Migration | Patrick Willisch über Walliser Auswanderer und Einwanderer
«Eigentlich sollte man den Italienern ein Denkmal im Wallis errichten»
Seit Jahren erforscht Patrick Willisch die Migrationsgeschichte des Kantons. Zuletzt erschien sein Forschungsbericht zum Thema «Das Wallis in Bewegung». Wie der Historiker hervorhebt, gibt es in diesem Bereich noch zahlreiche offene Fragen zu klären.
Patrick Willisch, Sie setzen sich intensiv mit der Walliser Migrationsgeschichte auseinander. Woher kommt die Motivation dazu?
«Das Fremde interessiert mich seit meiner Kindheit. Ausserdem scheint es mir wichtig, dass die Einwanderer, die diesen Kanton in vielerlei Hinsicht geprägt haben, vermehrt als Akteure und nicht als passive Subjekte in der Walliser Geschichte betrachtet werden. Was beispielsweise die Italiener für unseren Kanton bei den grossen Infrastrukturbauten wie Tunnels, Strassen und Staudämmen geleistet haben, ist grossartig. Eigentlich sollte ihnen dafür ein Denkmal errichtet werden.»
Im 19. Jahrhundert zogen zahlreiche Walliser in weit entfernte Länder. Gibt es konkrete Zahlen zu den Emigranten?
«Die genaue Zahl der transkontinentalen Auswanderer lässt sich aufgrund lückenhafter Quellenbestände nicht mehr feststellen. Mein Unterwalliser Kollege Eric Maye geht allein für den Zeitraum von 1850 bis 1880 von 15'000 Emigranten aus.»
Nicht nur Argentinien wurde angesteuert. Wo zog es die Walliser sonst noch hin?
«Im Gegensatz zu anderen Schweizer Auswanderern, für welche die USA das Hauptzielland waren, bevorzugten 85 Prozent der Walliser im 19. Jahrhundert Südamerika. Allein 80 Prozent entfielen auf Argentinien. Die restlichen fünf liessen sich in Brasilien, Uruguay oder Chile nieder. Der Anteil Nordamerikas lag bei rund 12 Prozent. Auf Nordafrika entfielen rund 3 Prozent.»
Mit Erfolg?
«Die Auswanderung nach Süd- und Nordamerika kann man im Grossen und Ganzen als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Zum Desaster wurde hingegen die im Oberwallis wenig bekannte Auswanderung in die französische Kolonie Algerien. 16 Siedler stammten aus dem Oberwallis, wobei sie größtenteils nicht im Familienverband nach Algerien emigrierten.»
Worauf ist dieses Desaster zurückzuführen?
«Die Malaria demoralisierte und dezimierte die Walliser Auswanderer in der Ebene der Mitidja. Hinzu kamen Infektionskrankheiten wie Cholera und Typhus. Ein Grund für das Scheitern war aber sicher auch die mangelnde Anpassung der Siedler an die neue Umgebung. Sie trugen ungeeignete Kleider und massen der Hygiene zu geringe Bedeutung bei. Einige Männer und Frauen versuchten ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken. Von den 1013 Wallisern, die 1851 nach Algerien ausgewandert waren, starben in den darauffolgenden zwei Jahren 170. Auch die Zahl der Rückwanderer lag extrem hoch.»
Warum siedelten die Auswanderer im 19. Jahrhundert nicht einfach in andere Regionen des Wallis oder in grössere Schweizer Städte um?
«Das Wallis war lange Zeit ein bitterarmer Kanton und bot wenig Perspektiven. Die Landwirtschaft besass ein sehr hohes Prestige. Als Fabrikarbeiter in die Deutsch- oder Westschweiz zu ziehen, galt lange nicht als erstrebenswert. Aber es gab ja die Alternative der transkontinentalen Auswanderung. Man konnte beispielsweise als Siedler in der argentinischen Pampa weiterhin Landwirtschaft betreiben und blieb so sein eigener Herr und Meister.»
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Wanderung innerhalb der Schweiz immer beliebter. Worin liegen die Gründe dafür?
«Warum die Binnenwanderung der Walliser immer wichtiger wurde, ist bis jetzt noch nicht untersucht worden. Einerseits verlor die Auswanderung in die USA durch den 1. Weltkrieg, die Einführung von Einwandererquoten und die Weltwirtschaftskrise von 1929 stark an Bedeutung. Andererseits schuf der Boom der Schweizer Wirtschaft in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg neue Arbeitsplätze und könnte die Walliser zum Umdenken bewogen haben.»
Bereits im 19. Jahrhundert sind auch Zuwanderungen ins Wallis dokumentiert. Wie kommt es, dass zahlreiche Walliser den Kanton verliessen und gleichzeitig ausländische Familien einwanderten?
«Da die Walliser wenig Interesse an Handwerk und Gewerbe bekundeten und ihnen der Unternehmergeist grösstenteils abging, konnten Migranten als Bäcker, Metzger, Müller, Maurer, Schreiner, Zimmerleute, Schmiede, Wagenbauer und Glasarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch wenn es einige Familien zu Wohlstand und Ansehen brachten, war doch den meisten Einwanderern ein hartes und karges Leben beschieden. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich jedoch nicht von den Einheimischen.»
Um den Wechsel ins 20. Jahrhundert kam es dann zu einer regelrechten Zuwanderungswelle. Weshalb?
«Für den Bau des Simplon- und Lötschbergtunnels benötigte man viele ausländische Arbeitskräfte, die aus Italien stammten. Im Gegensatz zur übrigen Schweiz setzte man diese vor allem bei Infrastrukturbauten ein, so für Tunnels, Wasserkraftwerke und Strassen. Der Ausländeranteil stieg im Jahr 1910 auf 11,2 Prozent. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs verliessen viele Migranten das Wallis. Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung im Wallis sank 1920 auf 5,7 Prozent.»
Eine weitere Welle folgte nach dem 2. Weltkrieg. Wo liegen die Gründe?
«Wie in der ersten Modernisierungsphase des Wallis von 1895 bis 1914 stand auch in den drei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg die Entwicklung der Infrastruktur im Mittelpunkt. Die einheimische Bevölkerung, die sich nun immer mehr von der Landwirtschaft abwandte, konnte den gewaltigen Bedarf an Arbeitskräften jedoch nicht decken, so dass man auf ausländische Arbeiter zurückgriff. Zwischen 1953 und 1961 stellte man 90 Prozent aller Arbeitsbewilligungen an Italiener aus. In ihrem Ausmass erinnerte die italienische Einwanderung nach 1945 an diejenige um die Jahrhundertwende.»
Naters oder Brig zählten um die Wende ins 20. Jahrhundert plötzlich mehr Ausländer als Einheimische. Verlief das Zusammenleben völlig reibungslos?
«Nein, aber da es wenige Kontakte zwischen den Italienern und der einheimischen Bevölkerung gab, kam es relativ selten zu Konflikten. Solche waren meist auf übermässigen Alkoholgenuss zurückzuführen. Wahrscheinlich hat auch die Tatsache, dass es in Brig, Glis und Naters mehr Italiener als Oberwalliser gab, die Einheimischen von Übergriffen abgehalten.»
Bis Ende der Siebzigerjahre kamen hauptsächlich italienischstämmige Personen ins Rhonetal. Heute sind es überwiegend Portugiesen. Weshalb kam es zu diesem Wechsel?
«Der Rückgang der italienischen Bevölkerung im Wallis hatte verschiedene Gründe. Durch die Wirtschaftskrise verlor unser Kanton zwischen 1973 und 1976 die Hälfte der ausländischen Arbeitskräfte. Hinzu kommt, dass der industrielle Aufschwung im Heimatland viele Italiener zur Rückkehr bewog. Ausserdem entsprach der stark auf Saisonniers ausgerichtete Walliser Arbeitsmarkt den Erwartungen der ausländischen Arbeitskräfte immer weniger. Für sie waren die Kantone Waadt und Genf weitaus attraktiver. 1981 sank die Zahl der italienischen und spanischen Saisonniers im Wallis deshalb um 10 Prozent. Die Hotellerie, der Hoch- und Tiefbau stellten nun vor allem Portugiesen und Jugoslawen ein. 42 Prozent der Saisonniers stammten aus Portugal und 27 Prozent aus Jugoslawien.»
Wie gut ist die Walliser Migrationsgeschichte überhaupt erforscht? Gibt es noch offene Fragen?
«Ja, es gibt noch einiges zu tun. Nach wie vor fehlt eine grössere Studie zur Auswanderung in die USA. Noch weniger wissen wir über die Wanderungen der Walliserinnen und Walliser in europäische Nachbarländer. Interessante Forschungsfelder wären zudem der französische Mittelmeerraum mit dem entstehenden Tourismus, der Walliser Arbeitskräfte anzog, sowie die Bildungs- und Ausbildungswanderung im europäischen Rahmen. Noch unerforscht ist auch die Arbeitswanderung aus dem Wallis in stärker industrialisierte Gebiete der Schweiz.»
Und bei der Zuwanderung?
«Bei der Einwanderung gilt es vor allem, die Zeit nach 1945 zu erforschen. Über das Vereinswesen, beispielweise die Colonia Italiana, und die sozialen Netzwerke der Ausländer existieren keine wissenschaftlichen Forschungen. Die Immigranten sollten vermehrt als Akteure in die Walliser Geschichte einbezogen werden. Welche Rolle spielten sie in den Gewerkschaften, in der Kultur und im Sport? Wie veränderten sie das Wallis? Wünschenswert wären auch Studien über die neuen Einwanderer aus Portugal, Serbien, Kroatien, Kosovo und Mazedonien sowie die aussereuropäische Einwanderung.»
Zur Person
Dr. Patrick Willisch wuchs in Ried-Brig auf und lebt heute in Thun. Der 51-Jährige arbeitet als Geschichts- und Deutschlehrer am Sittener Gymnasium «Les Creusets» und ist Vorstandsmitglied des Geschichtsforschenden Vereins Oberwallis. 2004 erschien seine Doktorarbeit «Die Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Wallis 1850 – 1880» im Rotten Verlag. Anfangs September veröffentlichte er einen grösseren Aufsatz zum Thema «Das Wallis in Bewegung. Ein Forschungsbericht zur Migrationsgeschichte im 19. Jahrhundert» in den «Blättern aus der Walliser Geschichte» 2016.
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Kommentare
ImErnst - ↑15↓0
Ja, ein Denkmal an die Italiener, für ihre schweren Arbeiten an Tunnels, Stausee Mattmark und vielem mehr. Und ein DANKESCHÖN für eine Integration ohne Gewalt und vor allem ohne die Forderungen der heute Kommenden. Menschen, die hier ihren Lebensunterhalt verdienten. Die von den Politikern nicht gehätschelt wurden. Friedliche, arbeitsame Menschen, die waren/sind eine Bereicherung für die Schweiz.
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AnnFe - ↑5↓0
Herzlichen Dank! Nur war es nicht leicht für unsere Väter damals. Es hieß, sie wären streitsüchtig, würden den Einheimischen die Frauen stehlen, die Arbeit wegnehmen etc.. man erinnere sich an die Schwarzenbach-Initiative. Viele Argumentationen von damals hört man heute wieder - nur haben die Nationalitäten gewechselt.