Porträt | Steven Mack wurde nach seinem Unfall von der Ganterbrücke zum Medienstar. Davon distanziert er sich heute
Sturz ins Leben
Steven Mack wagte einen Pendelsprung von der Ganterbrücke. Die Seile rissen. Mack stürzte 150 Meter in die Tiefe, überlebte. Heute ist er auf der Suche nach der inneren Freiheit.
Steven Mack fährt mit seiner Hand über eine Betonstrebe der Ganterbrücke. Von dieser Stelle ist er, gesichert an einem Seil, vor 13 Jahren in die Tiefe gesprungen. Adrenalin und Freiheit waren das Ziel. Über 40 Knochenbrüche das Resultat. Als Steven Mack aus dem Koma erwachte, war er blind. Der Sprung von dieser Brücke hat ein Leben beendet. Und hat Platz gemacht für ein neues.
Steven Mack klappt den Blindenstock zusammen und setzt sich auf den Beifahrersitz des Autos, das ihn von Brig auf die Ganterbrücke bringen wird. «Eigentlich wollte ich heute auf dem Querbalken der Ganterbrücke übernachten», sagt Steven Mack. Diese Idee trägt er schon lange mit sich. Seine Frau hätte sich aber zu viele Sorgen gemacht. «Stell dir vor, du liegst dort oben auf der Brücke, ganz allein. Nur die Sterne am Himmel und die Autos, die unten über die Brücke rauschen», sagt er. Aus dem Radio ist die Stimme Jack Johnsons zu hören, er singt «Upside Down».
Der Unfall vor 13 Jahren hat das Leben des damals 20-jährigen Mannes aus Volketswil im Kanton Zürich auf den Kopf gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt führte er ein wildes Leben: Er raste mit dem Slalomboard die Zürcher Strassen hinunter, übernachtete im Schnee, bestieg Viertausender, tauchte in vereisten Seen, lebte im Wald und sprang von Brücken. Zehn Mal hat er zuvor den Sprung von der Ganterbrücke gewagt. Beim elften Mal rissen die Seile. Ein Baum bremste den Sturz ab. Zuerst landete er auf einem Wellblech, dann auf dem felsigen Waldboden. Sein Körper überstand den Aufprall fast unversehrt, sein Kopf war schwer verletzt: ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. 43 Schrauben und neun Metallplatten hielten ihn zusammen. Weshalb die Seile gerissen sind, bleibt bis heute unklar. «Das hat mich nie interessiert», sagt Steven Mack heute.
Äussere und innere Freiheit
Steven Mack sitzt auf der Leitplanke, hinter ihm die Ganterbrücke. Das Gefühl, wieder zurück zu sein, muss er suchen. Die Ganterbrücke ist für ihn die Erinnerung an den Bergsport. Sie ist der Plan, Bergführer zu werden. Sie ist der Schmerz des Unfalls. Sie ist das Glück, etwas Neues kennenlernen zu dürfen. Von dem Tag des Sprungs weiss Steven Mack nichts mehr. «Es war für mich, als wäre ich am Abend ins Bett gegangen und sechs Wochen später im Spital wieder aufgewacht.»
Er ist immer davon ausgegangen, dass irgendwann etwas passieren kann. Er wollte aber der Meister seines eigenen Lebens sein. Ein Begriff, der in seinem Leben eine grosse Rolle spielt: die Freiheit. Vor dem Unfall suchte er sie im Abenteuer. «Ich habe immer gemeint, die Freiheit ist körperlich. Heute bin ich darin gefangen», sagt er. Die Freiheit hat sich für ihn gewandelt. Heute geht es ihm um eine geistige Freiheit. Er will achtsam sein, im Denken und im Herz. «Das ist viel erstrebenswerter als von einer Brücke zu springen», sagt er.
Steven Mack kam aber nur über Umwege zu dieser Erkenntnis. Das Überleben eines 150-Meter-Sturzes machte ihn zum Medienstar. Er war zu Gast bei Kurt Aeschbacher, ging auf Vortragstournee, schrieb Kolumnen für den Tages-Anzeiger und erhielt die Ehre, dass sein Leben den Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden hat. Das Buch mit dem Titel «Der Blindgänger» wurde zum Bestseller. Ein paar Jahre später verbrennt er die letzten 50 Exemplare im Wald. «Ich musste mich davon trennen, emotional und symbolisch», sagt Steven Mack.
Der Trubel in den Medien brachte ihn immer weiter von sich weg. Er war ein Naturbursche, übernachtete im Wald und ging am Morgen mit dreckigen Kleidern zurück ins Büro. Und nach dem Unfall sass er plötzlich mit Lackschuhen in Fernsehsendungen. «Die Medien haben mich auf ein Podest gestellt. Der Unfallschmerz lag auf dem Boden», sagt er. «Das hat mich innerlich zerrissen.» Sein Leben war eine Show: Steven redete auf der Bühne, maskierte sich als der starke Mann. Er kletterte als Blinder weiter, suchte weiterhin das Adrenalin, um die Schmerzen zu betäuben.
Eine Frau sagte ihm nach einem Vortrag direkt ins Gesicht, dass er auf dem falschen Weg ist. Statt immer weiterzurennen, musste er zu sich selber finden. Er wurde zu einem Blinden, der in sich hineinschaut. Noch heute findet er in sich Zwänge und Ängste und merkt, dass er innerlich noch gar nicht frei ist. «Durch meine Blindheit bin ich gezwungen, in mich hineinzuschauen. Seit meinem Unfall versuche ich, meine inneren Handschellen auszuziehen.»
Lernen, loszulassen
Steven Mack lehnt sich an die Betonwand, die Augen hat er geschlossen, den Kopf in Richtung Sonne gedreht. Blind zu sein, sei wie in einer anderen Welt zu leben. Es gebe unsichtbare Themen, die er seither besser wahrnehmen könne. So etwa das menschliche Vertrauen, den Respekt, aber auch die Ehrlichkeit. «Gewisse Dinge sehen Blinde besser als die Sehenden», sagt Steven Mack.
Er wirkt ruhig, fast meditativ, ist aber ein Suchender. Einige Antworten hat er mittlerweile gefunden. Er hat gelernt, dass man im Leben loslassen muss. So hat er seinen Traum Bergführer zu werden, aufgegeben. Aus seinem Unfall hat er zahlreiche Schlüsse gezogen: «Zu sehen, dass man nicht immer alles sieht. Zu verstehen, dass es Situationen gibt, die man nicht kontrollieren kann. Zu wissen, dass dir bereits Morgen alles genommen werden kann und nur die Frage bleibt: Woran hält man sich?»
Bei Steven Mack spielt die Religion eine wichtige Rolle. Er beruft sich nicht auf eine Institution, sondern glaubt an einen liebenden Gott. Er liest die Bibel, aber auch den Koran oder die Bhagavad Gita. Er weiss, dass er in den Religionen Antworten finden kann. Will sich aber nicht von ihnen in Ketten legen lassen. Er glaubt, dass der Schmerz einen Sinn hat und er davon geleitet wird: «Der Schmerz führt mich auf einen Gipfel, auf dem ich eines Tages stehen will. Es ist ein strenger, steiler Weg mit vielen Hindernissen und Hürden. Den gilt es zu laufen, egal wie schwer der Rucksack ist, den ich trage.»
Zu solchen Gedanken hat Steven Mack erst gefunden, als er von der Bühne heruntergestiegen ist. Er wollte sich nicht mehr beeinflussen lassen von dem Applaus des Publikums, hat sich eine Auszeit genommen und sich in ein einsames Haus in den Bergen zurückgezogen. Er hat die Schmerzen gesucht und die Tränen gefunden. Nun will Steven Mack genau an die Stelle der Ganterbrücke, von der er im Jahr 2006 hinuntergesprungen ist. «Ich fühle mich von dem Absprungort angezogen. Weil es ein Wendepunkt in meinem Leben ist. Neues hat hier begonnen», sagt er. Er läuft am Rand der Strasse, mit dem Blindenstock schlägt er im immer gleichen Rhythmus an die Leitplanke. Autos rauschen an ihm vorbei. Er sagt, dass das Gefühl nicht immer gleich sei, wenn er über die Brücke geht. Nach dem Unfall habe er auf der Brücke geweint, aber auch gelacht.
Er steht direkt an der Strebe, fährt mit seiner Hand über den Beton. «Es ist das Gefühl von Freiheit, das ich hier gelernt habe», sagt er. Heute fühlt er sich wohl auf der Brücke, auch wenn es ein paradoxes Gefühl ist. Es sei ein Mix aus Wut, Schmerzen, Angst und Trauer, genauso aber auch von Freiheit, Neuanfang, Neuorientierung und Neustart. Von hier aus sprang er in sein zweites Leben. Heute steht er dankbar auf der Ganterbrücke: «Ich sage Danke, liebe Ganterbrücke. Obwohl ich dich manchmal verfluche, mit dir streite. Heute bin ich dankbar.»
Mathias Gottet
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