COVID-19 | Wie entscheidet das medizinische Personal, wer beatmet wird, wenn nicht genug Geräte da sind? Dr. Damian König, Präsident des klinischen Ethikrats am Spital Wallis sagt:
«Die kurzfristige Prognose ist das Hauptkriterium»
Die Ansteckungszahlen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 steigen nicht mehr exponentiell an. Die Anzahl Fälle nimmt aber noch wie vor zu – und mit ihr die Anzahl Personen, die auf intensivmedizinische Behandlungen angewiesen sind. Auf diesen Fall bereiten sich Spitäler seit Wochen vor. Was aber geschieht, wenn die Anzahl Patienten jene der Intensivbetten und Beatmungsgeräte übersteigt? Wie geht das medizinische Personal bei der Triage vor? Dr. Damian König, Präsident klinischer Ethikrat Spital Wallis, erklärt.
Dr. Damian König, die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) rechnet mit einem Massenzustrom von Patienten in Akutspitälern. Erwarten auch Sie den Sturm nach der momentanen Ruhe?
«Wir sind bereits jetzt in einer unruhigen Phase, obwohl im Wallis der Höhepunkt der Erkrankungen noch längst nicht erreicht wurde. Leider müssen wir uns aber darauf vorbereiten. Auf Bundesebene wurden Massnahmen ergriffen, um diese Phase zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen, damit die Spitäler nicht überlastet werden.»
Für die stürmischen Zeiten haben Sie sich als Präsident des klinischen Ethikrats des Spital Wallis vorbereitet und mit der SAMW und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) ein Triagesystem entwickelt.
«Die SAMW hat extrem rasch auf eine allfällig eintreffende Krisensituation reagiert und innert kürzester Zeit Richtlinien erarbeitet. Diese wurden vom medizinischen Korps und den Rettungsdiensten, die ebenfalls an diese Richtlinien gebunden sind, sehr gut aufgenommen. Dank diesen Richtlinien kann schweizweit ein einheitlicher Standard gewährleistet werden, sollte der Fall eintreffen, dass wir aufgrund von Ressourcenknappheit eine Triage von intensivmedizinischen Behandlungen machen müssen. Dank dieser Richtlinien können wir die Willkür aus dem Aufnahmeprozess ausschliessen. Und letztlich sollen sie das Vertrauen stärken.»
«Die Richtlinien schliessen Willkür aus dem Aufnahmeprozess aus und sollen dadurch das Vertrauen zwischen Pflegepersonal, Patienten und Angehörigen stärken»
Das Vertrauen stärken?
«Ja. Dank der Richtlinien soll das Vertrauen zwischen der Bevölkerung und dem Spitalwesen gestärkt werden, zwischen Pflegefachpersonen und Patienten, aber auch beim Pflegepersonal untereinander. Dies, weil die Richtlinien mit objektiven Kriterien einen gerechten Prozess auf transparente Weise festhalten. So können die von Fachpersonen getroffenen Entscheide aufgrund der Dokumentation jederzeit nachvollzogen und jegliche Willkür ausgeschlossen werden.»
Mittlerweile wurde bereits eine zweite Version veröffentlicht, eine dritte soll bald folgen. Aus welchem Grund?
«Wir sehen uns mit einer Pandemie konfrontiert, die uns nach wie vor weitgehend unbekannt ist. Aufgrund dieser aussergewöhnlichen Situation müssen wir in der Lage sein, rasch auf Veränderungen reagieren zu können und die Richtlinien aufgrund von Erfahrungen zu verbessern. Das klingt jetzt vielleicht hart, aber die Länder, die bereits in extremen Situationen sind, wie beispielsweise Italien, haben uns gezeigt, wie wir vorgehen müssen oder eben nicht. Dank dieser Beispiele und Erfahrungen versuchen wir die Richtlinien bestmöglich anzupassen. Es ist nicht auszuschliessen, dass sie im Laufe der kommenden Tage und Wochen nicht noch einmal angepasst werden.»
«Das Alter auf der Identitätskarte ist kein Kriterium.
Indirekt ist das Coronavirus aber diskriminierend, weil ältere Menschen stärker betroffen sind»
Wie sehen diese Richtlinien aus?
«Die Richtlinien haben zum Ziel, schweizweit einen einheitlichen Kriterienkatalog zu bestimmen, sollte es aufgrund von Ressourcenknappheit zu einer Triage der intensivmedizinischen Pflegeplätze kommen. Oder klarer ausgedrückt: Sie sollen Aufschluss geben über den Entscheidungsprozess, sollten die Intensivpflegebetten, die Beatmungsgeräte oder das Pflegepersonal knapp werden und die Anzahl Patienten unterschreiten.»
Und wie geht man konkret vor?
«Vorneweg: Sie werden nur umgesetzt, wenn nur noch wenige oder gar keine Intensivpflegebetten mehr zur Verfügung stehen, was zurzeit nicht der Fall ist. Die vier wichtigen medizinisch-ethischen Prinzipien ‹Gutes tun›, ‹Nichtschaden›, ‹Respekt vor der Autonomie› und ‹Gerechtigkeit› werden grundsätzlich beibehalten, aber von der individuellen auf eine gesamtgesellschaftliche Stufe gehoben, mit dem Ziel, so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Die medizinischen Kriterien für die Aufnahme auf die Intensivstation werden verschärft, aber ohne zu diskriminieren. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen sind ohne Ungleichbehandlung zu verteilen.»
Inwiefern?
«Die Ressourcen dürfen nicht nach Alter, Geschlecht, Wohnort, Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, sozialer Stellung, Versicherungsstatus oder chronischer Behinderung verteilt werden. Die Kriterien sind in den Richtlinien unmissverständlich festgehalten. Entscheidend für die Einschätzung des medizinischen Personals ist die kurzfristige Prognose. Also wie hoch die Chance ist, dass der Patient dank einer intensivmedizinischen Behandlung weiterlebt. Da nur die kurzfristige Prognose entscheidend ist, ist das Alter kein direktes Kriterium. Indirekt ist das Coronavirus aber diskriminierend, weil ältere Menschen aufgrund von Vor- oder Begleiterkrankungen geringere Überlebenschancen haben.»
Bekanntheit erlangte die Triage zu Zeiten Napoleons als Begriff der Militärmedizin. Jene, die auf dem Schlachtfeld ohne Hilfe genesen und jene, deren Überlebenschancen minim sind, werden nicht verarztet. Nur jene, bei denen ein Eingriff zum Überleben helfen kann, werden behandelt.
«Sollten die Richtlinien zur Anwendung kommen, könnte sich der Vergleich mit diesen Triage-Kriterien aus der Kriegsmedizin leider bewahrheiten. Man darf jedoch die anderen Dienste des Krankenhauses nicht vergessen, die in jedem Fall weiterhin die Patienten versorgen und entlasten werden.»
In den Richtlinien werden zwei Phasen angesprochen. Was sind das für Phasen?
«Es handelt sich um zwei Ebenen der Verfügbarkeit von intensivmedizinischen Ressourcen. Die erste Ebene behandelt verfügbare, aber knappe Ressourcen, die zweite Ebene, dass es überhaupt keine Betten mehr gibt. Jede Ebene bedingt spezifische Kriterien, je nach Ernst der Situation. In der ersten Phase sind die Kriterien streng, in der zweiten noch strenger.»
Die Massnahmen dürfen gemäss Richtlinien nicht diskriminierend sein. Ist eine Triage aber nicht per Definition diskriminierend?
«Es stimmt, dass wir eine Auswahl treffen müssen. Diese wird aber auf transparenten und objektiven Kriterien getroffen. Das Hauptkriterium ist aber die Gleichbehandlung, sprich ähnliche Situationen gleich behandeln. Man darf niemanden aus Willkür jemand anderem vorziehen.»
«Im Notfall müssen wir eine Auswahl treffen und tun dies anhand transparenter und objektiver Kriterien. Man darf niemanden aus Willkür jemand anderem vorziehen»
«Das Alter per se ist kein Kriterium, das zur Anwendung gelangen darf», steht in den Richtlinien. Indirekt wird es aber dennoch berücksichtigt…
«Das ist so. Aber nicht das Alter auf der Identitätskarte. Die meisten Patienten, die aktuell auf der Intensivstation behandelt werden, sind ältere Menschen. Wir möchten jüngere Patienten nicht per se besser behandeln als ältere. Es gibt kein Leben, das mehr wert ist, als ein anderes. Um möglichst viele Menschen auf der Intensivstation zu retten, ist die kurzfristige Prognose das Hauptkriterium. Diejenige Person, die von der intensivmedizinischen Behandlung am meisten profitiert, muss priorisiert werden. Sei sie alt oder jung. Im Zusammenhang mit diesem Virus beeinflussen das Alter und die damit einhergehenden Krankheiten die kurzfristige Prognose älterer Menschen und damit indirekt die Triage.»
Auch die soziale Stellung sei kein Grund, jemanden prioritär zu behandeln. Ein Beispiel: Zwei über 65-jährige Menschen werden zeitgleich in den Notfall eingeliefert. Ihr gesundheitlicher Zustand ist gleich, es hat aber nur noch ein Bett. Eine Person ist Rentner, während die andere ein hohes politisches Amt im Kanton ausübt. Wie entscheiden Sie?
«Dieses Beispiel gibt es nur in der Theorie, weil immer eine Person besser auf die Behandlung reagieren würde als die andere. Und zum Glück halten die Richtlinien klar fest, dass die soziale Stellung, sei sie politisch, wirtschaftlich oder was auch immer, in keinem Fall ein Kriterium ist. Nie.»
«Eine Patientenverfügung soll nicht aus dem Antrieb, ein anderes Leben retten zu wollen, verfasst werden. Sie ist kein Aufruf an Menschen der Risikogruppe, sich zu opfern»
Kann es bei einer Person, die künstlich beatmet wird, aber nicht auf die Therapie anschlägt, zu einem Behandlungsabbruch kommen, damit das Beatmungsgerät für jemand anderen benutzt werden kann?
«Kommt es zur Situation, in der nicht mehr genügend Betten auf der Intensivstation verfügbar sind, werden die Kriterien über einen allfälligen Behandlungsabbruch zu Rate gezogen. Stabilisiert sich der Zustand eines Patienten nicht, darf die Behandlung abgebrochen werden. Wir müssen den Patienten in diesem Fall – und das ist eminent wichtig – palliativ betreuen. Auch dies ist in den Richtlinien klar festgehalten.»
Wie können betroffene Person sicherstellen, dass ihr Wille auch auf der Intensivstation respektiert wird?
«Idealerweise teilt uns der Patient selbst mit, welche Behandlung er wünscht und bis zu welchem Stadium wir eine allfällige Behandlung weiterführen sollen. Befindet man sich aber bereits auf der Intensivstation und wird künstlich beatmet, ist die Wahrscheinlichkeit sehr klein, dass man den eigenen Willen noch ausdrücken kann. Deshalb empfehlen wir allen, die einer Risikogruppe angehören, ihren Willen im Voraus festzuhalten. Zum Beispiel mit einer Patientenverfügung.»
Wie stellt man sicher, dass eine Patientenverfügung rechtsgültig ist? Eine handgeschriebene Notiz auf dem Einkaufszettel wird kaum ausreichen…
«Eine Patientenverfügung kann man mit dem Hausarzt verfassen, dort erhält man Rat und Unterstützung. Sie kann aber auch zu Hause verfasst werden, wenn man genau weiss, was man möchte. Wichtig ist, dass ein Datum darauf steht und die Verfügung unterschrieben ist. Ansonsten gibt es wenig Formalitäten, die es zu berücksichtigen gilt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, einen Vertreter zu bestimmen, der den eigenen Willen im Ernstfall kommunizieren kann. Diese Person muss kein Arzt sein, es darf auch ein Angehöriger sein. Auf jeden Fall aber eine Person, der man vertraut. Auch ein Vertreter muss schriftlich und mit Datum versehen und unterschrieben festgehalten werden.»
Nichts Komplexes also.
«Nein. In der Form ist eine Patientenverfügung sehr einfach, solange die Person selbst noch urteilsfähig ist. Aber die Reflexion über das Thema braucht viel Kraft.»
Im Vorgespräch deuteten Sie an, dass ältere Personen sich für jüngere Generationen zuweilen ‹opfern›. Das ist aber nicht der Sinn der Sache.
«Die Patientenverfügung soll festhalten, welche Behandlung ein Patient für die eigene Gesundheit akzeptieren möchte. Also den eigenen Willen im Voraus festzuhalten, sollte man ihn einst nicht mehr selbst kommunizieren können. In keinem Fall aber soll mit einer Patientenverfügung auf das eigene Leben verzichtet werden, aus dem Antrieb heraus, ein anderes Leben damit retten zu wollen. Die Patientenverfügung ist kein Aufruf an Menschen der Risikogruppe, sich selbst zu opfern.»
«Die vier medizinisch-ethischen Prinzipien werden beibehalten, aber von der individuellen auf eine gesamtgesellschaftliche Stufe gehoben, mit dem Ziel, so viele Menschenleben wie möglich zu retten»
Einige Menschen kleben sich einen «No CPR»-Sticker auf die Brust, mit dem sie ausdrücken, dass sie auf eine Reanimation verzichten. Sind diese Sticker einer Patientenverfügung gleichwertig?
«Ob es nun eine Tätowierung oder ein Sticker auf der Brust ist oder eine Kette mit Anhänger um den Hals: Im Notfall muss dies die Pflegefachperson respektieren, weil davon ausgegangen werden muss, dass es dem Willen der Person entspricht. Man spricht in diesen Situationen auch vom vermuteten Willen, der rechtlich abgestützt ist.»
Adrien Woeffray
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Kommentare
Hans Eyer, Naters - ↑1↓0
Hört doch endlich auf mit den ganzen Konjunktiv Berichterstattungen! Und ausserdem ist jedes Leben wichtig und lebenswert über 65 oder nicht! Hysterie und Diskreminierung vom schlimmsten; wenn es um Frauen oder Flüchtlingsthemen geht wird „menschenfreundlicher“ berichtet als jetz!
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Siegfried Heinzen, Naters - ↑8↓2
Ich bin 70 und gehöre schon zur Risikogruppe. Ich glaube nicht so recht, dass wenn sie einen älteren und einen jüngeren Menschen mit gleichen Aussichten zur Genesung haben sich dann für den älteren Menschen entscheiden. Es sollte überhaupt keine Ausscheidung erfolgen vielmehr nach Einlieferung (zeitlich). Nur so können sie gerecht handeln. Jeder Mensch alt oder jung hat das Recht auf Hilfe und Leben.
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Gerfriede Bunkenstedt, Kalpetran - ↑5↓0
Da haben Sie völlig recht!
Doch wenn mehr Leute *gleichzeitig* eingeliefert werden, als Behandlungskapazität zur Verfügung steht, *muss* entschieden werden, wer von den 5...20 denn nun das Bett kriegt.
Versetzen Sie sich mal in die Situation eines Arztes während einer Triage:
Ein Mensch, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Menschen zu heilen, soll unter 20, die er alle heilen könnte, einen einzigen auswählen, und die restlichen ihrem Schicksal überlassen.
Genau um dieses zu vermeiden, machen wir ja diesen ganzen nervigen Scheiss, mit daheim bleiben, bei dem geilen Wetter in der Stube hocken, keine Leute treffen, Geschäftsbetrieb auf Minimum, öffentliches Leben ganz runterfahren... - um das Virus möglichst langsam zu verbreiten - "die Kurve flach halten" - um eben nicht in diese Situation einer Triage zu geraten.
Genau das nämlich ist 'präventiv' - handeln *bevor* etwas passiert, damit es möglichst erst gar nicht eintritt.
Im Gegensatz zu 'reaktionär' - erst mal gar nix machen, und dann hektische ad hoc Lösungen aus der Hüfte schiessen, mit unterm Strich dann deutlich grösserem Aufwand, Kosten, Verlusten und Schäden.
Nur leider ist den wenigsten Menschen eine Notwendigkeit zu vermitteln, solange sie es noch nicht am eigenen Hals spüren - doch dann ist's zu spät. Dann lässt sich nur noch Schadensminimierung betreiben. Und die heisst in diesem Fall: Triage
ICH verlasse möglichst die Wohnung nicht, damit kein Arzt in die Situation gerät, einen unter mehreren auswählen zu *müssen* - von denen SIE dann einer sein könnten, sondern damit das Recht auf gleiche Behandlung auch Ihnen gewährt werden kann, indem ich versuche, die medizinische Kapazität möglichst nicht zu belasten, damit sie ggf. IHNEN zur Verfügung steht.
Ich bleibe zu Hause, und wenn nicht, halte ich Abstand, wegen Ihnen und allen anderen.
Das kapieren leider längst nicht Alle, halten beim Einkauf keinen Abstand, treffen sich in Gruppen auf Freiflächen, gehen Motorradfahren, quengeln rum ob der Wirtschaftslage - ja, keine Frage, sicher ist das sch.., aber wie stand's hier die Tage
"Ich stand vor der Wahl: Mein Bein oder mein Leben."
Niemand schreit 'Hurra' wenn's ans Amputieren eines Körperteils geht, doch wenn höhere Gewalt sie zu der Entscheidung zwingt, wie entscheiden sie sich?
Für ihr Bein oder ihr Leben?
Um im Bild zu bleiben:
Die derzeitigen Massnahmen kosten uns etwas, das wächst wieder nach.
Aber es liegt an unserer Geduld, ob nicht doch bleibende Schäden davon getragen werden.
Wenn zum Beispiel die Massnahmen zu früh gelockert werden, kann es immer noch zu einer Triage Situation kommen; denn wir sind längst noch nicht über den Berg drüber!
Geduld, Respekt und Solidarität machen uns stärker, und helfen uns nach der Krise.