören sie Bomben und Gewehrsalven. Arbeit haben sie leider noch keine gefunden. Wir haben noch Mailkontakt. Erst vor drei Wochen hat mir der älteste der drei Brüder geschrieben: «Wir missen Naters. Ist schönster Platz auf Erden. Wir werden einmal besuchen mit Geschenken.»

Gerüchten zufolge wurden Sie von den drei Brüdern übers Ohr gehauen...
Bei ihrer Ausreise haben sie die Duvets und die Bettwäsche mitgenommen. Allerdings in guter Absicht – schliesslich hatten sie davon nichts in der Ukraine. Sie hätten ja zwar fragen können. Aber wahrscheinlich haben sie meine gute Seite kennengelernt und gedacht: «Där güät Piffl gid isch das sowieso.»

«Wir sind keine Bettler – wir sind Flüchtlinge»

Ihre Aktion hat nicht nur positive Reaktionen ausgelöst. Hat Sie das in Ihrem Entscheid bestärkt, wieder Flüchtlinge aufzunehmen?
Teilweise schon. Wenn man ein Zeichen setzt, sollte man dazu auch stehen. Ich habe die jungen Männer aus der Ukraine ein halbes Jahr lang beherbergt. Das ist sehr kurz. Dass ich jetzt die Wohnung anderen Flüchtlingen zur Verfügung stelle, ist irgendwie nur logisch. Ich will damit auch kein politisches Statement abgeben, sondern nur die leer stehende Wohnung zur Verfügung stellen und damit ein christliches Zeichen setzen. Ich höre immer wieder den Vorwurf, die Pfarrei sollte auch Einheimische unterstützen, die Hilfe brauchen. Dazu kann ich nur sagen, dass die Pfarrei allen Hilfsbedürftigen offensteht. Dazu gehören selbstverständlich auch Einheimische. Wenn wir Flüchtlingen helfen, heisst das nicht, dass man bedürftige Natischer nicht auch unterstützt.

Wird das Pfarrhaus in Naters jetzt ein Durchgangszentrum für Flüchtlinge?
Ich würde es anders formulieren. Es ist kein Durchgangszentrum, sondern ein Zuhause für Flüchtlinge.

Seit sechs Monaten leben drei junge Eritreerinnen im Pfarrhaus. Wie erleben Sie die Frauen aus dem Nordosten Afrikas?
Die drei Brüder aus der Ukraine hatten keinen sozialen Kontakt und waren auf sich allein gestellt. Demgegenüber haben die Frauen aus Eritrea ein grosses Umfeld mit ihresgleichen. Darum haben sie auch viel Besuch. So kann es durchaus mal vorkommen, dass ich heimkomme und im Hauseingang stehen zwei «Poussettes». Dieser Anblick in einem Pfarrhaus ist natürlich gewöhnungsbedürftig (lacht). Genauso wie der Geruch bei der Essenszubereitung. Das ist schon sehr speziell und für europäische Nasen nicht immer angenehm. Zudem ist es schwierig, sich zu unterhalten, weil die Frauen nur ihre Muttersprache sprechen. Da bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Händen und Füssen zu verständigen.

Nicht nur was die Sprache angeht, kommt es zu Missverständnissen. Auch beim Saubermachen haben die Frauen für einigen Wirbel gesorgt...
In der Tat. Als sie den Boden sauber machen wollten, haben sie den Wassereimer ausgeleert. Weil das Pfarrhaus aus dem 15. Jahrhundert ist, ist das Wasser durch die Decke in meine Wohnung getropft. Im ersten Moment dachte ich an einen Wasserrohrbruch. Die Eritreerinnen waren ganz überrascht, dass bei uns anders geputzt wird, und haben sich inzwischen angepasst.

«Im Pfarrhauseingang stehen auch mal zwei ‹Poussettes›»

Kommen Ihre neuen Untermieter auch zu Ihnen in die Messe?
Nein. Das hat aber weniger mit der Konfession der drei Frauen zu tun als mit der Sprache. Sie sind zwar Christinnen und haben viele Heiligenbilder in der Wohnung, aber sie verstehen unsere Sprache nicht. Darum besuchen sie auch nicht den Gottesdienst.

Wir stehen im Totenmonat November, gedenken der Verstorbenen und setzen uns in diesen Tagen auch vermehrt mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander. Merken Sie einen grösseren Zulauf in der Kirche?
In Naters kann ich mich das ganze Jahr hindurch über die Mitfeier an den Messen nicht beklagen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir eine grosse Gemeinde sind und eine relativ kleine Kirche haben. Aber es ist schon so: An Allerheiligen und Allerseelen besuchen im ganzen Oberwallis mehr Gläubige die Gottesdienste und Friedhöfe. In diesem Zusammenhang muss ich aber erwähnen, dass die Glaubenspraxis nicht allein mit dem Besuch der Gottesdienste zu tun hat, sondern mit der Umsetzung unseres Glaubens im Alltag. Dazu gehört die Beherbergung von Fremden genauso, wie ein offenes Ohr unseren Mitmenschen gegenüber zu haben.

Viele Menschen suchen auch sogenannte Medien auf, um Kontakt mit den Verstorbenen aufzunehmen. Wie stehen Sie dazu?
Bei diesem Thema bin ich hin und her gerissen. In meinen Augen und in der Tradition der Kirche sind die Verstorbenen nicht weit weg, sondern mit uns verbunden. Wir glauben, dass sie bei Gott sind, und weil Gott überall ist, sind sie auch hier bei uns. Wenn man ein Medium aufsucht, um mit einem Verstorbenen Kontakt aufzunehmen, will man Gewissheit bekommen. Das steht im Widerspruch zu unserer kirchlichen Tradition, die sagt, ich glaube, dass es den Verstorbenen gut geht. Dafür brauche ich keinen Beweis. Ich persönlich sehe zudem die Gefahr, dass man regelmässig den Kontakt zu einem Medium sucht und persönliche Entscheide sozusagen abgibt, statt selber herauszufinden, was zu tun und zu lassen ist. In diesem Zusammenhang darf man sich auch die Frage stellen, welche Medien wirklich eine göttliche Begabung haben und inwiefern Scharlatanerei betrieben wird. Ob jemand gehörig abkassiert, statt seine Fähigkeit gratis zur Verfügung zu stellen, trennt hier in meinen Augen die Spreu vom Weizen.

«Religiös ist heute fast schon ein Schimpfwort»

Mit anderen Worten, Sie schliessen nicht aus, dass es Menschen gibt, die eine Verbindung zum Jenseits herstellen können?
Das gibt es, davon bin ich überzeugt. Auch der Totenkult im Wallis mit unseren Geschichten von den armen Seelen erzählt davon. Früher hat man immer davon gesprochen, dass die sogenannten «Tämper-chinder», das heisst Personen, die in den vier Quatemberwochen geboren werden, sensitiver für ihre Umwelt sind und einen besseren Zugang zur geistigen Welt haben. Ich glaube, die Begabung haben wir eigentlich alle, aber wir haben verlernt, dafür offen zu sein.

Was früher im Verborgenen geschah und mit Skepsis beäugt wurde, darüber wird heute offener berichtet. Wie erklären Sie sich diesen «Trend» hin zum Spirituellen?
Die Menschen sind heute weniger konfessionsgebunden als auch schon. Religiös ist heute fast schon ein Schimpfwort, wohingegen spirituell ein Modewort ist. Wer spirituell veranlagt ist, will sich oft nicht an die Kirche oder an eine Konfession binden, sondern sucht seinen Kontakt zum Göttlichen privat. Das Bekenntnis zu einem persönlichen Gott, der uns in eine Gemeinschaft ruft und als sein Gegenüber will, geht verloren. Religion hat aber mit Verbindung zu tun, das heisst, zuerst steht die Gemeinschaft im Vordergrund und nicht die Frage, was es mir bringt. Das merkt man auch am Totenkult. Die Bestattungen werden immer mehr privatisiert und die Gemeinschaft kann nicht teilnehmen an der Trauer oder sie mittragen.

Kann und will die katholische Kirche hier Gegensteuer geben?
Wir wollen keine Gegensteuer geben, sondern mit gutem Beispiel vorangehen und die positiven Eigenschaften von Gemeinschaft hervorheben. Das spüren wir vor allem jetzt im Allerseelenmonat, weil die Leute miteinander beten, Angehörigen und Freunden auf dem Friedhof begegnen und spüren, dass sie nicht allein gelassen werden. Ich für meinen Teil will auch mit gutem Beispiel vorangehen. Darum stelle ich die leer stehende Wohnung im Pfarrhaus Flüchtlingen zur Verfügung. Gelebter Glaube ist das beste Mittel, Gegensteuer zu geben.

Walter Bellwald

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Infos

Zur Person

Vorname Jean-Pierre
Name Brunner
Geburtsdatum 5. März 1970
Beruf Pfarrer
Hobbies Pfarrei, mehr liegt nicht drin

Nachgehakt

Ich würde mir gerne mal die Karten legen lassen. Nein
Die Oberwalliserinnen und Oberwalliser machen zu wenig für Flüchtlinge.  Joker
Ich bin zufrieden mit der Mitfeier an den Messen. Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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Kommentare

  • Willi Tell me - 84

    Was denken eigentlich all die (pharisäerhaften) Christen, die jeden Sonntag brav in die Messe pilgern und zwischendurch am Stammtisch etc. gegen Flüchtlinge wettern und schimpfen? Danken sie Gott 50 Minuten dafür, dass bis jetzt nicht mehr Flüchtlinge (kommt von "fliehen") ins Wallis gekommen sind? Offenbar haben wir hier in der Schweiz jedes Gefühl und jeden Sinn für das Leid anderer (Empathie) verloren; eine Zeiterscheinung, die bis jetzt nur jugendlichen Gewalttätern zugeordnet wurde. Dabei kommt dieser Empathie-Mangel auch bei Erwachsenen vor und fast niemand (ausser Kinder) ist dagegen gefeit. Flüchtlinge, die sich renitent oder kriminell verhalten, können immer noch sanktioniert werden. Aber einfach alle Flüchtlinge in den gleichen Topf zu werfen (Schmarotzer, Kriminelle, Drogenhändler etc.) ist zutiefst unchristlich. Wer das nicht begreifen will, soll ab sofort auf Messebesuch etc. verzichten und sich wenigstens konsequent unchristlich verhalten, bitte schön...

  • Zenhäusern - 5252

    Wer setzt sich für mich ein wenn ich mittellos in Eritrea bin und meinen Pass verbrannt habe ?

    • Willi Tell me - 86

      Afrikaner und Südamerikaner sind jedenfalls viel gastfreundlicher als wir. Das kann jeder bestätigen, der diese Kontinente bereist hat und etwas weiter gereist ist als in den Europa-Park oder nach Stresa.....

    • Duscholux - 3117

      Man sollte sich nicht mit den schlechteren messen.

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