Münster/Lyon | 85 Jahre Klosterleben einer Gommer Ordensfrau
«Marie Pia wollte freiwillig gehen»
Nein, aufs Bild wolle sie nicht, sagt die 92-jährige Katharina Lagger in breitem Gommer Dialekt. Schliesslich gehe es nicht um sie, sondern um ihre Schwester, Marie Pia, die damals, vor 85 Jahren das kleine Bauerndorf Münster verliess, um im welschen Lyon in ein Kloster einzutreten.
Katharina Lagger, die ihren Lebensabend im Haus St. Theodul in Fiesch verbringt, deutet auf ein abgegriffenes Album, das zahlreiche Schwarz-Weiss-Fotografien ihrer Schwester im Ordensgewand zeigt. Sie erzählt: Marie Pia, im Dezember 1915 geboren, sei die älteste von vier Kindern gewesen und habe, «wie es Brauch und Ordnung war», in Münster acht Schuljahre absolviert. Danach beschloss Marie Pia ihr Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Mit blutjungen 15 Jahren kehrte die Gommerin der weltlichen Welt den Rücken und trat als Schwester Marie Françoise in das geschlossenes Kloster der Gemeinschaft «Unserer Lieben Frau Maria-Himmelfahrt» in Lyon im Südosten Frankreichs ein.
Abschied für 15 Jahre
Seinerzeit war Katharina Lagger sieben Jahre alt. Die rüstige Rentnerin erinnert sich aber noch gut an den 24. Oktober 1930, als Marie Pia die grosse Reise von Münster nach Lyon antrat. «Bis nach Lausanne wurde Marie vom Vater begleitet. Dort empfing sie die Oberin des Klosters, um mit ihr weiter ins französische Lyon zu gelangen.» Ein Abschied für lange Zeit. 15 Jahre zogen ins Land, bis sich die beiden Schwestern nach Marie Pias endgültigem Fortgang wieder sehen sollten.
Vater und Mutter hätten Marie Pia damals wohl oder übel ziehen lassen müssen, blickt Katharina Lagger zurück. «Was hätten sie auch tun sollen?» Zwar wäre ihr Verdienst als das älteste von vier Kindern für die Bauersfamilie auch anzunehmen gewesen, «aber so war es halt». «Marie Pia wollte freiwillig gehen. Gezwungen wurde sie nicht», stellt ihre Schwester klar. Für den Klostereintritt hatte die Familie 1000 Franken zu entrichten. «Damals kein kleines Geld.»
Hinter geschlossenen Klostermauern
Mit «Gebet und Arbeit» beschreibt Katharina Lagger das Leben ihrer Schwester hinter geschlossenen Klostermauern. Kontakt hielt man anfänglich über handgeschriebene Briefe, später per Telefon. «Nach drei Jahren Noviziat legte Marie Pia mit 18 Jahren das Ordensgelübte ab.» Fortan lebte und wirkte sie als Schwester Marie Françoise und verrichtete im Kloster verschiedene hausinterne Dienste, zu denen auch die Pflege von demenzkranken Personen gehörte. Einige Jahre amtete sie ferner als Pfarrjungfrau und leitete den Religionsunterricht an einer Schule in Frankreich.
Die Regeln des klösterlichen Alltags sahen für die Schwesterngemeinschaft in Lyon, der eine Vielzahl von Gommer Klosterfrauen angehörte, keinen Freigang vor. Todesfälle von nahen Familienmitgliedern bildeten eine Ausnahme. Mehr Freiheiten gewährte man den Schwestern erst, als zahlreiche Ordensfrauen aus dem Goms in den Kriegsjahren an Tuberkulose erkrankten und nicht selten daran starben. Ein Arzt habe den Klosterverantwortlichen damals geraten, die Frauen gelegentlich zurück «in die Gommer Luft» zu entlassen, weiss Katharina Lagger. «Sonst hätte man bald alle Frauen begraben müssen.»
Und so kam es 1945 dazu, dass Schwester Marie Françoise, nach 15 Jahren Klosterlebens und den Wirren des zweiten Weltkriegs, gemeinsam mit weiteren Schwestern aus der Region ein erstes Mal zurück ins Goms kehrte. Mit drei Tagen fiel die Aufenthaltsdauer allerdings bescheiden aus. «Ich habe meine Schwester nicht mehr erkannt», beschreibt die damals 23-jährige Katharina Lagger das erste Zusammentreffen, welches jedoch nicht das letzte bleiben sollte. Denn später öffnete das Kloster seine Tore immer grosszügiger und die Ordensfrauen wurden schliesslich alljährlich für drei Wochen in die Ferien entlassen. Diese verbrachte Schwester Marie Françoise meist bei ihrer Familie in Münster.
Schwestern stehen wöchentlich in Kontakt
Am 3. Dezember 2015 wird Schwester Marie Françoise 100 Jahre alt. Heute lebt sie in einem Kloster in der französischen Bistumsstadt Le Puy. Vor etwa zehn Jahren sei die Institution in Lyon verkauft und Marie Françoise sowie deren Mitschwestern nach Le Puy-en-Valey umquartiert worden, so Katharina Lagger. Mit 23 Ordensfrauen – das jüngste Mitglied ist 70 Jahre alt – kämpfe die Gemeinschaft auch in Frankreich mit Nachwuchssorgen, berichtet sie weiter.
Beinahe allwöchentlich telefoniere sie mit Marie, die gegenwärtig die einzige Ordensfrau in Le Puy sei, die noch vom Goms komme. «Marie spricht fast kein Walliserdeutsch mehr. Sie sieht und hört nicht mehr gut.» Das mache die Verständigung per Telefon schwierig. Trotzdem bleiben die beiden Schwestern in Kontakt: «Letzthin habe ich Marie gesagt, dass ich sie – so wie sie höre und verstehe – ja nicht mehr anzurufen brauche», erzählt Katharina Lagger bewegt. Darauf habe die Ordensfrau geantwortet, sie wolle bloss die Stimme ihrer Schwester hören. «Das tut mir gut.» Und Katharina Lagger scheint es auch gut zu tun.
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