Alpinismus | Im Wallis werden derzeit 290 Personen vermisst; allein 30 Bergsteiger am Matterhorn
Gletscherrückzug bringt vermehrt Vermisste zutage
Immer wieder gibt das ewige Eis in den Walliser Bergen seit Jahrzehnten vermisste Alpinisten frei. In Zukunft werden sich die Funde von menschlichen Überresten wegen des klimabedingten Gletscherrückzugs häufen.
Eine DNA-Analyse brachte Gewissheit: Anfang August 2015 meldete die Kantonspolizei Wallis, dass die menschlichen Überreste, die im vergangenen Jahr im Gletscher am Fuss des Matterhorns gefunden worden waren, von zwei japanischen Bergsteigern stammen. Die beiden Alpinisten wurden seit 45 Jahren vermisst. Ähnlich der Fall eines 27 Jahre alten Briten, der 1979 am Matterhorn in den Tod stürzte. Vor zwei Jahren entdeckte ein Helikopterpilot der Air Zermatt die Leiche des jungen Mannes. Nach 34 Jahren gab der Nordwandgletscher den Vermissten frei. Der Tote konnte aufgrund seines im Hemd eingenähten Nachnamens identifiziert werden.
Spektakulär auch der Fund von Skeletteilen im Juni 2012 auf dem Grossen Aletschgletscher, die mittels kriminaltechnischen Untersuchungen den drei seit 1926 verschollenen Lötschentaler Brüdern Johann, Cletus und Fidelis Ebener zugeordnet werden konnten. Der «Walliser Bote» schrieb vor drei Jahren zum Lötschentaler Bergdrama: «Immer wieder hörte man von den Geschwistern der Verschollenen, dass der Grosse Aletschgletscher ihre Brüder eines Tages freigeben werde. Nach 31'500 Tagen war es so weit.»
In den Bergen oder im Rotten verschwunden
In Zukunft sei vermehrt mit derartigen Funden zu rechnen, sagt der Mediensprecher der Kantonspolizei Wallis, Jean-Marie Bornet gegenüber 1815.ch. «Aufgrund des Gletscherrückzugs gehen wir davon aus, dass das ewige Eis künftig weitere sterbliche Überreste von Alpinisten freigeben wird.» Angesichts der noch vor 50 Jahren beschränkten Mittel im Bergrettungswesen werde es sich bei den Leichnamen grösstenteils um Berggänger handeln, die vor mehreren Jahrzehnten im Walliser Hochgebirge verunglückten. Viele der Verschwundenen konnten damals weder ausfindig noch geborgen werden. «Heute verläuft die Suche nach verschütteten oder abgestürzten Alpinisten in den meisten Fällen erfolgreich. Dank der Entwicklung in der alpinen Rettung.»
Dennoch gibt es Ausnahmen. Polizeisprecher Bornet erinnert an ein Bergdrama, das sich im April 2014 in der Region Pigne d’Arolla im Unterwallis zutrug. Zwei Personen (Jahrgang 1959 und 1960) aus dem Kanton Jura verschwanden beim Aufstieg auf den Pigne d'Arolla spurlos. Die Walliser Kantonspolizei schrieb damals in einem Communiqué, dass die Nachsuche durch Rettungskräfte auf dem Boden und in der Luft schliesslich ohne jeglichen Hinweis auf die Vermissten abgebrochen werden musste. «Wir haben die beiden Alpinisten nie gefunden», bestätigt Bornet. Damit gelangten auch die beiden Jurassier automatisch auf die Vermisstenliste der Kapo Wallis, auf der die Namen aller seit 1925 im Wallis als vermisst geltenden Personen geführt werden. Bornet ergänzt: «Im Wallis werden derzeit 290 Personen vermisst.» Ein Grossteil davon sei bei tragischen Unfällen in den Bergen oder durch Selbsttötungen in den Wassern des Rottens spurlos verschwunden. «Allein in den Bergen rund um Zermatt fehlt gegenwärtig von rund 30 Alpinisten jede Spur.»
Schnellstmögliche Identifikation hat Priorität
Im Fall der Gebrüder Ebener, die 86 Jahre im Eis des Grossen Aletschgletschers eingeschlossen waren, stiess ein britisches Touristenpaar vor drei Jahren am Fuss des Dreieckhorns auf weit voneinander verstreute Knochen sowie Kleiderreste, eine Sackuhr, eine Tabakpfeife, ein Fernglas, Schneeschuhe, Bergstöcke und auf einen Geldbeutel aus schwarzem Leder mit neun Franken. «Oft sind es Alpinisten oder Rettungskräfte der Air Zermatt oder der Air Glaciers, welche auf einer Bergtour oder beim Überfliegen eines Gebiets zufällig menschliche Überreste oder Bergsteigerutensilien finden. Sobald eine entsprechende Sichtung bei der Kantonspolizei gemeldet wird, begeben wir uns so schnell wie möglich zur Fundstelle, um die Gegenstände zu bergen», erklärt Bornet das Prozedere. Ein rasches Handeln sei nötig, um etwa zutage beförderte Knochen vor dem Verschleppen durch Wildtiere zu schützen.
Verglichen mit den Angaben auf der Vermisstenliste der Kantonspolizei könnten Fundort, Kleider- oder Knochenreste sowie weitere charakteristische Fragmente bereits entscheidende Hinweise zur Identifikation einer vermissten Person liefern, beschreibt Bornet die weiteren Ermittlungen. Zuweilen könne auch ein gefundener Ausweis Aufschluss über eine Person geben. Klarheit bringe letztendlich jedoch ein DNA-Profil, das in monatelanger Zusammenarbeit mit der Gerichtsmedizin erstellt wird. Doch Bornet betont: «Aus verschiedenen Gründen ist eine solche Analyse nicht immer machbar.» So konnten ein alter Lederschuh sowie eine Geldmünze aus dem Jahr 1925, welche in der Nähe des Sanetschpass zwischen dem Diablerets-Massiv und der Wildhorngruppe keinem Alpinisten zugeordnet und damit keine Forschungen bezüglich der Nachkommen angestellt werden. «Die Einzelfunde waren derart alt, dass mögliche Angaben dazu noch nicht in unserem Verzeichnis gelistet waren.» Dennoch steht für die Walliser Kantonspolizei stets eine rasche Identifikation im Zentrum der Ermittlungen. «Hinter fast jedem Fund stehen Angehörige, die oft jahrelang in Ungewissheit leben. Durch die Identifizierung können sie abschliessen.»
Melden und markieren
Mediensprecher Bornet rät Berggängern, welche in den Walliser Bergen auf mögliche Überreste stossen, die Notrufzentrale der Polizei zu informieren und den Fundort zu markieren. Weiter sollten die Utensilien nicht angefasst oder mitgenommen werden. «Eventuell kann deren Anordnung Aufschluss über den Unfallhergang geben.» Laut Bornet werden sich die Gletscherfunde in naher Zukunft häufen. «Glaubt man den Vorhersagen der Experten, werden uns die Gletscher der Region künftig viele vermisste Personen zurück- und viele Geheimnisse preisgeben.»
pan
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar