Blick über die Grenze | Hermann Biner (Zermatt/Stockholm) sagt, warum Schweden weitgehend auf Verbote verzichtet
«Sich unsolidarisch zu verhalten, ist hier ein absolutes No-Go»
Schweden scheint in der Bewältigung der Corona-Krise bisher etwas gegen den Strom zu schwimmen. Statt auf Verbote wird auf Mitverantwortung gesetzt. Diese wird von der Bevölkerung sehr ernst genommen, sagt der Zermatter Hermann Biner.
Hermann Biner, wie lebt es sich im Moment in Schweden?
«Hier versucht die Regierung eine Balance zu finden zwischen der Eindämmung des Virus einerseits und eines grossen wirtschaftlichen Schadens durch einen vollständigen Stillstand andrerseits. Um zwei Uhr täglich gibt es eine Fernsehkonferenz mit Empfehlungen und Informationen der Regierung hierzu. Man möchte möglichst wenig einschneidende Massnahmen verordnen und appelliert hauptsächlich an die Disziplin der Bevölkerung.»
Und das funktioniert?
«Aus meiner Sicht bisher erstaunlich gut. Restaurants sind uneingeschränkt offen, werden aber wenig besucht. Es gibt keine Ausgangssperre, aber die Strassen sind fast leer. Dass sich die Menschen immer noch in Strassenpartys vergnügen, wie in der Schweiz nach Schliessung der Schulen, ist in Schweden undenkbar.»
Wie erklären Sie sich das?
«In Schweden hat die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft («Sammhället») grosse Bedeutung und es ist ein absolutes No-Go, sich in dieser Beziehung unsolidarisch zu verhalten. Auch das mag ein Grund sein, wieso Schweden bisher einschneidende Verbote vermeiden konnte. Ob das so bleibt, hängt von der Disziplin der Bevölkerung ab. Die internationale Kritik, dass Schweden sich nicht um die Pandemie kümmere, übersieht diesen Aspekt.»
Welche Einschränkungen gelten aktuell im Alltag?
«Versammlungen über 50 Personen sind verboten, dementsprechend steht auch der gesamte Sport still. Kinos oder Museen haben den Betrieb eingestellt. Altersheime dürfen nicht besucht werden. Die Schulen sind ab Gymnasium aufwärts geschlossen.»
Getreu der sozial-liberalen Grundhaltung der Gesellschaft wird also an Vernunft und Selbstverantwortung appelliert?
«Genau. Ausser diesen klaren Regeln beschränkt sich die Regierung auf Empfehlungen wie Abstand halten, Hygieneregeln beachten oder soziale Kontakte auf das Nötigste reduzieren. Andere Massnahmen werden lediglich vorgeschlagen. So zum Beispiel die Schliessung der Skigebiete, welche auch umgehend umgesetzt wurde. Das Nachtleben in Stockholm steht (freiwillig) still. Die Mentalität ist also schon anders. Im Tessin macht man sich Sorgen um Besucher aus der Deutschschweiz. Hier genügt eine Empfehlung der Regierung, auf Reisen zu verzichten. An Ostern wird kaum jemand in die südschwedischen Ferienregionen reisen.»
Welche persönlichen Massnahmen haben Sie zum eigenen Schutz vor dem Virus getroffen?
«Wir halten uns an die Hygienemassnahmen und haben unsere sozialen Kontakte auf das nötigste Minimum reduziert. Wir verzichten auf Reisen über Ostern und bleiben zu Hause auf Lidingö (eine Insel angrenzend an Stockholm) oder in unserem nahegelegenen Sommerhaus auf einer Insel in den Stockholmer Schären. Es ist unsere «Alphütte».»
Sie sind pensioniert und können sich den Alltag so einrichten. Wie ist es aber für Ihre Frau, die für verschiedene Firmen als Verwaltungsrätin tätig ist?
«Lilian bestreitet sämtliche Sitzungen per Videokonferenz. Sie arbeitet also von zuhause aus. Wir versuchen nebenbei fit zu bleiben und haben einen kleinen Trainingsraum im Keller. Hinzu kommt, wenn möglich, täglich ein einstündiger gemeinsamer Spaziergang. In unserer Nähe gibt es um die 50 km Waldwege. Das Gebiet ist so gross, dass man nur wenige Menschen trifft.»
Lange hiess es, Corona habe Skandinavien noch nicht erreicht, respektive gegenüber Mitteleuropa mit Verspätung. Wie präsentieren sich die aktuellen Infektions- und Todesfallzahlen?
«Schweden hatte, Stand Samstag, 4. April, 6’561 Infizierte und 391 Tote, wobei die Dunkelziffer wohl sehr hoch ist. Getestet werden nur Risikopatienten oder Spitalfälle. Die meisten kurieren die Krankheit zu Hause und werden in der Statistik nicht erfasst. Auch in unserem Bekanntenkreis gibt es mehrere solche, mild verlaufene Fälle. Die Zahlen steigen aber nicht im gleichen Masse wie in der Schweiz. Sie stieg in den letzten 10 Tagen von 240 auf 560 neue Fälle pro Tag. Die Schweiz erreichte den Tag Null (Anzahl Fälle > 100) am 5. März, Schweden am 6. März. Heute hat die Schweiz aber mehr als drei Mal so viele registrierte Infizierte. Wenn man die Fallkurven der beiden Länder vergleicht, ist Schweden vielleicht 10 Tage hinter der Schweiz. Die Zunahme neuer Fälle scheint hier aber flacher zu verlaufen. Das zeigt der Link www.coronakartan.se/tidslinje/.
Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?
«Vieles ist hypothetisch. Da man in Schweden momentan noch wenig testet, ist der Vergleich allerdings wenig aussagekräftig.»
Gestern stand im Sonntags Blick, mittlerweile greife bei euch die Panik um. Was merken Sie davon?
«Für mich ist diese Aussage nicht nachvollziehbar. Und auch in den schwedischen Medien ist von Panik bisher nichts zu vermerken. Feststellen kann ich, dass die Situation in den Spitälern, vor allem in Stockholm, sehr angespannt ist. Betten und Intensivplätze sind knapp. Schon jetzt mangelt es an Schutzmaterial und Personal. Die Situation hier ist deutlich kritischer als in der Schweiz. In Schweden ist das Gesundheitswesen («sjukvården») staatlich und gehört zum «Service Public». Die Kapazität ist schon in normalen Zeiten klein. Da wurde in den letzten Jahrzehnten wohl zu viel gespart. Verheerend ist die Situation in Altersheimen. Dorthin kommen in Schweden nur pflegebedürftige alte Menschen. Die Corona-bedingte Sterblichkeit ist hoch.»
Wie reagiert die Bevölkerung darauf?
«Die Bevölkerung scheint die Krise eher gelassen zu nehmen, befolgt aber strikt die Empfehlungen der Regierung. Man verhält sich verantwortungsbewusst gegenüber der Allgemeinheit. Niemand möchte in der Öffentlichkeit als unsolidarisch erscheinen. Eine Vollkaskomentalität stelle ich nicht fest. Man hilft sich möglichst selbst. Staatliche Rückfuhrflüge für im Ausland lebende Schweden sind mir nicht bekannt.»
Wie funktioniert das Wirtschaftsleben?
«Neben den eingangs erwähnten Restriktionen gibt es keine weiteren Verbote. Viele zusätzliche Massnahmen werden freiwillig umgesetzt. Wer kann, arbeitet zu Hause. Die zu Stosszeiten überfüllten U-Bahnen sind nur noch etwa ein Drittel ausgelastet. Die Wirtschaft läuft auf kleiner Flamme, ist aber nicht total gestoppt. Instrumente wie Kurzarbeit oder Arbeitslosenversicherung gibt es natürlich auch in Schweden. Sie werden im normalen Rahmen genutzt. Hilfspakete für die Wirtschaft wie in der Schweiz stehen momentan nicht zur Diskussion.»
Geht man davon aus, dass es noch heftiger wird?
«Ja, leider. Obwohl die Zahlen weniger stark steigen als in der Schweiz, rechnet man damit, dass die Spitäler bald an ihre Kapazitätsgrenze stossen werden, vor allem in der Region Stockholm. Hier wohnt rund ein Viertel der schwedischen Bevölkerung. Man beginnt jetzt, die Spitäler aufzurüsten und zusätzliche Betten zu schaffen. Das Militär hat in einem Messegelände südlich von Stockholm ein Feldspital in Betrieb genommen. Wenn die Zahlen aber weiter steigen, wird die Kapazität der Spitäler nicht reichen.»
Wie ist es im ländlichen, teils nur dünn besiedelten Raum?
«In den übrigen Regionen ist die Lage weniger angespannt. Schweden ist mit durchschnittlich 23 Einwohnern pro km2 ja auch viel dünner besiedelt als die Schweiz (207 pro km2). Schweden hat mit zehn Millionen Einwohnern nur unwesentlich mehr Einwohner als die Schweiz, ist aber elfmal grösser.»
Wenn Sie heute ein Zwischenfazit ziehen – wie sieht es aus?
«Ich hoffe, dass Schweden für die (sparsame) Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Lebens nicht einen zu hohen menschlichen Preis bezahlt. Ich hoffe auch, dass die Solidarität der Bevölkerung mit den Empfehlungen der Regierung dazu führt, dass die Zunahme der Krankheitsfälle ähnlich flach verlaufen wird, wie gegenwärtig in der Schweiz, ohne dass weitere einschneidende wirtschaftliche Massnahmen getroffen werden müssen. Das ist aber nur möglich, wenn sich jeder Bürger seiner Verantwortung bewusst ist.»
Thomas Rieder
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