Das grosse Interview | CVP-Präsident Christophe Darbellay zieht nach zehn Jahren Bilanz
«Wer die CVP führt, kann nicht nur befehlen, sondern muss überzeugen»
WALLIS |Christophe Darbellay (45) hinterlässt nach zehn Jahren an der Spitze der CVP Schweiz alles andere als einen amtsmüden Eindruck. Trotzdem gibt er am 23. April das Parteipräsidium ab – und ist bereits voll im Wahlkampf für die Walliser Staatsratswahlen 2017.
Christophe Darbellay, über 20 Prozent der Wohnbevölkerung haben keinen Schweizer Pass. Wie erklären Sie einem Ausländer die CVP?
«Als die schweizerischste Partei. Wir sind die Partei der Lösungen, der ausgewogenen Kompromisse, bürgerlich, wirtschaftsnah, aber mit sozialer und umweltpolitischer Verantwortung. Das ist der Bindestrich der Schweiz, der seine Stammlande hat in den Randregionen und wirtschaftsschwachen Kantonen. Wir stehen für den Zusammenhalt. Ohne Extremlösungen. Wir sind solide und mehrheitsfähig, gewinnen die meisten Volksabstimmungen und die meisten Abstimmungen im Parlament.»
Trotzdem gilt die CVP nicht als besonders «sexy». Warum soll jemand, der sich parteipolitisch engagieren will, zur CVP kommen?
«Weil er dort am meisten bewirken kann. Die CVP übernimmt Verantwortung. Man darf sich politisch total rechts oder links engagieren. Mit straffen, einseitigen Gedanken – oder man will etwas bewirken fürs Land. Im ersten Fall sind wir wahrscheinlich die falsche Adresse. Wir stehen für gute Lösungen im Interesse aller.»
Sie haben die CVP in den letzten zehn Jahren als Präsident massgeblich mitgeprägt. Stimmt das aktuelle Profil der Partei?
«Ja. Die öffentliche Wahrnehmung der CVP stimmt vielleicht nicht ganz. Die CVP ist ganz leicht rechts von der politischen Mitte positioniert. Wir sind eine Mittepartei mit einer gewissen Breite. Das ist unsere Stärke, aber gleichzeitig auch eine gewisse Schwäche.»
Inwiefern?
«Zum Profilieren, zum Positionsbezug braucht es Geschlossenheit. Wir sind breit aufgestellt und es braucht vor allem auf Stufe Bundeshausfraktion eine noch stärkere Geschlossenheit, daran arbeiten wir weiterhin.»
Wie sehen Sie die Entwicklung der Partei während Ihrer Präsidentschaft?
«Wenn man schaut, wer in der CVP heute aktiv mitmacht, sind wir deutlich jünger und kämpferischer geworden. Da hat sich einiges verschoben, auch bezüglich eines stärkeren Engagements und einer höheren Präsenz auf der Strasse. Unsere Leute beziehen pointierter Position. Vorher waren wir wohl etwas träge und zu anständig.»
Inwieweit ist das Ihr Verdienst?
«Solche Entwicklungen sind immer Teamarbeit. Ich war und bin sehr präsent bei den Kantonen. Ich kenne die Menschen an der Basis und im Volk. Insofern war ich sozusagen der ‹first ambassador› der CVP. Vielleicht sind wir in der Diskussion präsenter geworden, auch durch eine klarere Kommunikation. Wir vertreten aber immer Mitte-Positionen, was weniger einfach ist als extreme linke oder rechte Positionen. Finanziell sind wir klar besser aufgestellt als vor zehn Jahren. Aber wir haben niemals die Budgets wie die Konkurrenz.»
…wobei Geld gewiss nicht alles ist.
«Das stimmt. Ohne finanzielle Mittel kann man aber keine Kampagnen machen. Und auch bei den grossen schweizerischen Zeitungen haben wir es nicht einfach. SP, FDP und SVP haben ihre Lautsprecher, wir haben sie nicht. Das ist ein klarer Nachteil. Hätte ich viel Geld, würde ich für die CVP eine dominante Zeitung aufbauen.»
Wie sehen Sie Ihre persönliche Bilanz?
«Die CVP wurde schlagkräftiger, ist heute referendums- und initiativfähig. Das war sie früher nicht. Und wir haben uns verjüngt. Die CVP hatte früher kaum jemand, der vor dem 45. Altersjahr in den Nationalrat gewählt wurde. Bei den vorletzten Wahlen schafften diesen Sprung drei unter 35 und vier unter 40. Weil wir pro Kanton weniger Sitze haben, sind diese von den Jungen entsprechend schwierig zu gewinnen. Es ist uns aber gelungen, Nachwuchskräfte gezielt aufzubauen. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.»
Und was ging daneben?
«Nicht gelungen ist mir, die Mitte zu stärken. Wir haben versucht, mit der BDP eine Union der Mitte zu schaffen. Das wurde leider gebodigt, was ein historischer Fehler der BDP war. Die guten Lösungen kommen nun mal aus der Mitte. Die grosse Schwierigkeit ist: Seit 40 Jahren verliert die politische Mitte. Sie steht unter massivem Druck. Das darf man nicht unterschätzen. Wenn man da nicht reagiert, geraten wir in eine Polarisierung, wie sie Frankreich, Italien und die USA kennen.»
Nehmen Sie für das Scheitern mit der BDP eine gewisse Schuld auch auf sich?
«Wir haben mit der BDP bis ins letzte Detail alles ausgehandelt gehabt. Die Parteileitungen waren sich einig. Dann wurde das aber von der BDP-Basis abgelehnt. Das nehme ich nicht auf mich. Wir haben es in mehreren Anläufen versucht.»
1970 hatte die CVP noch einen Wähleranteil von 20 Prozent, während ihrer Präsidentschaft sank er von 14,5 auf 11,6 Prozent. Wo endet die Talfahrt?
«Wir konnten 2015 sitzmässig besser abschneiden als prozentual. Die CVP ist nach wie vor eine grosse Partei der kleinen Kantone. In den grossen Städten haben wir es leider nie wirklich geschafft. Und vergessen wir nicht: 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben in Städten. In den vier Kantonen Zürich, Bern, Waadt und Aargau lebt die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer. Dort sind wir schwach bis abwesend.»
Und was lässt sich dagegen tun?
«Eine Lösung finden. Wir müssen in der Lage sein, in den Städten zu kompensieren, was wir in den Stammlanden unter zunehmendem Druck verlieren. Die FDP hat teils ähnliche Schwierigkeiten. Die Leute in den grossen Städten polarisieren stark, das heisst entweder links oder SVP. Das Beispiel Genf zeigt aber, dass es möglich ist, als CVP in urbanen Gebieten zu gewinnen.»
Wenn in den Städten und Agglomerationen die Kraft und die Strukturen fehlen: Sollte sich die CVP folglich nicht auf ihre Stammlande konzentrieren?
«Wir tragen Sorge zu unserer Basis und unserer Partei in allen Kantonen und Regionen. Themen, die für Berg- und Randregionen wichtig sind wie beispielsweise Service public, Energiestrategie, Tourismus, Regionalpolitik werden wir weiterhin sehr aktiv bewirtschaften. Bei der Diskussion zur Wasserkraftstrategie haben wir ja in der Frühjahrssession eben wieder erlebt, wo unsere Freunde sind. FDP und SVP liessen uns hier, abgesehen von wenigen Ausnahmen, im Stich. Mit einer reinen Stammlandstrategie kommen wir noch auf sieben Prozent. Damit wäre die Berechtigung auf einen Bundesratssitz und einen nationalen Einfluss nicht mehr gegeben.»
Die CVP ist also in einem existenziellen Dilemma?
«Es gibt noch andere Parameter als die nackten Prozentzahlen. Vergessen wir nicht, dass die CVP im Ständerat nach wie vor die Nummer 1 ist. Das ist für die Stabilität des Systems sehr wichtig. Und wir haben 40 Vertreterinnen und Vertreter in den kantonalen Regierungen. Wir wollen eine nationale Verantwortung für die Zukunft der Schweiz wahrnehmen. Und wenn wir diese Rolle spielen wollen, ist eine reine Stammlandstrategie gefährlich.»
Wie wollen Sie sich der zunehmenden Polarisierung entgegenstellen, gerade in den Städten?
«Polarisierung ist für mich keine Fatalität. Das sah man bei den jüngsten Abstimmungen, insbesondere mit der Durchsetzungsinitiative. Die Schweiz kann gegen Populismus Widerstand leisten. Ich hoffe, dass das so bleibt. Im Übrigen hat die CVP bewiesen, dass sie auch ausserhalb ihrer Stammlande punkten kann. In Genf haben wir bei den letzten vier Wahlen immer zulegen können. Das bedeutet aber ein entsprechendes Engagement. Das hat sich auch in Zug gezeigt. Oder im Wallis. Alle gingen davon aus, dass wir verlieren. Wir haben aber einen zusätzlichen Sitz geholt und den hohen Wähleranteil halten können.»
Wenn man Ihnen zuhört, tönt das nicht nach Amtsmüdigkeit.
«Ist es auch nicht.»
Trotzdem ist Ende April Schluss. Spüren Sie bereits Entzugserscheinungen?
«Politik war für mich von Kindesbeinen an eine Leidenschaft. Diese Passion wird bleiben. Vielleicht kommt nach dem 23. April, wenn ich das CVP-Präsidium abgegeben habe, ein gewisser Entzug. Derzeit spüre ich diese Lücke noch nicht. Es stehen noch viele Sitzungen an und Sachen, die auf Erledigung warten. Und dann beginnt für mich ja schon der nächste Wahlkampf…»
Nationalrat und Parteipräsidium gelten als Knochenjob. Wie haben Sie das gemeistert?
«Wochen mit 80 bis 85 Stunden Arbeit sind für mich keine Seltenheit. Ich staune gelegentlich selber, was man alles unter einen Hut bringen kann. Mein Vorteil ist, dass mir vier bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht genügen. Irgendwie brauche ich diesen Drive und auch einen gewissen Druck. Sonst wird es mir langweilig.»
Ihr designierter Nachfolger, Gerhard Pfister, vertritt nicht überall die Positionen, wie man sie sich in den CVP-Stammlanden wünscht.
«Gerhard Pfister ist ein intelligenter, kultivierter Mann. Er hat als Wahlkampfleiter 2011 bewiesen, dass er in der Lage ist, die ganze Partei zu verkörpern. Er wird sich als Präsident auch noch ein bisschen anders positionieren. Entsprechende Aussagen hat er in der Kandidaturphase gemacht. Es ist klar, dass er die Berggebietsvertreter nicht mehr als Steilhang-Fetischisten bezeichnen wird und auch zur Position der Nehmerkantone im Finanzausgleich einen Zugang finden wird. Pfister ist ein Mann, der die CVP zum Erfolg führen kann.»
Im Wallis wirft man Ihnen aktuell, teils aus den eigenen Reihen, einen Stilbruch vor, weil Sie einem amtierenden Staatsrat das Amt streitig machen, der sich noch nicht zu seinen weiteren Plänen geäussert hat. Was haben Sie sich dabei gedacht?
«Es braucht in einer Partei eine gewisse Konkurrenz. Hätte ich meine Kandidatur nicht angekündigt, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen zurückzutreten. Jetzt ist die Situation offen. Ich stelle mich mit meinen Kompetenzen und meinem Netzwerk fürs Wallis zur Verfügung. Ob ich nominiert werde, weiss nur die Partei. Also werde ich mich mit der Möglichkeit eines Sieges oder einer Niederlage auseinandersetzen müssen. Vor acht Jahren habe ich verloren. Damals wurden die Spielregeln während des Spiels geändert. Ich habe mich diesmal ganz anders vorbereitet.»
Am 12. Mai wird die CVP Unterwallis entscheiden, wer ihr offizieller Staatsratskandidat sein soll für die Wahlen 2017. Wie schätzen Sie die Sache ein?
«Ich spüre sehr grosse Unterstützung von der Basis. Viele Leute sagen mir, dass sie meine in Bern gemachten Erfahrungen brauchen und dass mein politisches Engagement dem Kanton von Nutzen sein kann. Sie würden sich darüber freuen.»
Sie haben 850 CVP-Neueintritte organisiert. Die werden am Kongress wohl für Sie stimmen…
«Wie können Sie das wissen? Wir haben stark mobilisiert. Die meisten sind CVP-Wählerinnen und Wähler seit eh und je, aber waren bisher nicht Parteimitglied. Die Mobilisierung ist wirklich sehr gross. Ich spüre das – und habe das auch gut vorbereitet. Der Zuwachs bei der CVP Unterwallis beträgt seit Jahresbeginn 25 Prozent.»
Sie haben möglichen Interessenten angeboten, ihnen allenfalls bei der Bezahlung des Mitgliederbeitrags zu helfen. Das wirkt irritierend.
«Wie war es vor acht Jahren? Ich konnte kein einziges Mitglied anwerben, weil der Wahlkongress vorverschoben wurde, nachdem ich meine Kandidatur angekündigt hatte. Im Übrigen haben die 850 Neumitglieder ihren Parteibeitrag selbst bezahlt. Heutiger Stand: Die angebotene Hilfe wurde nicht gefordert.»
Wäre es im Interesse der Partei nicht besser gewesen, Tornay und Darbellay hätten ihre Kandidaturen im persönlichen Gespräch abgesprochen und als Gentlemen geregelt?
«Wir haben mehrmals miteinander gesprochen. Persönlich haben wir miteinander kein Problem. Ich respektiere und schätze Maurice Tornay, unsere Familien sind seit Jahrzehnten eng befreundet. Aber so ist das Leben: In einer Partei sowie im Sport gibt es manchmal Konkurrenzsituationen – und man muss damit umgehen können.»
Stimmt das Gerücht, Sie hätten sich mit Jacques Melly abgesprochen, um Maurice Tornay gemeinsam auszubremsen?
«So weit würde ich nicht gehen. Aber es ist schon so, dass ich nicht nur Neumitglieder rekrutierte, sondern sehr viele Kontakte knüpfte mit der Basis, den Sektionen, den Bezirken und der Partei. Und es ist wirklich eine sehr spontane Unterstützung auf mich zugekommen. Vor acht Jahren sagte man mir, mach deine Arbeit in Bern weiter, wir brauchen dich dort. Das ist diesmal anders. In vielen Fällen musste ich gar nicht auf die Leute zugehen. Sie kamen zu mir, auch aus dem Mittelwallis. Das ist eine indirekte Antwort auf Ihre Frage, entspricht aber den Tatsachen.»
Wäre eine offene C-Liste die Möglichkeit, den Konflikt innerparteilich zu umgehen?
«Ich hätte mir eine offene Liste vorstellen können. Sie wird weder in der CVP Unterwallis noch im Oberwallis mehrheitsfähig sein. Die Partei wird diese Frage entscheiden und ich werde mich dem Entscheid fügen. Meine oberste Priorität besteht darin, dass die CVP ihre drei Regierungssitze behalten kann.»
Wird das Duell zwischen Ihnen und Maurice Tornay zu einer Zerreissprobe zwischen dem linken und dem rechten Parteiflügel?
«Ich habe in Bern während zwölf Jahren bürgerlich politisiert. Es ist vielmehr eine Generationenfrage. Und es geht darum, wer die besten Chancen hat, für die Partei den Sitz zu gewinnen und dem Wallis Zukunftsperspektiven aufzuzeigen.»
Was machen Sie, wenn es für Sie nicht funktioniert?
«Ich hoffe es nicht, aber dann ist die Privatwirtschaft eine Alternative.»
Was würden Sie anstelle von Maurice Tornay tun?
«Das muss er selbst wissen. Er ist in seinen Entscheiden völlig frei. Aber was ich machen würde: Sagen, ob ich antrete oder nicht. Das hätte Maurice Tornay schon lange tun können.»
Vielleicht will Tornay verhindern, dass er schon ein Jahr vor den Wahlen in einen permanenten Positionskampf mit Ihnen eintreten muss.
«Bis zur Nominierungsversammlung am 12. Mai muss er sich eh positionieren. Danach wissen wir, wer der offizielle Kandidat ist.»
Ist eine Dissidentenliste denkbar für jenen Kandidaten, der in der internen Nominierung verliert?
«Nein. Maurice Tornay würde das nie machen. Und ich würde als CVP-Präsident jegliche Glaubwürdigkeit verlieren.»
Was sagen Sie zum Vorwurf, Sie hätten Ihre Interessen für den Staatsrat viel zu früh angemeldet, was die Partei unnötig beunruhigte?
«Man hat mir den Vorwurf, ich sei zu früh, in meinem Leben schon mehrmals gemacht. Aber man ist nie zu früh. Ist die Zeit gekommen, muss man machen, was man für richtig hält. Irgendwann braucht es auf die immer gleiche Frage auch eine Antwort. Ich habe mein Interesse vor allen Affären bekannt gegeben. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn ich mit meinen Ambitionen an die Öffentlichkeit getreten wäre, als Kollege Tornay mit dem Spital- oder dem Giroud-Dossier unter Druck war. Ich habe das früher gemacht. Sachlich und ohne Aggressivität. Und seither ist die Ausgangslage für alle klar.»
Sie streben mit dem Staatsrat erstmals ein Exekutivamt an. Ist Solotänzer Christophe Darbellay überhaupt ein Mann für eine Kollegialbehörde?
«Wer eine Partei mit der Breite der CVP führt, kann nicht alles von oben herab befehlen. Da muss man überzeugen. Und das ist Teamarbeit, gemeinsam mit dem Präsidium, dem Generalsekretariat und auch der Fraktion. Ich habe, noch nicht 30-jährig, als Vizedirektor des Bundesamts für Landwirtschaft – und Jüngster im Team – ein Budget von drei Milliarden Franken verantwortet. Ich finde mich also in Teams zurecht – und kann mich auch ein- und unterordnen, wenn es sein muss. Das habe ich in mehreren Funktionen in Verbänden oder in der Privatwirtschaft unter Beweis gestellt. Auf der anderen Seite ist eine gewisse Leadership sicher nicht als Nachteil auszulegen für ein Regierungsamt in der heutigen Zeit.»
Interview: Thomas Rieder
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