Interview | Die Historikerin Stephanie Summermatter hat zu dem Unwetter von 1868 geforscht
«Es war nicht mehr nur eine Strafe Gottes»
Wallis | Stephanie Summermatter ist fasziniert von den Geschehnissen des 19. Jahrhunderts. Im Interview spricht die Visperin über die grosse Katastrophe, die Spendengelder und die veränderte Erinnerungskultur.
Stephanie Summermatter, waren die Überschwemmungen von 1868 die schlimmsten, die das Wallis und die Schweiz bisher erlebt haben?
«Das ist schwierig zu beantworten. Die Zeit der flächendeckenden Aufzeichnungen hat erst Mitte des 19. Jahrhunderts angefangen. Im Bundesstaat, also seit 1848, gehören sie aber sicher zu den schwersten Überschwemmungen.»
Und im Vergleich zu den Überschwemmungen von 1993 in Brig?
«Die Überschwemmungen von Brig waren für das Wallis und speziell für Brig sicher verheerend. Öffnet man den Blick auf die ganze Schweiz, ist es aber nicht vergleichbar.»
Wie stark waren 1868
die Auswirkungen auf die Bevölkerung?
«Für die Bevölkerung war die Überschwemmung 1868 sicher schlimmer als spätere Ereignisse. Die Schäden waren unglaublich gross. Es gab noch keine Versicherungen. Die Bevölkerung war durch frühere Überschwemmungen und durch die Rhonekorrektion schon in Armut, und durch das Unwetter wurde es noch schlimmer. Zudem war die Bevölkerung im Tal doppelt getroffen. Sie musste einerseits die Schäden an der Rhonekorrektion reparieren und gleichzeitig den Schaden an den eigenen Feldern und Häusern bewältigen. So erstaunt kaum, dass viele Walliser auswanderten.»
Speziell war, dass auf die Überschwemmungen die grösste Spendenaktion
der Schweizer Geschichte folgte.
«Das ist sehr beachtlich. Es war fast ein Glücksfall, dass der Alpenbogen betroffen war. Denn die Alpen waren in dieser Zeit ein wichtiges Identifikationsmerkmal der Schweiz. Auch die Basler und Zürcher waren sehr stolz auf die Alpen. Das hat wahnsinnig viele Emotionen ausgelöst. Ich habe von Kindern in Waisenhäusern gelesen, die 50 Centimes gespendet haben – für sie viel Geld. Die Kirchen haben gesammelt, die Gemeinden, Chöre veranstalteten Benefizkonzerte. Heute laufen Spenden viel individualisierter ab, damals war es eine kollektive Angelegenheit.»
In der Berichterstattung von damals fällt auf, dass die Religion im Journalismus immer wieder eine Rolle spielte. Gott habe der Bevölkerung eine harte Aufgabe aufgetragen, die es zu bewältigen gebe.
«Das ist eine schöne, langfristige Entwicklung. Noch 100 Jahre vorher wurde eine solche Katastrophe oft als Strafe Gottes interpretiert. Im 19. Jahrhundert hat die Aufklärung bereits gegriffen und kam auch im Wallis schrittweise an. Der Fortschrittsglaube war gross: Wir wollen die Eisenbahn, wir machen die Rhonekorrektion. Auf der anderen Seite lebte die Bevölkerung aber immer noch mit religiös geprägten gesellschaftlichen Werten.»
Aber die Bevölkerung war nicht nur noch das Opfer Gottes?
«Ja, das war neu in der Zeit. Die Menschen sahen sich nicht mehr nur als Opfer, sondern als handelndes Subjekt. Der Fortschrittsdrang war da und das Volk forderte vom Staatsrat: Machen wir etwas mit den Spendengeldern!»
Würde der Rotten heute noch so fliessen wie damals, wenn es die Überschwemmung nicht gegeben hätte?
«Für die Rhonekorrektion war das Hochwasser von 1860 das zündende Ereignis. Vorher hatte man 30 Jahre erfolglos darüber diskutiert. Das Hochwasser öffnete die Schleusen, politische Blockaden wurden gelöst – vor allem dank der Bundesbeteiligung. Das Hochwasser von 1868 hatte mehr Bedeutung auf die Korrektion der Nebenflüsse. Die Vispa wurde z. B. erst dann korrigiert.»
Braucht es Katastrophen, damit gehandelt wird?
«Ja klar. Ohne Ereignis, das einen Handlungsbedarf aufzeigt, fehlt der Handlungsdruck. Brig 1993 ist ein gutes Beispiel dafür. Die kritische Stelle an der Saltina war seit Langem bekannt, schon 1831 und dann wieder nach den Überschwemmungen von 1910 gab es Vorschläge für eine Hebebrücke. Danach passierte aber nichts. Beim Unwetter von 1993 war die Saltinabrücke innerhalb von kurzer Zeit verstopft. Nach dem Unwetter wurde eine hydraulische Hebebrücke gebaut. Ohne das Unwetter wäre auf der Saltina vielleicht noch heute ein Parkplatz.»
War die Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert
anders?
«Die Erinnerungskultur war bis weit ins 20. Jahrhundert viel stärker. Heute denkt man, alle Informationen stünden dauernd zur Verfügung. Das ist aber ein Trugschluss. Die heutige Mobilität ist gerade im Bereich Naturgefahren ein wichtiger Punkt. Zieht ein Mensch um, kennt er die Gefahrensituationen seiner neuen Umgebung nicht mehr. Auch deshalb braucht es heute Gefahrenkarten. Früher waren Gefahren im kollektiven Gedächtnis einer Dorfgemeinschaft verankert. Wenn es ein paar Tage regnet, gehen meine Eltern an die
Vispa und schauen, wie hoch das Wasser ist. Das machen die jungen Leute nicht mehr.»
Die Korrektionen erlauben, dass man an gefährlichen Orten bauen kann.
«Ja, aber früher ging es um das persönliche Risiko. Heute ist das eine kollektive Frage: Was für ein Risiko tragen der Staat oder die Versicherungen? Das ist eine entscheidende Verschiebung.»
Ist eine Überschwemmung wie 1868 heute überhaupt noch möglich?
«Ereignisse wie 1993 sind immer möglich. Das sind aber sehr punktuelle Ereignisse, die kaum verhindert werden können. So grossflächige Ereignisse wie 1868 sind dank der getroffenen Massnahmen aber fast nicht mehr möglich. Was aber nicht bedeutet, dass die Schäden heute geringer sind.»
Interview: Mathias Gottet
Mathias Gottet
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