Essay | Gedanken aus Gampel
Am Anfang war der Rausch
Ein Open Air ist gekaufte Ekstase. Auf einem Territorium ohne Regeln geht der Alltag vergessen. Gleichzeitig gedeihen dort wunderbare Geschichten. Was wir brauchen, ist eine Ethik des Rausches.
Rauch steigt auf, die Scheinwerfer tauchen die Bühne in eine mystische Stimmung. Vor der Bühne stehen Zehntausende Fans. Alkohol durchströmt viele Körper und dient als Sprungbrett in den Rausch. Die Leute klatschen, pfeifen, schreien. Die Spannung steigt. Die Musiker aber lassen sich Zeit.
Im dicken Nebel zeichnen sich Konturen ab. Die Band betritt die Bühne. Die Scheinwerfer richten sich auf das Publikum. Vom hellen Licht wachgerüttelt, schnellen Tausende Hände in die Höhe. Alle schreien, einige Sekunden lang, jubeln, als wäre das entscheidende Tor gefallen. Und schauen dann in das grinsende Gesicht ihres Nachbarn und rufen: «Endlich!»
Glückshormone, Rausch, sich in der Masse auflösen. Kurzum – ein intensives Leben. Kauft man ein Ticket für ein Musikkonzert, ist es immer auch gekaufte Ekstase, ein gekaufter Rausch. Für den Philosophen Tristan Garcia gehören solche Momente zum moralischen Lebensprinzip unserer Gesellschaft. In seinem Essay «Das intensive Leben: Eine moderne Obsession», der in Frankreich als «intellektuelles Ereignis» gefeiert wird, sucht er nach der Maxime der modernen Gesellschaft.
Und die heisst nicht «Sei fleissig und arbeite!» oder «Handle so, wie du es von anderen auch erwarten würdest.». Die Maxime in unserer Gesellschaft lautet:
«Lebe intensiv! Spür das Leben in dir!»
Weshalb das so ist? Der Philosoph erklärt es so: Ohne ein Leben nach dem Tod bleibt dem Menschen nur das Leben im Diesseits. Und das kann verdammt kurz sein. Deshalb gelte es, sein Leben immer mehr zu intensivieren. Ein schlechtes Leben ist eines in der Routine, gefangen im Alltag. Ein schlechtes Leben verschwindet konturlos im dicken Nebel.
Aber: Stumpft man auf der Suche nach immer neuen Kicks nicht irgendwann ab? Ja, klar. Der hundertste Sprung mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug wird sich dem allerersten wohl nicht im Geringsten ähneln. So wie es die
junge Band «Isolation Berlin» in dem Song «Kicks» singt. «Ich hab alles schon geliebt / Ich hab alles schon gehasst» und später «Alles was ich kenne, taugt mir nichts / Ich brauche neue Kicks.»
Demnach muss unsere Gesellschaft also versuchen, das intensive Leben zu ordnen. Der Philosoph Tristan Garcia, der als Denker der Stunde gilt, fordert eine Ethik des intensiven Lebens, eine Ethik des Rausches. Er schreibt in seinem Essay: «Die Kraft eines Lebens ist etwas sehr Heikles. Um sich so lange wie möglich lebendig zu fühlen, muss man sich auf den Kammlinien der Ideen und Empfindungen halten und erreichen, dem Taumel der Lebensbejahung nicht nachzugeben und auch nicht in den Abgrund der Lebensverneinung zu stürzen.
Weder im Hamsterrad verenden, noch am Himmel als Rakete explodieren. Das klingt sinnvoll. Fast zu einfach. Und so wie das irrsinnig dumme Wort «Work-Life-Balance», welches uns die Leistungsgesellschaft als Lösung anbietet. Wer schafft schon den Balance-Akt, alles im Gleichgewicht zu halten? Ein Akrobat im Zirkus vielleicht.
Der Rausch ist verlockend, gefährlich, ein zentraler Bestandteil des menschlichen Wesens. Und er hat uns wohl zu dem gemacht, was hier heute sind. Weshalb der Mensch sesshaft wurde? Weshalb sich Jäger und Sammler zu Ackerbauern entwickelten? Wegen dem Bier. Zumindest ist das eine griffige These von Evolutionsbiologen. Am Anfang war das Bier. Und davon werden an diesem Wochenende in Gampel rund 128 000 Liter ausgeschenkt und getrunken. Und verschüttet.
Drogen und Rausch gleichzusetzen wäre aber falsch. «Ich bin gegen Drogen, aber ich liebe den Rausch», sagt etwa der Schriftsteller Lukas Bärfuss. «Zu einem erfüllten Leben gehört der Rausch.» Die Musik kann die Eingangspforte in den Rausch sein. Und der Tanz der Ausdruck eines lebendigen Menschen in Ekstase. Nicht ohne Grund führt Garcia in seinem Essay das Symbol der elektrischen Gitarre ein. Mit der E-Gitarre als Widerstand gegen die Erschlaffung. Als Widerstand gegen die Routine des Alltags.
Auf ein rauschendes Fest folgt oftmals ein Kater. Und das nicht nur der Stimulanzen wegen. Im Anschluss ans Open Air spricht man sogar von Post-Festival-Depressionen. Tagelang sitzt man mit Freunden auf einem Camping-platz, lacht, macht dumme Sprüche, trifft auf attraktive Menschen, tanzt, springt, singt. Und am Montag ist man ausgelaugt. Dieser Kater gehört dazu. Und ist gleichzeitig ein Warnsignal. Im besten Fall für ein gutes, vergangenes Fest. Und dass sich die Feste nicht nahtlos aneinanderreihen sollen.
Auch in diesem Jahr wird das Gelände des Open Air Gampel am Sonntagabend aussehen wie ein postapokalyptisches Kriegsterritorium: zerschnittene Zeltblachen, verbogene Metallstangen und tonnenweise Abfall – das Ergebnis eines gekauften Rausches auf einem Terrain ohne Regeln. Gleichzeitig gedeihen auf diesem Boden in jedem Jahr auch Millionen wunderbarer Erinnerungsfetzen, lustige Anekdoten und ein Gefühl von Freiheit. Bereits am Montag hetzen viele Besucher wieder über den Spannteppich eines schmucklosen Grossraumbüros. Da holt man gerne eine Erinnerung aus dem Gampel-Archiv heraus. Und muss ein Lachen unterdrücken.
Mathias Gottet
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