#UnternehmenWallis | Vom Bergbauern zum IT-Spezialisten
«Sein Tageslohn belief sich auf einen Franken»
Alte Schwarz-Weiss-Fotografien präsentieren heute einen längst vergangenen Alltag: Säumer mit ihren Maultieren, einfache Bergbauerfamilien bei der Arbeit oder ausländische Alpinisten vor unverbauter Landschaft. Ein Bild, das sich spätestens ab 1900 allmählich zu verwässern begann. Der Fortschritt hielt Einzug im Tal. Ein Gespräch mit Historiker Werner Bellwald.
Hatte die Walliser Wirtschaft im 19. Jahrhundert noch vorwiegend aus einer Mischung aus Landwirtschaft, Viehzucht, Handel, ländlichem Handwerk und Gewerbe bestanden, setzte um 1900 eine erste Wachstumsphase in der Region ein. Mehrere grosse Fabriken wie Lonza liessen sich an den Wasserläufen nieder und bauten Elektrizitätswerke, weil die gewonnene Energie noch vor Ort verwendet werden musste.
115 Jahre später zählt der Kanton mit über 330‘000 praktisch dreimal mehr Einwohner. Mit rund 135‘000 Erwerbstätigen ist das Verhältnis Einwohner zu den Erwerbstätigen zwar relativ stabil geblieben. Die Sektoren, in denen die Menschen ihr Geld verdienen, haben sich jedoch grundlegend verändert. War um 1900 der Grossteil der Menschen in der Landwirtschaft tätig, so sind es heute nur noch knapp 4 Prozent der Erwerbstätigen. Mehr als zwei Drittel der Walliser arbeiten aktuell im Dienstleistungssektor, fast ein Drittel in Industrie und Handwerk.
Wir blicken zurück: Im Interview für die aktuelle WB-Themenbeilage #UnternehmenWallis beschreibt der Oberwalliser Kulturwissenschaftler und Historiker Werner Bellwald die Zeit der beginnenden Grossindustrie im Wallis vor über hundert Jahren.
«Der Alltag war auch schon vor 100 Jahren recht verschieden»
Werner Bellwald, die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten hundert Jahren verlief unglaublich rasant. Wie muss man sich den Lebensalltag an einem ganz gewöhnlichen Montag im Jahr 1910 vorstellen?
«Für den Angestellten in Monthey oder in Visp hiess es zehn Stunden Büro, das er zu Fuss in ein paar Minuten erreichte. Für den Arbeiterbauern aus Erschmatt hiess es Schichtarbeit in der Lonza in Gampel: eine Stunde hinunterlaufen, nach der Arbeit an den heissen Karbidöfen wieder eineinhalb Stunden den Berg hinauf. Für eine Bäuerin im Lötschental hiess es früh morgens melken, die Kühe aus dem Stall lassen, den Stall misten, mit der Milch ins Dorf hinunterlaufen, dann den ganzen Morgen auf den Feldern Gras zetten, zurück ins Dorf und das Mittagessen kochen, mit dem Heurechen wieder aufs Feld und abends eine Stunde auf die Alp hochlaufen, das Vieh stallen und melken. Je nach Ort und Zeit, Berg oder Tal, Dorf oder Stadt, arm oder reich sah der Alltag auch schon vor 100 Jahren recht verschieden aus. Die Gräben sind nicht neu.»
Früher und heute: Idyllische Berghotels und Alpinismus in der Höhe gegenüber Fortschritt und rauchenden Schornsteinen im Talgrund. Stimmt dieses Bild?
«Für die Jahrzehnte um 1900 stimmt das weitgehend. Die Gäste erlebten die Höhen als Idylle, sie hatten Ferien und genossen den Sommer. Urlaub war den Einheimischen unbekannt und der Sommer war für sie die Zeit der 16-Stundentage, Samstag und Sonntag inklusive. Diesen Kontrast konnte der Feriengast in der mondänen Welt der Belle Epoque-Hotelkästen ebenso übersehen wie den Unterschied zur Schufterei in den Fabriken von Monthey oder der Elektrochemie in Visp.»
Wovon verdiente sich die 08/15-Familie vor hundert Jahren ihre Brötchen? Welchen Wert hatte ein erarbeiteter Franken?
«Für die Landwirtschaft mit etwas Nebenerwerb kann ich ein konkretes Beispiel aus meiner Familie nennen: Grossvater Johann Bellwald ging in aller Frühe zu Fuss von Blatten, dem hintersten Dorf im Lötschental, auf die Faldumalp zuvorderst im Tal, arbeitete dort den ganzen Tag über als Schreiner und kehrte abends wieder zu Fuss nach Hause. Sein Tageslohn belief sich auf einen Franken. Die Verpflegung hatte er selber mitzubringen – und war froh, dass er überhaupt Arbeit hatte.»
«In den umliegenden Dörfern fanden sich viele Arbeiter für kleine Löhne»
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts siedelten sich mehrere Industriebetriebe in der Region an, zum Beispiel die Lonza, die frühere AluSuisse oder einige Jahrzehnte später auch die Scintilla. Warum eigentlich?
«Wie etwa in Savoyen oder auch in Oberitalien lieferten die Steilstufen der Alpentäler das Wasser für die Kraftwerke. Da man den Strom nur unter grossen Verlusten transportieren konnte, entstanden die energiefressenden Fabriken möglichst nahe. In den umliegenden Dörfern fanden sich zudem viele Arbeiter für kleine Löhne.»
Die meisten dieser Firmen, allen voran die Lonza, sind noch heute im Kanton angesiedelt und stellen wichtige Arbeitgeberinnen dar. Werden sie auch in 100 Jahren noch am Standort sein? Wagen Sie eine Prognose?
«Eine Prognose auf 100 Jahre für einen gesellschaftlichen Bereich zu wagen, das käme der Ernsthaftigkeit einer Fasnachtszeitung gleich. Wir wissen ja nicht einmal, ob es in 50 Jahren noch eine Schweiz geben wird.»
Weitere Antworten von Werner Bellwald finden Sie in der aktuellen WB-Themenbeilage #UnternehmenWallis, die in Zusammenarbeit mit The Ark, der Stiftung für Innovation des Kantons Wallis, und dem «Walliser Boten» realisiert wurde. Darin enthalten sind unter anderem aktuelle Zahlen zur Walliser Wirtschaft, Porträts von Oberwalliser Jungunternehmern und eine Kostprobe besonderer Walliser Export-Produkte. Ein PDF mit allen Artikeln der Beilage gibt es hier.
pmo
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