Eggerberg | Frontalinterview mit Hans Pfammatter

«Als Blinder fühle ich mich überhaupt nicht behindert»

Hans Pfammatter beim Verlassen des Haus.
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Hans Pfammatter beim Verlassen des Haus.
Foto: RZ

Hans Pfammatter beim Produzieren von Skibürsten.
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Hans Pfammatter beim Produzieren von Skibürsten.
Foto: RZ

Quelle: RZ 0

Hans Pfammatter (70) kann nicht sehen. Dennoch ist er nur bedingt auf Hilfe angewiesen und ist voll in der Gesellschaft integriert. Ein Gespräch über ein Leben in völliger Dunkelheit.

Hans Pfammatter, Sie sind blind. Was nehmen Sie von Ihrem Umfeld wahr?
Ich sehe so wie jemand mit geschlossenen Augen. Das heisst, dass ein Restlicht vorhanden ist. So kann ich feststellen, ob ich mich in einem dunklen oder hellen Raum befinde. Mehr aber nicht.

In dem Fall können Sie Ihr Gegenüber auch nicht erkennen?
Nein. Sie beispielsweise sehe ich nicht, ich kann Sie lediglich hören und mir Ihr Gesicht nur vorstellen.

Dennoch behaupten Sie von sich, trotzdem gut zu sehen. Wie ist das möglich?
Durch meine Erblindung habe ich mir andere Fähigkeiten angeeignet, welche die Augen ersetzen. Das zeigt sich auch dabei, dass ich ganz normal am gesellschaftlichen Leben teilhabe und voll in der Dorfgemeinschaft integriert bin. Zudem wohne ich auch ganz alleine und bin nur bei bestimmten Aufgaben wie bei einer weiten Reise oder Ähnlichem auf Hilfe angewiesen. Weil bei mir andere Sinne wie Riechen oder Schmecken besser entwickelt sind als bei Sehenden, kann damit viel kompensiert werden.

In dem Fall kommen Sie im Alltag ganz gut zurecht?
Ja, absolut. Ich fahre mit dem ÖV ohne fremde Hilfe nach Visp oder Brig. Meine sprechende Uhr gibt mir die Zeit vor und auf bekannten Gehwegen habe ich teils sogar die Schritte gezählt. So weiss ich beispielsweise, wenn ich zum Bahnhof laufen will, dass ich rund 50 Meter von meinem Haus entfernt eine Strasse überqueren muss. Von dort zähle ich zwanzig Schritte, bis ich zu dem Punkt gelange, an dem ich die Strasse überqueren muss, um schliesslich zum Bahnhof zu gelangen. Ich produziere auch jedes Jahr selbstständig Trockenfleisch und Hamma und musiziere leidenschaftlich (spielt Klarinette, Natwärrischpfeife, Posaune, Klavier und singt im Kirchenchor, Anm. Red). Auch mähe ich selbstständig den Rasen und schaufle Schnee. Ich kann Neuschnee riechen. Bei mir zu Hause kenne ich jede Ecke und ertaste mein Umfeld. Dadurch kenne ich mittlerweile jede einzelne Treppenstufe. Einzig eine Haushaltshilfe kommt gelegentlich vorbei und beim Einkaufen werde ich begleitet. Apropos: Fürs Schneeschaufeln habe ich sogar schon Komplimente erhalten.

Bitte?
Angeblich soll ich gründlicher Schnee schaufeln als manch Sehender. Eine der Pöstlerinnen hat mir das gesagt.

Hatten Sie nie einen Blindenhund?
Nein. Ich habe Angst vor Hunden. Ich vertraue auf meine anderen Sinne und meinen Blindenstock. Ich habe viel lieber eine schöne Frau an meiner Seite (lacht).

Sie waren nicht von Geburt an blind. Was ist passiert?
Ich absolvierte eine Lehre als Tapezierer und Bodenleger und war am Konservatorium in Sitten, wo ich Klarinette spielen lernte. Ich sah zwar nie gut, lebte aber ein ganz normales Leben. Trotzdem wurde mir nahegelegt, wegen dem Umgang mit Maschinen nicht mehr auf meinem angestammten Beruf weiterzuarbeiten. Ich liess mich umschulen und absolvierte den Schnellhandel. Danach arbeitete ich in der Blindenwerkstatt, wo ich im administrativen Bereich tätig war. Zu dem Zeitpunkt konnte ich aber immer noch recht gut sehen und war imstande, ohne fremde Hilfe zu lesen und sämtliche Arbeiten selbstständig zu erledigen.

Dann schlug plötzlich das Schicksal zu…
Mit 32 Jahren musste ich ein Magengeschwür operieren. Wegen der Narkose bin ich innerhalb von zwei Jahren erblindet. Dazu muss man aber sagen, dass meine Familie immer schon Probleme mit dem Augenlicht hatte. Entsprechend war ich erblich vorbelastet und musste fast damit rechnen, dass es so weit kommt. Von ärztlicher Seite aus wurde die Situation wahrscheinlich etwas unterschätzt.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Am Anfang hatte ich schon Probleme und versuchte mich mit Alkohol zu trösten. Später kamen noch private Schwierigkeiten hinzu. Es waren harte Jahre. Mit der Zeit habe ich es aber angenommen und versucht, das Beste daraus zu machen. Zudem musste ich vieles neu lernen. Da damals das Computerzeitalter begann, habe ich gelernt, damit Zeitung oder aber meine Post zu lesen. Mein Alltag wurde damit erleichtert. Deshalb habe ich auch nie Blindenschrift gelernt. Das Ergebnis ist ja bekannt und ich bin auf wenig fremde Hilfe angewiesen. Ich habe auch ein «sprechendes» Natel. Mittlerweile bin ich so weit gut aufgestellt, dass ich sagen kann, dass ich mich als Blinder überhaupt nicht behindert fühle.

Trotzdem mussten Sie doch zumindest zu Beginn auf gewisse Dinge verzichten?
Ja sicher. Am Anfang konnte ich gewisse Termine nicht mehr wahrnehmen. Beim Tambouren- und Pfeiferverein musste ich aus verständlichen Gründen aufs Marschieren verzichten. Bei stehenden Auftritten und Konzerten bin ich aber nach wie vor dabei.

Sie sollen ja sogar komponieren...
Musik war immer schon ein ganz wichtiger Bestandteil in meinem Leben. Irgendwie half sie mir auch auf eine Art, über mein Schicksal hinwegzukommen. Beim Komponieren spiele ich die Stücke meistens auf dem Klavier und mache dabei Aufnahmen. Ein Bekannter hört diese und schreibt dann die Noten dazu auf.

«Trotz Blindheit mähe ich Rasen und schaufle Schnee»

Ist es leichter, bereits blind geboren zu werden? Man muss sich ja plötzlich an eine neue Situation gewöhnen?
Das glaube ich nicht. Ich bin heute beispielsweise froh zu wissen, wie Farben aussehen. Das ist im Alltag enorm hilfreich.

Beispiel?
Ich habe vor Kurzem an meinem Haus die Balkongeländer ausgetauscht. Ich hatte eine genaue Vorstellung, wie diese aussehen sollten. Ich kann Ihnen versprechen, dass sie jetzt in der Tat so geworden sind, wie ich sie bestellt habe. Während der Montage habe ich mich sogar eingemischt, weil ich beim Tasten festgestellt habe, dass ein Mass nicht stimmte. Zudem war mir bei der Auswahl des Farbtons eine nette Nachbarin behilflich. Zudem besitze ich ein Farberkennungsgerät. Ich kleide mich gerne zeitgemäss und dafür ist dieses unerlässlich. So ziehe ich etwas Grünes und Gelbes gleichzeitig niemals an, obwohl ich ein grosser Anhänger des brasilianischen Fussballnationalteams bin (lacht).

Möchten Sie wissen, wie sich Ihr Umfeld seit Ihrer Erblindung verändert hat?
Ich habe alles, wie es früher war, in bester Erinnerung. In meinem Gedächtnis ist die Zeit dadurch stehen geblieben. Heute weiss ich natürlich nur vom Hörensagen, wie jemand aussieht oder wie sich etwas verändert hat. Von meinem Balkon aus sieht man auf Visp hinunter. So weiss ich noch, dass damals in den Kleegärten fast kein Haus stand. Dass sich das Quartier seither weiterentwickelt hat, steht fest, wie genau aber werde ich nie erfahren. Grundsätzlich ist es für mich aber nicht so wesentlich, wie sich jemand verändert hat. Ich nehme «Veränderung und Schönheit» tatsächlich über andere Werte wie Freundlichkeit oder Zuvorkommenheit wahr.

Kommt man so als Blinder eher mit jemandem ins Gespräch?
Das kann ich nicht beurteilen, weil ich grundsätzlich ein offener Mensch bin und überall mit allen rede.

Nebst der Musik sind Sie noch weiter aktiv. Sie sind sogar schon einmal mit einem Gleitschirm geflogen. Wie wars?
Ein herrliches Gefühl, welches ich auf keinen Fall missen möchte. Auch dieses Beispiel beweist, dass ich trotz Blindheit eigentlich gar keine Einschränkung habe und das Leben in vollen Zügen geniessen kann. Ich erlebe die Dinge einfach anders und nehme sie auf meine Art wahr.

Sie verbringen auch viel Zeit in Ihrer eigenen kleinen Werkstatt und produzieren Skibürsten. Wie kommt das?
Ich war schon immer handwerklich begabt und habe damit eine sinnvolle Beschäftigung gefunden. Die Bürsten sind allseits beliebt und meine Kunden sind verschiedene Skifirmen, welche meine Bürsten schätzen. So kommen sie bei verschiedenen Skifahrern, aber auch Serviceleuten zum Einsatz. Für die Herstellung vertraue ich auf meinen Tastsinn und meine Erfahrung. Pro Jahr komme ich so auf rund 120 Bürsten in verschiedenen Varianten.

Wie nehmen Sie die Stellung von blinden Menschen in der Oberwalliser Gesellschaft wahr?
Ich mache gute Erfahrungen. Die Oberwalliser sind sehr hilfsbereit und spüren gut, ob jemand Hilfe benötigt oder nicht.

Werden Sie gar bemitleidet?
Natürlich kommt es vor, dass ich Leuten leidtue. Aber ich winke ab. Mein Schicksal muss doch niemandem leidtun. Es ist, wie es ist, und ich komme gut klar damit. Einen einzigen Wunsch habe ich allerdings trotzdem: Auch wenn ich sie noch in guter Erinnerung habe, möchte ich noch einmal unsere Natur sehen und richtig geniessen können.

Peter Abgottspon

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Infos

Vorname Hans
Name Pfammatter
Geburtsdatum 14. Januar 1948
Familie geschieden, keine Kinder
Beruf Pensionär
Hobbies Musik, Sport, Kollegen
Ich nehme mehr wahr als viele Sehende. Ja
Ich habe lange mit dem Schicksal gehadert. Nein
Als Blinder komme ich viel eher in ein Gespräch. Ja
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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