Interview | Christelle Rey vom Verein «Gang nit»
«Beim Thema Suizid urteilen und werten viele Menschen vielfach sehr schnell»
Christelle Rey ist die Oberwalliser Koordinatorin des Vereins «Gang nit», der sich um Suizidprävention kümmert. Ein Gespräch über ihre Arbeit und die Möglichkeit zu sensibilisieren.
Christelle Rey, die meisten Medien und auch viele Unternehmen sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, das Thema Suizid zu behandeln, denn man will verhindern, dass es zu Nachahmungstaten kommt. Da Sie diesem Interview zugestimmt haben, scheinen Sie diesbezüglich anderer Meinung zu sein.
Das stimmt, wir von «Gang nit» oder auf Französisch «Pars pas», dem Walliser Verein zur Suizidprävention, teilen diese Meinung nicht, dass man kaum und wenn nur zurückhaltend über das Thema Suizid reden sollte. Suizid war lange ein grosses Tabuthema. Die Zurückhaltung hat zwar etwas abgenommen, dennoch herrscht in der Bevölkerung Unsicherheit, wenn es um diese Thematik geht. Die Mitglieder von «Gang nit» sind der Meinung, dass es wichtig ist, offen und ehrlich über das Thema im Rahmen der Sensibilisierung zu reden. Dazu gehört in erster Linie, dass die Dinge klar benannt und über sie gesprochen wird. Das fängt bereits bei der Wortwahl an. Oft wird das Wort Selbstmord vermieden, dabei handelt es sich genau um die Tatsache, dass ein Mensch sein eigenes Leben selbst beendet hat. So gesehen bezeichnet das Wort Selbstmord die Tat in aller Deutlichkeit. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaft sich des Themas Suizid annehmen muss, denn schliesslich bedeutet jeder Freitod eines Menschen, dass dieser mit den Anforderungen der Gesellschaft an das Leben nicht alleine fertig geworden ist.
Wie meinen Sie das?
Der Druck auf die Menschen ist gewaltig, vor allem der, nahezu perfekt sein zu müssen und alles meistern zu können, beruflich, in der Familie oder in der Gesellschaft. An Menschen werden viele Erwartungen gestellt. Vielen gelingt es nicht, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Sie sind sensibler, als sie es nach aussen zeigen, und einige zerbrechen an diesem Druck, sodass sie den Suizid als einzigen Ausweg sehen.
Im Oberwallis hatte man gerade in den letzten Wochen das Gefühl, dass auffallend viele Menschen den Freitod gewählt haben…
Wie kommen Sie darauf, dass es in letzter Zeit im Oberwallis viele Suizide gegeben hat? Etwa weil man dies aus den Todesanzeigen so interpretiert? Ob es sich bei den Todesursachen der Verstorbenen tatsächlich um einen Suizid gehandelt hat, ist nicht immer so klar, wie wir es aufgrund des Inhalts der Todesanzeigen gerne glauben. Dazu sind Ermittlungen durch die Behörden nötig, und diese können auch eine Zeit lang dauern. Zum Beispiel kann ein Tod durch eine Überdosis Tabletten auch unbeabsichtigt sein. Die Gesellschaft denkt dabei jedoch in erster Linie direkt an einen Suizid. Solche vorschnellen Interpretationen stören mich tatsächlich sehr. Beim Thema Suizid urteilen und werten viele Menschen vielfach sehr schnell, obwohl sie die Hintergründe der Lebenssituation der verstorbenen Person gar nicht kennen. Wichtig wäre diesbezüglich eher, mehr Respekt gegenüber den Betroffenen und deren Angehörigen zu haben, denn der Verlust einer nahestehenden Person ist an und für sich schon Belastung genug.
Kommen wir auf Ihren Verein «Pars pas – Gang nit» zu sprechen. Wie sieht Ihre Arbeit im Bereich der Suizidprävention aus, was leisten Sie?
Diese Frage muss ich nach Kantonsteilen beantworten: «Gang nit» respektive «Pars pas» ist im Unterwallis viel präsenter als im deutschsprachigen Kantonsteil. Im Unterwallis besteht eine Telefonhotline sowie eine Mailhotline, wo sich alle Menschen, die auf irgendeine Art und Weise mit dem Thema Suizid konfrontiert sind oder sich in einer existenziellen Notlage befinden, melden können. Weiter betreiben wir im Unterwallis Suizidprävention an den Schulen, und wir organisieren Gesprächsgruppen für Angehörige, die nahestehende Personen durch Suizid verloren haben. Im Oberwallis hingegen wird lediglich eine Angehörigengruppe geführt. Um eine Telefonhotline beziehungsweise Mailhotline zu führen, fehlen uns leider die personellen wie auch die finanziellen Ressourcen. «Gang nit» denkt jedoch über einen Ausbau des Angebots im Oberwallis nach.
Sprechen wir zunächst über die Hotline, die momentan nur im Unterwallis steht: Gibt es tatsächlich Leute, die kurz bevor sie Suizid begehen wollen, diese anrufen?
Ja, die gibt es. Ich hatte schon einmal eine Person am Telefon, die auf den Gleisen lag und auf den Zug gewartet hat.
Und was sagen Sie den Leuten in solchen Momenten?
Dazu muss ich etwas ausholen, denn es ist wichtig zu verstehen, wie ein Mensch überhaupt so weit kommen kann. Unsere Erfahrung ist es, dass viele Menschen mit Suizidgedanken eigentlich gar nicht sterben wollen. Der Tod stellt für sie lediglich die einzige Möglichkeit dar, einem unvorstellbaren Schmerz zu entkommen. Sie haben das Gefühl, dass nichts auf der Welt diesen Schmerz lindern kann und dass sie nur noch eine Last für ihre Angehörigen oder ihr Umfeld sind. Wenn also eine Person in einer solchen Notsituation anruft, ist es eines unserer Anliegen, ihr etwas Positives in ihrem Leben aufzuzeigen. Das kann schon die Tatsache sein, dass sie sich bei uns meldet und in ihrer schweren Lebenssituation bis jetzt durchgehalten hat. Dann sagen wir: «Hut ab, dass du noch dabei bist. Warum machst du nicht weiter?» Unsere Aufgabe ist es, diesen Leuten zuzuhören, Entlastung zu bieten und ein wenig Luft zu verschaffen. Gemeinsam suchen wir nach dem berühmten Strohhalm. Das gelingt oft erstaunlich gut, denn dadurch, dass wir ausserhalb der Situation stehen und die entsprechende Anonymität bieten können, fällt uns dies viel leichter. So ist es mir gelungen, die Person auf den Gleisen dazu zu bewegen, von ihrem Vorhaben abzulassen.
Sie sagen, die Hotline ist nur für das Unterwallis. Wo sollen sich Menschen im Oberwallis melden, die in einer akuten Lebenskrise stecken?
Im Oberwallis besteht am Psychiatriezentrum Oberwallis PZO ein 24-Stunden-Pikettdienst. Bei akuter Gefahr werden die suizidgefährdeten Menschen jeden Alters, das heisst Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen, jederzeit betreut.
Kommen wir auf die Arbeit von «Pars pas – Gang nit» an den Schulen zu reden: Wie sieht Suizidprävention hier aus?
Wir zeigen den Jugendlichen auf, wie ein Mensch in eine Situation geraten kann, in der ihm ein Suizid als einziger Ausweg erscheint. Das Thema Mobbing spielt dabei ebenfalls eine grosse Rolle. Wir erklären den Jugendlichen, dass Mobbing keine harmlose Sache ist, sondern eine sehr ernste Angelegenheit, die tatsächlich zum Tod eines Menschen führen kann. Auf der anderen Seite versuchen wir den jungen Leuten auch aufzuzeigen, an welchen Signalen sie erkennen, dass ein Klassenkamerad oder eine Klassenkameradin in einer Lebenskrise steckt und/oder sich mit suizidalen Gedanken beschäftigt. Dies können zum Beispiel Rückzug, Verschwiegenheit, mangelnde Körperpflege oder nachlassende schulische Leistungen sein. Dann ermuntern wir die Jugendlichen, die Kolleginnen und Kollegen darauf anzusprechen und sie zu motivieren, mit den Eltern oder mit einer Fachperson, beispielsweise dem Mediator der Schule oder dem Lehrer, Kontakt aufzunehmen. Gleichzeitig versuchen wir zu vermitteln, dass mit diesem Schritt ihre Aufgabe erfüllt ist, denn ein Jugendlicher kann und soll nicht die Probleme des anderen tragen müssen und diese Verantwortung übernehmen.
Sie haben die Anzeichen angesprochen. Ist es denn so leicht zu erkennen, dass jemand suizidale Gedanken hat?
Das kommt auf die Person an. Aber es gibt natürlich viele Leute, die gut verstecken können, wie es in ihnen aussieht. Begeht die Person dann Suizid, ist es dieses Verhalten, das bei den Hinterbliebenen Schuldgefühle oder Wut auslösen kann, weil die Person nichts gesagt oder sich anderweitig mitgeteilt hat, obwohl ein grosses Vertrauensverhältnis bestand.
Ist dieses Gefühl berechtigt?
Es ist verständlich, dass Angehörige diese Gefühle haben. Wir versuchen jedoch, den Hinterbliebenen eine andere Sichtweise aufzuzeigen. Das Verstecken der Suizidgedanken kann auch ein Zeichen sein, dass sie keine Belastung sein wollen. Suizidenten meinen es mit ihrem Versteckspiel nie böse, sie versuchen lediglich die Menschen, die sie lieben, zu schützen. Ich denke auch, dass es nicht richtig ist, Leuten, die sich suizidieren, Egoismus vorzuwerfen. Wer das tut, sollte sich immer folgende Fragen stellen: Was muss im Leben eines Menschen geschehen sein, dass ihm der Tod als einzige Lösung des Leidens erscheint? Wie kann man jemandem Egoismus vorwerfen, der bereit ist, dem ursprünglichsten Trieb des Menschen, jenem zu überleben, zuwiderhandeln, nur damit er seinen Seelenschmerzen entkommen kann?
Der dritte Pfeiler der Arbeit Ihres Vereins sind die Angehörigengruppen. Eine solche gibt es auch im Oberwallis. Was tun Sie in diesen Gruppen?
In moderierten Gruppen bringen wir Leute zusammen, die in ihrem Umfeld eine nahe stehende Person durch Suizid verloren haben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich austauschen, ihre Erfahrungen miteinander teilen und einander beistehen, da sie ein ähnliches Schicksal tragen. Grossen Wert legen wir dabei natürlich darauf, dass es sich um einen geschützten Raum mit entsprechender Anonymität handelt.
Stimmt es, dass diese Gruppen im Unterwallis deutlich mehr Anklang finden als jene in Brig?
Das stimmt. Natürlich gibt es im Oberwallis demografisch bedingt weniger Angehörige von Suizidanten als im französischsprachigen Kantonsteil. Aber ich denke auch, dass es eine Mentalitätsfrage ist.
Was heisst das?
Meiner Erfahrung nach ist die Bereitschaft im Unterwallis, sich nach dem Suizid eines Angehörigen jemandem in einer Gruppe anzuvertrauen, deutlich grösser, als sie es im Oberwallis ist. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen im oberen Kantonsteil lieber allein versuchen, mit ihren Sorgen und Problemen klarzukommen. Vielleicht ist es aber auch eine Frage der Anonymität, und die Leute haben Angst, erkannt zu werden, wenn sie zu solchen Treffen gehen. Aber dies sind nur subjektive Einschätzungen.
Martin Meul
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