Soforthilfe für Verdingkinder gut angelaufen auch im Wallis
«Tiefer Einblick ins alltägliche Elend»

Demo ehemaliger Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Massnahmen
Foto: Keystone
Rund 400 Opfer, darunter elf mit Wohnsitz im Wallis, von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen haben seit Sommer schweizweit drei Millionen Franken an Soforthilfe erhalten.
Dieses erste Fazit gab der Delegierte für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und stellvertretende Direktor des Bundesamtes für Justiz, Luzius Mader, am Montag bekannt. Der Soforthilfefonds, der vom Runden Tisch ins Leben gerufen wurde, wird von freiwilligen Spenden gespiesen und von der Glückskette verwaltet. Die Kantone beteiligten sich mit fünf Millionen Franken daran.
«Auch der vom Kanton Wallis kürzlich gesprochenene Betrag von rund 200 000 Franken ist gemäss der Empfehlung der schweizerischen Sozialdirektorenkonferenz bereits überwiesen worden», sagt Mader auf Anfrage des «Walliser Boten». Weitere Beiträge im Umfang von zwei bis drei Millionen Franken von anderen Spendern werden angestrebt.
Elf Gesuche aus dem Wallis
Seit Juni 2014 sind rund 650 Gesuche beim Ausschuss des Soforthilfefonds eingereicht worden. 450 Gesuche seien geprüft worden. In über 400 Fällen hätten Beiträge im Gesamtumfang von drei Millionen Franken ausbezahlt werden können. Dies entspreche einer durchschnittlichen Auszahlung pro Person von rund 8000 Franken.
«Unter den Gesuchstellern befinden sich auch elf im Wallis wohnhafte Personen», erklärt Mader. Diese verteilen über den gesamten Kanton. «Allerdings», so Mader, «gibt es zahlreiche betroffene Walliser, die heute in den Kantonen Waadt, Genf oder Freiburg Wohnsitz haben. Die Massnahmen, unter denen sie zu leiden hatten, wurden seinerzeit aber von Walliser Behörden angeordnet.» Diese erscheinen in der Statistik des Bundes unter ihrem jetzigen Wohnort.
«Jedes Jahr zählt»
Die Gesuche aus dem Wallis sind zum grössten Teil behandelt. Sie erhielten wie in der übrigen Schweiz durchschnittlich rund 8000 Franken zugesprochen. «Diese Hilfe kommt Personen zugute, die sich jetzt in akuten finanziellen Schwierigkeiten befinden. Die Soforthilfe stellt eine Art Überbrückungslösung dar, bis zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine definitive finanzielle Regelung.»
Die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage der Behörden wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen. «Da viele der Betroffenen schon in vorgerücktem Alter stehen oder mit gesundheitliche Probleme kämpfen, zählt jedes Jahr. Aus diesem Grund ist die Soforthilfe auf privater Basis lanciert worden.» Wie wichtig der Entscheid zu einer Überbrückungslösung ist, zeigt ein Beispiel aus dem Wallis, wo eine über 70-jährige Person mit grossen gesundheitlichen Schwierigkeiten unmittelbar vor Einreichung des Gesuches verstorben ist.
Nicht beanspruchte Sozialhilfe
Um Soforthilfe zu erlangen, müssen Gesuchsteller aufzeigen, in welcher Art sie von Zwangsmassnahmen der Behörden betroffen waren. «Sie müssen plausibel aufzeigen, nicht aber Beweise vorlegen, dass sie tatsächlichen ein Opfer von derartigen Massnahmen waren.» Die Opfereigenschaft machen laut Mader etwa physische oder psychische Gewalt oder sexuellen Übergriffe aus. «Die Schreiben waren zum Teil sehr eindrücklich und gaben einen tiefen Einblick ins alltägliche Elend, das auch in der Schweiz existiert. Viele der Betroffenen leben in sehr schwierigen finanziellen Verhältnissen.»
Laut Mader ist beim Eingang der Gesuche auch festgestellt worden, dass manche Opfer keine Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen beanspruchen, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. «Sie machen dies aus der Überlegung heraus, dass sie ihr ganzes Leben von den Behörden schikaniert wurden. Dieselben Behörden wollen sie nun nicht um Almosen bitten.» In diesen Fällen wurde dafür gesorgt, dass die Opfer über die Soforthilfe hinaus Sozialhilfe beantragen.
Zwei Generationen
Die Antragssteller stehen laut Mader im Alter zwischen 50 und 100 Jahren. «Die älteste Person, die Soforthilfe zugesprochen erhielt, ist 103 Jahre alt. Die jüngsten Opfer stammen aus den 1970er Jahren, die noch vor dem Stichjahr 1981 von Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren.» Diese Problematik rund um die Verdingkinder betrifft damit zwei Generationen.
Bis zum Ablauf der Einreichefrist am 30. Juni 2015 werden zahlreiche weitere Gesuche erwartet. «Wir sind bei unseren Schätzungen von einer Gesamtzahl von 900 bis 1000 Gesuchen ausgegangen. Bis im Juni 2015 rechnen wir etwa mit wöchentlich zehn neuen Anträgen.»
Verdingkinder
In der Schweiz wurden jahrzehntelang viele Waisen, Scheidungskinder, uneheliche Kinder, Kinder von Fahrenden oder aus Armut verwahrloste Kinder in Heimen und als Verdingkinder fürsorgerisch fremdplatziert. Verdingkinder dienten oft bei Bauernfamilien als billige Arbeitskräfte. Häufig wurden diese Kinder ausgenutzt, misshandelt und missbraucht.
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