Schriftsteller | Geschichte als Faszinosum
Lukas Hartmann wird 75
In seinem weitgespannten Werk hat Lukas Hartmann eine ganz eigene, engagiert-aktuelle Spielart des historischen Romans entwickelt. Der Berner Autor, mit bürgerlichem Namen Hans Rudolf Lehmann, wird am 29. August 75 Jahre alt.
"Sucht begreife ich als Suche nach Geborgenheit, und Geborgenheit bedeutet auch immer Unfreiheit", antwortete der damals 35-jährige Sozialarbeiter und Radioredaktor Hans Rudolf Lehmann, als die "Schweizer Illustrierte" ihn 1979 zum Thema Drogen befragte. Vier Jahre zuvor, als er mit "Madeleine, Martha und Pia" unter dem kämpferischen Pseudonym Hartmann literarisch debütierte, hiess es im Vorwort: "Es gibt keine Möglichkeit, den Opfern unseres Gesellschaftssystems wirksam zu helfen, ohne die Zwänge und Normen zu ändern, die sie scheitern lassen."
Engagement und Blick auf Historisches
Zwar schien er mit Büchern wie "Gebrochenes Eis" (1980) oder "Die Wölfe sind satt" (1993), vor allem aber mit seinen Kinderbüchern die Gesellschaft schreibend verändern zu wollen, aber bereits in der Titelgeschichte des Zweitlings, "Mozart im Hurenhaus", liess Lukas Hartman sich 1976 von dem Bestreben leiten, das sein Markenzeichen werden sollte: die Geschichtlichkeit des Menschen und sein agierendes, opfermässiges oder schuldhaftes Verhältnis zu ihr in verschiedenen Zeiten exemplarisch sichtbar zu machen.
1978, in "Pestalozzis Berg", machte er aus der Schulmeister-Ikone "einen fehlbaren Menschen, der uns Mut machen könnte, ehrlicher, das heisst: anstössiger zu leben".
Und in seiner Berner Romanserie erhellte er 1992 bis 2009 achtmal eine frühere Epoche erzählerisch auf ihre Relevanz für die Gegenwart hin. So stellte "Die Seuche" der Pest des 14. Jahrhunderts die Krankheit AIDS gegenüber, spielte "Die Mohrin" die Themen Fremdenhass und Rassismus mit Bezug auf die vergessene Berner Kolonialpolitik des 18. Jahrhunderts durch; Hartmann reflektierte in "Der Konvoi" die Zeitenwende Erster Weltkrieg ebenso hintergründig wie "Die letzte Nacht der alten Zeit" die von 1798 und "Bis ans Ende der Meere" jene von 1780, als Europa sich mit James Cooks "heldenhafter" Südseeexpedition den fatalen Zugriff auf die Dritte Welt erlaubte, den auch "Die Tochter des Jägers" thematisiert. In "Die Frau im Pelz" wiederum setzte Hartmann sich am Beispiel einer umstrittenen Berner Komplizin mit dem Nationalsozialismus auseinander, dessen Folgen er in "Die Deutsche im Dorf" anhand eines tragischen Missverständnisses aus dem Jahre 1967 nochmals ansprach.
Abschluss und Neuanfang
Als ihm dafür der grosse Berner Literaturpreis zuerkannt wurde, erklärte Hartmann 2010, er wolle "mit der Berner Serie abschliessen und etwas Neues probieren". Aber den in der Gegenwart spielenden Romanen "Finsteres Glück" und "Ein passender Mieter" - in denen die Gefährdung, ja Brüchigkeit heutiger menschlicher Beziehungen vorgeführt wird - fehlen bei allem kriminalistischen Flair die fremdartige Bildkraft und Eindringlichkeit der historischen Romane, die Hartmann schon bald mit Erfolg fortsetzte.
So entstanden "Räuberleben", die Evokation eines Desperados à la Robin Hood und einer Gruppe von "Sans-Papiers" im Jahre 1787; "Abschied von Sansibar", die bewegende Vita einer in Deutschland gelandeten afrikanischen Prinzessin; "Auf beiden Seiten", das eindrückliche Panorama der Wende von 1989; "Das Bild von Lydia", ein tiefgründiges Seelengemälde der in ihrem Emanzipationswillen tragisch gescheiterten Lydia Welti-Escher; und 2019 nun "Der Sänger", das Porträt des 1942, nach der Flucht ins "unbarmherzige Paradies Schweiz", für immer verstummten legendären Tenors Joseph Schmidt.
Es gibt grossartige Figuren in dem weitgespannten Œuvre. Karl Stauffer, den "Kraftprotz mit den sanften Seiten", Niklaus Friedrich von Steiger, den stur-unbelehrbaren letzten Bürgermeister des Alten Bern, die rätselhafte Emily Ruete alias Prinzessin bint Said aus Sansibar, die Berner Mata Hari Carmen Mory. Aber nicht das Spektakuläre einer Figur zieht uns bei Hartmann in ihren Bann. Es sind die Brillanz der Darstellung, die Bildkraft der Schilderung, die psychologische Feinstruktur, die sprachliche Souveränität, die das Lesen zum Erlebnis machen.
Tabuisierung des Privaten
Und Hartmann selbst? Seine Biografie? "Gebrochenes Eis" beleuchtet sein Verhältnis zum Vater, "Auf beiden Seiten" dokumentiert auch das Scheitern eigener 68er-Visionen. Ansonsten aber ist für den Biografen so vieler einprägsamer Gestalten das Private kein Thema. Er mag auch nicht auf seine Ehe mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga angesprochen werden, die, obwohl von der Klatschpresse immer wieder in Frage gestellt, eine verlässliche Dimension in ihren beiden Leben darstellt.
Wer zum Tiefsten, Persönlichsten seines Schreibens gelangen will, sei auf die einfühlsame Art verwiesen, mit der Hartmann die Figuren in ihrer Art zu lieben zeigt: Hanna und Mathis mit ihrer verbotenen Geschwisterliebe in "Die Seuche", den zaghaften Schweizer Füsilier Brüllhart und die Revolutionärin Helena Gogobaridse im "Konvoi", den Maler Webber und die exotische Prinzessin Poetua in "Bis ans Ende der Meere" oder das alternde Paar Margret und Gerhard in "Ein passender Mieter", wo mit Berufung auf den Theologen Karl Barth konstatiert wird, dass das Ende der Liebe der Anfang des Unglücks sei.
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