Coronavirus | In den Altersheimen ist der Druck auf das Personal, Angehörige und die Bewohner enorm. Wie gehen sie damit um?
«Grüss alle schön von mir!»
Eine Bewohnerin und ihre Enkelin winken sich zu, verabschieden sich. «Grüss alle schön von mir!», ruft die ältere Frau und lächelt. Normalerweise würden sie sich jetzt wohl umarmen und herzen. Aber was ist schon normal in diesen Tagen?
Die beiden Frauen trennt an diesem sonnigen Frühlingstag so vieles, hier vor dem Alters- und Pflegeheim «Englischgruss» in Brig-Glis. Das Alter zum Beispiel. Während die Enkelin, vielleicht irgendwo in den 20ern, nicht viel zu befürchten hat, kann für die Grossmutter eine Ansteckung mit dem Virus tödlich enden. Mit ihrem fortgeschrittenen Alter gehört sie zur Risikogruppe, wie alle 121 Bewohner.
Denken in Szenarien
Deshalb bleiben die beiden auch auf Abstand. Jeweils getrennt durch verzinkte Absperrgitter, wie man sie sonst kennt von Dorffesten und Fussballspielen, um dort Menschenströme zu lenken. Und trotz dieser Distanz sind die beiden Frauen miteinander verbunden. Sie können sich sehen und vergewissern, dass es dem anderen gut geht.
Die Ferne wird überbrückt, aufgelöst mit einem liebevollen Schwatz, ein paar aufmunternden Worten. Vielleicht waren zwei, drei Meter noch nie so kurz, die Generationen noch nie so nahe beieinander. «Die Angehörigen sind begeistert von dieser Idee», sagt Manfred Hertli, Chef Pflege im «Englischgruss». Für Aussenstehende und Passanten sei der Anblick der blechernen Begegnungszonen rund ums Altersheim womöglich etwas gewöhnungsbedürftig, fügt Direktor Daniel Kalbermatten hinzu. «Aber es dient der Sache.»
Die Sache ist nämlich die: Das Gebäude ist eigentlich nicht gemacht für eine derartige Ausnahmesituation, zu normal gebaut für diese Zeit der Extreme. Im «Englischgruss» hat man nicht nur das ganze Haus isoliert. Vorsichtshalber wird jetzt jede Etage von der anderen strikte getrennt. Auch draussen bleiben die Bewohner von der gleichen Etage jeweils unter sich. So könnte man im Fall einer Infektion vermeiden, dass sich der Virus im Haus weiter ausbreitet.
«Wir sind jetzt entscheidend», sagt Anton Kiechler und meint damit das Personal, die Heimleitung, die Köche, Putzkräfte, alle, die noch ein- und ausgehen im Heim in Fiesch, das er leitet und das den Namen des Walliser Schutzpatrons trägt – «St. Theodul». Natürlich sei der Druck auf die Mitarbeitenden gestiegen, zumal sie in der Zwischenzeit das einzige Ansteckungsrisiko darstellen. Eine Infektion ist mit allen Mitteln zu verhindern. Der alltägliche Betrieb in einem Altersheim muss aber so gut wie möglich aufrechterhalten und weitergeführt werden – unter ungleich erschwerten Bedingungen. Gleichzeitig wisse niemand, wie lange dieser Zustand noch andauert. «Das ist eine Mehrbelastung», sagt Kiechler. Besuche auf Distanz wie in Brig sind in Fiesch keine vorgesehen. Das Heim hat aber einen eigenen, abgeschlossenen Garten, wo sich die Bewohner ihre Beine vertreten können.
Auch im «St. Antonius» in Saas-Grund freut man sich über einen grossen, hauseigenen Garten. Hier sind es Zivilschützer, die die Bewohner beim Spaziergang begleiten. «Der Zivilschutz leistet grandiose Arbeit», sagt Heimleiterin Patricia Pfammatter. Und das machen sie in den meisten Altersheimen im Oberwallis. Die Männer in der olivgrün-orangenen Kleidung helfen aus, wo sie gefragt sind. Sie servieren Essen, bedienen die Schleusen, wo Angehörige Mitbringsel für den Heimalltag der Bewohner abgeben. Sie leisten Gesellschaft in einer Zeit, wo es schnell einsam werden kann in einem Altersheim.
«Die Bewohner vermissen die Angehörigen und den direkten Kontakt mit ihnen sehr», sagt Pfammatter mit gerührter Stimme. Keine Langeweile, aber Langezeit. Deshalb versuche man, so gut es geht, sie zu beschäftigen, auf sie einzugehen. So werde man auch alles daransetzen, um die kommende Osterwoche so würdig wie möglich zu gestalten, meint Pfammatter. Etwa mit Wortgottesdiensten. «Das ist eine wichtige Zeit für die Bewohner.»
Sie selbst wird auch an diesem Wochenende im Heim präsent sein. Man könne nicht dermassen hohe Anforderungen stellen an das Personal und sich dann ins gemütliche Wochenende verabschieden, sagt sie. Die Leiter der Oberwalliser Altersheime, auch sie sind derzeit gefordert wie noch nie. Jetzt ist Führungskompetenz gefragt. Der Teufel liegt im Detail, gefragt ist Engelsgeduld. Vieles ist planbar. Aber wenig hat man tatsächlich auch selbst in der Hand. Deshalb müssen die Heime in Szenarien denken – «Was wäre, wenn?» statt «Genau so machen wir das!»
Marcel Bellwald, Heimleiter in Zermatt, hat ein Hotel in der Nähe des «St. Mauritius» organisiert. Hier könnte er das Personal unterbringen. Dies aber nur im Fall der Fälle, etwa wenn der Bundesrat eine Ausgangssperre verhängen würde und man nicht mehr zu Hause bleiben soll, sondern niemand mehr raus dürfte. Die Pflegerinnen könnten dann nicht mehr heim, oder nicht mehr zur Arbeit. Je nachdem, wo sie gerade sind. Und da die Bewohner sie brauchen, hat die Heimleitung um Bellwald vorgesorgt.
Das Szenario der Ausgangssperre lag in den vergangenen Wochen immer mal wieder in der Luft, wurde aber nie verordnet. Das ist aber heute nicht entscheidend: Man muss wissen, was machbar ist, wenn das mittlerweile Mögliche eintrifft. Immer vom Schlimmsten ausgehen und dabei so ruhig wie möglich bleiben. «Und sind wir ehrlich», sagt Bellwald, «es braucht auch etwas Glück».
Keine Fehler erlaubt
In Zermatt hätten die Bewohner Verständnis für die Situation. Auch wenn nicht mehr jeder Name und jedes Datum abrufbar ist im Gedächtnis der Bewohner. An die Typhus-Epidemie im März 1963 können sich hier die allermeisten noch gut erinnern. Auch damals mussten die Kranken isoliert und die Schulen geschlossen werden, Touristen blieben weg. «Viele hier verstehen deshalb sehr gut, was derzeit abläuft», sagt Bellwald.
Die Heimbewohner in Zermatt können raus auf die Terrasse, die in Richtung Südwesten ausgelegt ist und an die Strasse grenzt. Man rate den Angehörigen aber davon ab, vorbeizuschauen, wenn ihre Liebsten und Bekannten draussen sind. «Unsere Bewohner haben zwar Verständnis für die Situation, aber natürlich tragen sie diese mit schwerem Herzen», sagt der Heimleiter. Flüchtige Kontakte über den Gartenzaun, so Bellwalds Befürchtung, würden den Kummer wohl nur verstärken.
Die Augen von Daniel Kalbermatten und Manfred Hertli blinzeln in der Nachmittagssonne. Die Verantwortlichen des «Englischgruss» in Brig sehen mit ihren Masken aus wie zwei Chirurgen, die gerade aus dem OP kommen. Wie in den Filmen. Aber das hier ist die Realität, das Jetzt. «Es wird sich zeigen», so Hertli, «ob sich das Bewusstsein und die Wertschätzung für die Pflegeberufe auch über diese Krise hinaus verstärken werden». Es gehe hier nicht um Lohn, nicht nur. Sondern auch um Arbeitszeitmodelle, Ressourcen, Anerkennung. Es geht um die Erkenntnis, wer hier den Laden schmeisst. Auch dann, wenn man den Virus dereinst im Griff haben sollte.
Aber jetzt ist es noch zu früh für diese Diskussion. Weil die, die es betrifft, gerade schauen müssen, dass ihre Schichtpläne stimmen, dass die Abläufe sicher sind, dass ihre Bewohner und auch sie selbst gesund bleiben. «Wir müssen hier versuchen, dem Virus immer einen Schritt voraus zu sein», sagt Kalbermatten. Hertli ergänzt: «Und dabei dürfen wir nichts vergessen, uns darf nichts entgehen. Wir dürfen keine Fehler machen.»
Es ist der Kampf gegen einen hinterhältigen Feind, den man weder sieht noch hört, auch riechen kann man ihn nicht. Es ist ein Kampf, der allen Beteiligten rund um ein Alters- und Pflegeheim alles, aber auch wirklich alles abverlangt. Von Weitem kann man nicht gut erkennen, ob die Pflegerinnen unter den Schutzmasken lächeln. Was sie und die Bewohner sich wohl gerade erzählen unter der Sonne? Man kann nur ihre Augen sehen. Es ist auch ein Kampf, der müde macht.
David Biner
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