Alpinismus | Zum 100. Todestag der britischen Alpinistin Lucy Walker
Sie war die erste Frau auf dem Matterhorn
Sechs Jahre nach der Erstbesteigung des Matterhorns hatte mit Lucy Walker im Juli 1871 die erste Frau den begehrten Gipfel unter den Füssen. Sie war allerdings nicht die Erste, die eine Besteigung ins Auge gefasst hatte.
Die am 10. September vor hundert Jahren in Liverpool verstorbene Britin Lucy Walker (1836–1916) gilt als erste Frau überhaupt, die auf dem Matterhorn stand. Auf dem Weg nach oben wurde sie von ihrem Vater Frank Walker, dem befreundeten Frederick Gardiner und insgesamt fünf Bergführern begleitet. Unter den Führern waren mit dem Berner Melchior Anderegg und den beiden Oberwallisern Peter Knubel und Peter Perren einige klangvolle Namen der damaligen Alpinistenszene vertreten. «Perren galt als erster Zermatter Bergführer, der es wagte, nach dem Unglück der Erstbesteigung von 1865 wieder auf das Matterhorn zu steigen», betont Peter Graf vom Matterhorn Museum in Zermatt.
Wettrennen am Horn
Lucy Walker war allerdings nicht die einzige Frau, die zu ihrer Zeit eine Besteigung des Gipfels anstrebte. Bereits vier Jahre zuvor fehlte nicht viel und die erst 18-jährige Italienerin Félicité Carrel wäre zuoberst auf dem Berg gestanden. Mit einer Gruppe von Bergsteigern versuchte sie von der Südseite her aufzusteigen. Auf einer Höhe von 4300 Metern wurde ihr dann aber der starke Wind zum Verhängnis. Er soll ihr derart um die Röcke geblasen haben, dass eine Fortsetzung nicht möglich war. Der bekannte Bergsteiger John Tyndall schrieb später von der Frau, «die sicher, wie man erzählt, den Gipfel erreicht haben würde, hätte sich der Wind nicht zu arg in ihren Röcken verfangen». Noch heute erinnert der «Col Félicité» an Carrels Umkehrpunkt. Wenige Jahre später duellierten sich dann die Amerikanerin Meta Brevoort und Lucy Walker um den «Titel» der Erstbesteigerin des Matterhorns. Doch nicht allein das Matterhorn hatte es den beiden Damen angetan: Beide sind als Erstbesteigerinnen zahlreicher Gipfel in den Alpen in die Annalen eingegangen. Während Walker als erste Frau auf dem Weisshorn und dem Piz Bernina war, war Brevoort dies auf den Grandes Jorasses, der Dent Blanche und dem Bietschhorn. Die Amerikanerin hatte zudem bereits 1869 auf der Südseite einen ersten Anlauf in Richtung Matterhorn-Gipfel unternommen. Schlechtes Wetter vereitelte den Versuch jedoch, sodass sie im Juli 1871 einen weiteren ins Auge fasste.
Röcke und Champagner
Als die just zu diesem Zeitpunkt in Zermatt weilende Walker zufällig durch den eng mit ihr verbandelten Bergführer Melchior Anderegg von Brevoorts Vorhaben erfuhr, stellte sie kurzerhand selbst eine Seilschaft auf die Beine. Walker soll sich raschestmöglich ihr weisses Flanellkleid angezogen und sich in Richtung Gipfel aufgemacht haben. Diesen hat sie entweder am 21. oder am 22. Juli erklommen – zum genauen Datum gibt es unterschiedliche Quellenangaben. «Am 22. Juli erreichte ein Telegramm Meta Brevoort, dass Lucy Walker schon auf dem Gipfel stand. Obwohl die beiden Frauen im Grunde rivalisierten, wertschätzten und bewunderten sie einander», erklärt Peter Graf dazu. Walkers Leistung fand in der Folge verbreitete Beachtung in ihrer Heimat, wo die Alpinistin quasi über Nacht grosse Bekanntheit erlangte.
Die aus wohlhabendem Haus stammende Walker bestieg den Gipfel den gesellschaftlichen Normen der viktorianischen Zeit entsprechend noch in einen Flanellrock gekleidet. Graf dazu: «Im 19. Jahrhundert waren Frauen, die sich des Reifrocks entledigten und in Männertracht auf hohe Berge stiegen, eine Ausnahme. Um das sittliche Empfinden der damaligen Gesellschaft nicht zu verletzen, kamen erfinderische Damen auf die Idee, über der Sporthose einen leichten Rock zu tragen und diesen beim Einstieg zum Berg im Rucksack zu versorgen.» Ein interessantes Detail: Wie die historischen Quellen vermerken, soll Walker auf Bergtouren ausschliesslich Champagner getrunken und Biskuitkuchen verzehrt haben–so wohl auch während ihres Aufenthalts zuoberst auf dem Matterhorn.
Heute selbstverständlich?
Seit Lucy Walkers Gipfelsturm haben sich die Zeiten grundlegend gewandelt. Beim Schweizer Alpen-Club (SAC) etwa, bei dem Frauen erst seit 1980 als vollwertige Mitglieder beitreten können, ist der Anteil in den letzten Jahren stetig gewachsen. «Der Frauenanteil bei den SAC-Mitgliedern liegt heute bei 37 Prozent. Wir hoffen natürlich, dass er weiterhin steigt», informiert Heidi Schwaiger, Leiterin Kommunikation und Medien beim SAC, auf Anfrage. Aus ihrer Sicht sind Frauen im Gebirge inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. Noch Nachholbedarf scheint es jedoch bei den Bergführern zu geben. Laut Pierre Mathey, Geschäftsführer beim Schweizer Bergführerverband, sind unter den 1300 aktiven Bergführern derzeit nur gerade 34 Führerinnen auszumachen. Die Tendenz sei jedoch leicht steigend.
«Das Bergsteigen war und ist immer noch in allen Belangen ein perfekter Spiegel der Gesellschaft. Auch in den Bergen wird eine Frau als Seilführerin nach wie vor als etwas Besonderes betrachtet, gerade wenn am hinteren Ende des Seils ein Mann geht», beschreibt Caroline Fink. Die in Zürich lebende Autorin und Bergfotografin veröffentlichte 2013 gemeinsam mit Karin Steinbach das Standardwerk «Erste am Seil» zur Geschichte des Frauenbergsteigens. Fink unterstreicht die Leistungen der früheren Bergsteigerinnen. «Sie waren die Ersten, die sich die Freiheit genommen haben, auf Berge zu steigen. Auch wenn sie dabei ihr Ansehen in der feinen Gesellschaft arg beschädigen konnten. Ein Sonnenbrand auf der Nase war ja bereits eine gesellschaftliche Katastrophe. Wir können uns bis heute eine Scheibe von ihrer Nonchalance abschneiden.»
Philipp Mooser
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