Interview | Benediktiner-Pater Martin Werlen über Seelsorge und Ostern in diesen besonderen Zeiten
«Wenn nötig, darf ich Gott sogar meine Not ins Gesicht schmettern»
Pater Martin Werlen, inwieweit hat Corona Ihren Kloster-Alltag verändert?
«Selbstverständliches ist plötzlich weg. Beim Gottesdienst und bei den Mahlzeiten halten wir mehr Abstand, der Unterricht geschieht über Internet, wir verlassen das Kloster nicht, bei den Gottesdiensten feiert niemand im Kirchenschiff mit, aber über Internet sind viele Menschen verbunden. Schwierig finde ich das Gefühlsbad zwischen Kreativität und Lähmung.»
Wie gehen Sie damit um?
«Ich bin dankbar, dass wir einen gut strukturierten Tagesablauf haben. Das ist mir und meinen Mitbrüdern eine grosse Hilfe.»
Wie geht die Gesellschaft damit um?
«Ich staune, wie gut die meisten Menschen damit umgehen und miteinander die Zeit gestalten. Es entwickelt sich eine grosse Kreativität, die mich positiv überrascht. Es gibt auch Menschen, die unter dieser Situation sehr leiden. Wie dankbar bin ich für alle, die ein Auge und ein Ohr für sie haben.»
Decken sich die Äusserungen in den Medien mit jenen, die Sie in der Seelsorge erleben?
«Die Medien nehmen meines Erachtens ihre Aufgabe sehr gut wahr. Sie ermutigen mit Berichten über vorbildliches Handeln. Immer wieder stellen sie Menschen in den Mittelpunkt, die in dieser Situation besonders unter die Räder kommen: Kinder und Jugendliche, alte Menschen, Flüchtlinge, Obdachlose, Gefangene.»
Erhalten Sie vermehrt konkrete Hilferufe?
«Persönlich erhalte ich recht viele Anrufe oder E-Mails – manchmal in grösster Verzweiflung. Es ist sehr schwierig, mit der eigenen Ohnmacht in Notsituationen umzugehen.»
Jesuitenpater und ZEN-Meister Niklaus Brantschen nannte die aktuelle Situation eine «Hängepartie par excellence», die «uns aus der Komfortzone locken» könne. Wie schätzen Sie die Lage ein?
«Ich hoffe, dass wir als Einzelne und als Gesellschaft etwas aus diesen Erfahrungen lernen, auch wir als Kirche. Wir können offensichtlich scheinbar Unentbehrliches loslassen. Es gibt Wichtigeres.»
Dass in ungewissen Zeiten vermehrt Ängste und Sorgen aufkommen, ist menschlich. Wie ist das aus religiöser, spiritueller Sicht erklärbar?
«Es ist erklärbar, weil es menschlich ist. Als glaubender Mensch kann ich gerade in dieser Situation Kraft und Hilfe erfahren. Was wir nicht vergessen sollten: Die Erfahrungen, die wir zur Zeit machen, sind Erfahrungen, die für viele Menschen Alltag sind. Ich denke zum Beispiel an Menschen, die in Kriegsgebieten wohnen. Viele von ihnen haben noch nie eine andere Erfahrung gemacht.»
Wie soll man mit diesen (zusätzlichen) Belastungen umgehen?
«Wichtig ist es meiner Erfahrung nach, den Tag gut zu strukturieren. Alles, was zu unserem Leben gehört, soll auch auf diesem engen Raum täglich seinen Platz finden: Alleinsein und Gemeinschaft, Arbeit und Erholung, Mahlzeiten und Feiern. Das persönliche Gebet und das Gebet mit andern ist mir wichtig in meinem Tagesablauf.»
Tiefgläubige Menschen finden im Gebet Kraft und Zuversicht. Aber wie soll jener zu Trost kommen, der jetzt nicht mal auf die Schnelle einen Zugang zu Gott findet?
«Den Zugang zu Gott finden ist nicht eine Frage der Spezialisten. Gott ist nicht dort, wo ich sein müsste oder sein möchte, sondern da, wo ich bin. Hier und jetzt darf ich mit Gott sprechen. Wenn nötig, darf ich ihm sogar meine Not ins Gesicht schmettern.»
Fachleute warnen vor erhöhten innerfamiliären Spannungen durch das engere Zusammenleben in den Haushalten. Was hindert uns daran, in dieser Situation nicht auch emotional näher zusammenrücken?
«Wir brauchen nicht nur das Miteinandersein, sondern auch das Alleinsein. Gerade letzteres kann auf engem Raum schwierig werden. Wir beginnen einander zu nerven. Wir geraten aus dem Häuschen – und ziehen sofort einige mit. Das wird problematisch.»
Wie liesse sich aus seelsorgerischer Sicht daran arbeiten?
«Dass das nicht passiert, darum ist die gemeinsame Strukturierung des Tages wichtig. Glaube ist Leben. Glaube ist nicht ein Spezialprogramm neben dem Alltäglichen. Seelsorge ist ein Ernstnehmen des Menschen in seiner Situation. Welch grosser Schritt ist es, wenn ich mein Leben in all seinen Höhen und Tiefen vor Gott zur Sprache bringen kann!»
Auf der anderen Seite heisst es, das Distanzhalten würde uns näher rücken lassen. Was sind Ihre Wahrnehmungen?
«Es braucht Nähe und Distanz – in jeder Beziehung. Wenn es nur Nähe gibt, werden wir erdrückt, wenn es nur Distanz gibt, verhungern wir. Jetzt sind wir herausgefordert, das auf engem Raum miteinander zu lernen. Dass dabei auch Fehler passieren, soll uns nicht entmutigen.»
Einige sehen die Situation auch als Chance zur Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte des Daseins. Das müsste eigentlich sein…
«… sein dürfen. Zuerst muss ich nicht etwas leisten, zuerst darf ich einfach einmal sein. Das können wir grad dann lernen, wenn wir eine Situation, die wir nicht ändern können, akzeptieren und darin sein dürfen. Mir persönlich ist es eine grosse Hilfe, sein zu dürfen, weil Gott da ist.»
Wir stehen vor Ostern ohne Gottesdienste. Das ist eine für alle völlig neuartige Situation. Wie geht das Kloster Einsiedeln damit um?
«Es gibt kein Ostern ohne Gottesdienste. In vielen Familien werden Gottesdienste gefeiert. Dieses Jahr begehen wohl mehr Menschen Ostern mit einer gottesdienstlichen Feier als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Hoffentlich realisieren wir als Verantwortliche in der Kirche, dass die derzeitige Situation seit Jahrzehnten die Normalsituation für die meisten Getauften ist. Dieses Jahr lernen wir, die Menschen draussen wahrzunehmen und auf sie zuzugehen, zum Beispiel über livestream.»
Wie sollen die Gläubigen damit umgehen?
«Viele Getaufte haben schon lange gelernt, mit dieser Situation umzugehen. Die Verantwortungsträger in der Kirche sind da leider langsamer und manchmal recht unbeholfen. Mich schreckt das prophetische Wort des hl. Oscar Romero (1917-1980) heilsam auf: «Wenn viele Menschen sich bereits von der Kirche entfernt haben, dann ist das darauf zurückzuführen, dass die Kirche sich zu weit von der Menschheit entfernt hat. Eine Kirche, die die Erfahrungen der Menschen als ihre eigenen verspürt, die den Schmerz, die Hoffnung, die Angst aller, die sich freuen oder leiden, am eigenen Leib verspürt, diese Kirche wird zum gegenwärtigen Christus.»
Wie wichtig ist grundsätzlich das Gemeinschaftsgefühl, wie es in der Kirche gelebt wird?
«Oder vielleicht besser: Gelebt werden sollte. Ich habe den Eindruck, dass dieses Gemeinschaftsgefühl in den vergangenen Wochen gewachsen ist, weil wir die gewohnten Strukturen verlassen mussten. Hoffentlich ziehen wir uns nachher nicht wieder ins Schneckenhaus zurück!»
Salopp gesagt, lässt sich auf einen Gottesdienst allenfalls noch verzichten. Was aber ist bei einem sterbenden Menschen? Gehen Sie vorbei, bieten Sie Trost im Gespräch, spenden Sie das Sakrament der Krankensalbung, wenn es gewünscht wird?
«Ich bin nicht in der Pfarrseelsorge engagiert. Meine Seelsorge besteht zur Zeit im Gebet, in Telefongesprächen, im Schreiben. Die Priester in der Pfarrseelsorge müssen diese Zeit im Rahmen der Vorschriften gestalten, die zum Schutz der Menschen erlassen worden sind. Viele Seelsorgende haben eine grosse Kreativität entfaltet.»
Für die Trauernden ist die jetzige Situation ebenfalls sehr schwierig. Zuspruch auf zwei Meter Distanz ist ungewohnt und wirkt kaltherzig. Er ersetzt die stützenden Umarmungen nicht. Haben Sie dafür eine Art Ersatz?
«In dieser Krisenzeit sind wir herausgefordert, neue Weisen der Zärtlichkeit zu erfinden oder vergessene wieder zu entdecken. Ein handgeschriebener Brief bereitet auch heute grosse Freude. Wir dürfen dankbar sein für die modernen Kommunikationsmittel, die uns auch auf Distanz grosse Nähe ermöglichen.»
Immer mehr Trauerfamilien setzen auf eine Kremierung und verschieben den Abschiedsgottesdienst auf einen unbestimmten Zeitpunkt. Ist das vernünftig – oder wird damit die schmerzvolle Zeit der ersten Trauerphase nur verlängert und so zur zusätzlichen Belastung?
«Die Trauer ist immer etwas sehr Persönliches. Welche Gnade, wenn wir uns dafür Zeit lassen können! Hier ist das gemeinsame Gespräch gefordert, um einen Weg zu finden, der von möglichst allen Betroffenen mitgetragen wird.»
Wie werden Sie selber Ostern verbringen?
«Hoffentlich nicht wie immer! «Ungewöhnliches Osterfest im Vatikan» heisst es in einer Kirchenzeitung. Gott sei Dank! Wann immer wir das Osterfest wie gewöhnlich feiern, da ist noch nicht viel angekommen von der Osterbotschaft. Die muss uns jedes Mal regelrecht vom Hocker der Gewohnheit jagen. Ich hoffe und lasse mich überraschen.»
Interview: Thomas Rieder
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