Neujahrsgespräche | Heute mit Diego Kuonen, Mathematiker und Datenexperte
«Ein Robo-Coiffeur? Das kriegt man mit künstlicher Intelligenz niemals hin»
Die Digitalisierung hat sich im vergangenen Jahrzehnt mit aller Wucht durchgeschlagen. Zeit für eine Standortbestimmung mit einem, der bereits seit 1992 einen E-Mail-Account hat, aber erst jüngst sein Facebook-Profil gelöscht hat. Kurz bevor wir ihn am letzten Tag der letzten Dekade in Visp treffen, fällt hier der Strom aus. Ein guter Einstieg.
Diego Kuonen, ein Blackout, und weite Teile des alltäglichen Lebens kommen zum Erliegen. Müssen wir uns am Ende dieses Jahrzehnts einfach eingestehen, dass wir komplett abhängig sind von der Technologie und ihren Systemen?
«Eine Gesellschaft oder eine Volkswirtschaft ist natürlich von vielen Faktoren abhängig. Wir brauchen Strom, Infrastrukturen und viele andere Ressourcen. Aber es ist nicht diese Abhängigkeit, die das vergangenen Jahrzehnt charakterisiert.»
Sondern?
«Die Daten- und Informationsströme haben sich vervielfacht und sind enorm angewachsen. Und wir Menschen wissen nicht mehr, wohin die ganzen Daten, unsere Daten, überall hinfliessen. Die vergangene Dekade war geprägt vom Kontroll verlust über die Daten.»
Sie meinen die Daten, die wir von uns preisgeben und wie Spuren im Internet hinterlassen?
«Ja, auch. Nehmen wir das alte Mediensystem vor – sagen wir – 60 Jahren. Damals wurde eine jeweils geringe Zahl von Informationen von wenigen Menschen produziert und an eine geringe Zahl von Menschen über eine geringe Distanz vermittelt, in einer Tageszeitung zum Beispiel mit einem beschränkten Einzugsgebiet. Heute ist das komplett anders: Jeder Einzelne kann heute Daten und Informationen in die Welt hinaussenden, sie teilen, konsumieren und weiterverbreiten über das Smartphone, die sozialen Medien.»
Und die Daten und Informationen sind für jeden zugänglich.
«Genau. Schauen Sie sich die ganzen Enthüllungen grosser Datenmengen allein in den letzten Jahren an: Angefangen mit den WikiLeaks, den Panama Papers, den Football Leaks. Aber auch im kleineren Rahmen werden ständig Daten in die Öffentlichkeit getragen. Das ‹Leaken› von Informationen ist zum Volkssport geworden.»
Das ist vor allem für uns Medien interessant.
«Mag sein. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass die Informationen absichtlich falsch gestreut oder in einen anderen Zusammenhang gestellt werden, Stichwort: Fake News. Stichwort: Donald Trump.»
Warum profitieren Politiker wie er von dieser Dynamik?
«Weil der amerikanische Präsident früher zu einer grossen Zeitung oder ins Fernsehen gehen musste, um viele Menschen zu erreichen. Heute kann Trump am Morgen im Pyjama vom Bett aus twittern und erreicht so ein Millionenpublikum, das seine Botschaften in den sozialen Medien wiederum millionenfach multipliziert. Und je deftiger er sich dort ausdrückt, desto mehr Reichweite generiert er. Das heisst: Jeder ‹Seich›, den Trump rausposaunt, macht ihn noch stärker. Er ist die logische Folge dieses Kontrollverlustes, ein Produkt dieser Dekade.»
Neben Trump profitieren vor allem die grossen Tech-Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook oder Apple von diesem Kontrollverlust. Sie lenken diese ganzen Datenströme über ihre Plattformen und Dienste.
«Ironischerweise besteht das Geschäftsmodell dieser Unternehmen unter anderem darin, uns die angebliche Kontrolle über unsere Daten zu verkaufen. Auf Facebook zum Beispiel kann man ja etwa bestimmen, ob das eigene Profil für alle Nutzer oder nur für die ‹Freunde› zugänglich ist. Gleichzeitig weiss aber Facebook alles über uns.»
Sie selbst haben Ihren Facebook-Account gelöscht und auch nie WhatsApp benutzt.
«Ja, weil ich diesen Plattformen einfach nicht mehr vertraue.»
Und jetzt, wie geht es Ihnen dabei?
«Nun, eine unmittelbare Folge davon ist zum Beispiel, dass ich – oder auch meine Frau – nicht in den WhatsApp-Gruppen etwa von näheren Verwandten oder Freunden drin sind und so manches erst gar nicht mehr mitkriegen. Was auch zeigt, wie weit Facebook und Co. in unseren persönlichen und privaten Alltag eindringen. Banale, aber für den einzelnen Menschen wichtige Infos, wie zum Beispiel das ganze Organisatorische rund um die Festtage, gehen an einem vorbei. Wir telefonieren jetzt halt mehr.» (lacht)
Dann besteht aber – um auf die Eingangsfrage zurückzukommen – nicht nur eine Abhängigkeit von diesen Technologien, wir sind ihnen geradezu ausgeliefert.
«So weit würde ich nicht gehen. Wir haben ja Alternativen, um zu kommunizieren oder um an Informationen zu gelangen. Ich lebe in Bern, will aber wissen, was hier im Wallis läuft. Deshalb habe ich auch den ‹Walliser Boten› abonniert, wo mich besonders der Lokalteil interessiert. Diese Informationen bekomme ich nur dort.»
Das freut uns natürlich. Lesen Sie den WB gedruckt oder im Internet?
«Gedruckt.»
Gedruckt? Sie sind ein IT-Nerd, haben seit 1992 einen E-Mail-Account…
«…ja, aber ich mag das Papier, die Übersicht und dieses Gefühl der Ruhe.»
Machen wir einen Punkt: Wir haben also die Kontrolle über die Daten verloren, nicht zuletzt an eine kleine Gruppe von Unternehmen, die damit machen, was sie wollen. Werden wir diese Kontrolle je zurückerlangen oder ist es hierfür bereits zu spät?
«Diese Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt war dermassen rasant, dass wir uns zuerst damit zurechtfinden müssen. Aber zu spät ist es nicht. Fest steht nur: So kann es nicht weitergehen.»
Aber wie wollen Sie das in den Griff kriegen, etwa wie die Chinesen, wo der Staat sämtliche Daten ihrer Bürger sammelt und kontrolliert?
«Um Himmels willen nein! In China findet der Kontrollverlust just in die andere Richtung statt. Dort wird den Leuten dieser Plattform-Gedanke nicht von den Unternehmen angeboten, sondern von der Partei aufgezwungen – von oben herab.»
Aber die grossen Tech-Unternehmen operieren im World Wide Web – das werden Sie mit den Gesetzen auf der jeweils nationalen Ebene nie in den Griff kriegen.
«Nun, die Länder müssen sich hierfür zusammenschliessen. Die Datenschutz-Grundverordnung der EU ist ein gutes Beispiel, wie man es machen kann, hier steht der Mensch und der Schutz seiner Daten im Mittelpunkt. Die Richtung stimmt.»
Gleichzeitig widerspricht die Regulierung des Internets dem Urgedanken des Internets, dass eben allen alles zugänglich sein soll.
«Der Grat der politischen Regulierung ist in diesem Bereich tatsächlich ein schmaler. Und es braucht schlaue Kompromisse. Das Problem der Politik ist aber vielmehr, dass sie meist in zu kleinen Zeitabständen denkt, etwa in vier oder fünf Jahren, je nach Dauer einer Legislatur. Und: Im Moment ist es ja so, dass Menschen Gesetze machen müssten, um ein Phänomen in den Griff zu kriegen, das sie so noch gar nicht so lange kennen. Sie denken über Sachen nach, mit denen sie nicht aufgewachsen sind.»
Goldene Zeiten für Berater wie Sie.
«Mag sein. Goldene Zeiten aber auch für Journalisten, die die wahren Informationen von den unwahren trennen müssen. Aber es geht um Grundsätzliches: Wir müssen die heranwachsende Generation, unsere Kinder, auf diese neue Welt vorbereiten.»
Wie das? Innerhalb des bestehenden Schulsystems, oder braucht es ganz neue Ansätze?
«In den vergangenen Jahren hat man in der Schule vor allem auf technische Hilfsmittel gesetzt. Man verteilt fleissig Tablets an die Kinder, die dann ein bisschen Word oder PowerPoint machen sollen. Aber so wird die Schule dem Umgang mit der Digitalisierung nicht gerecht.»
Was soll man die Kids denn lehren, dass sie selber Apps programmieren können?
«Nein. Wir müssen wieder lernen, die Welt kritisch zu hinterfragen.»
Ein Mathematiker plädiert hier für eine geisteswissenschaftliche Herangehensweise?
«Ja.»
Es gibt Stimmen in der Bildungspolitik, die sich aber einen frühen und vertieften Umgang mit den Technologien wünschen.
«Die Technologien ändern sich ja alle zehn bis 15 Jahre. Dann brauchen Sie auch jedes Mal wieder eine neue Bildungsstrategie für den Umgang mit der Digitalisierung. Nein, es braucht hier einen grundlegenden Wandel im Denken.»
Man soll jede App hinterfragen?
«Wenn ich eine App installiere, um darauf das Wetter in Zermatt nachzuschauen, warum muss diese App dann Zugriff haben, auf meine Handy-Kamera, auf meine Fotos oder auf meine Kontaktdaten. Ich will doch nur nachsehen, ob in Zermatt die Sonne scheint oder nicht. Wohin gehen diese Daten? Und wer hat was mit ihnen vor? Solche Fragestellungen müssten sich die Kinder aneignen.»
Aber geht das alles nicht zu weit? Sind Kinder, aber auch wir Erwachsene überhaupt in der Lage, diese Technologien in ihrer Komplexität zu hinterfragen und zu verstehen?
«Darum geht es nicht. Nehmen Sie ein altes, analoges System, zum Beispiel: Raclette machen.»
Raclette machen?
«Ja, Sie wissen: Ich brauche guten Käse. Und einen Ofen, der funktioniert. Sie müssen nicht im Detail wissen, wie dieser Käse produziert worden ist. Und Sie müssen auch nicht verstehen, warum ein Racletteofen nun heiss wird. Das nicht zu wissen, bedeutet noch längst keinen Kontrollverlust. Aber Sie müssen wissen, dass der Ofen heiss wird und Sie sich nicht verbrennen sollten, dass der Käse im richtigen Moment gestrichen wird. Kurzum: Sie müssen wissen, was es braucht, damit Sie am Schluss ein feines Raclette auf dem Teller haben. Sie müssen dem System vertrauen.»
Gleichzeitig sind wir ja mit so alltäglichen Gebrauchs- und Haushaltsgeräten längst verbunden.
«Genau. Sie müssen nicht wissen, wie eine Kaffeemaschine funktioniert. Aber Sie sollten vielleicht wissen, warum sich der Kühlschrank plötzlich für die Anzahl Kaffeekapseln interessiert, die Sie verbrauchen. Oder warum der Backofen sich Ihren Backgewohnheiten anpasst. Muss es sein, dass Alexa, die Sprachassistentin von Amazon, alles mithört. Oder dass unsere Handy-Kamera unser Gesicht scannt, während wir WhatsApp-Nachrichten schreiben. Solche Fragen sollten wir uns alle stellen.»
Das tönt nach Science-Fiction.
«Das ist heute alles schon Realität.»
Wann übernehmen uns die Roboter?
«Das werden sie nicht. Aber die Technik, die Digitalisierung kann uns das Leben erleichtern. Das war schon immer so.»
Die Digitalisierung wird viele Arbeitsplätze wegautomatisieren.
«Nein. Aber es ist klar: Die Veränderungen sind einschneidend. Früher haben die Menschen einen Job erlernt und diesen ihr ganzes Leben lang ausgeführt. Diese Welt verschwindet…»
…und mit ihr auch Arbeitsplätze.
«Nein, im Gegenteil. Die Menschen bekommen jetzt zusätzlich einen zweiten Job.»
Also mehr Arbeit?
«Andere Arbeit. Man erlernt einen Beruf, das wird weiterhin die Basis sein, reicht aber nur noch für ein paar Jahre. Danach bildet man sich weiter, lernt quasi einen zweiten Job, um sich beim angestammten Beruf zu verbessern. Und das mit der Hilfe der Digitalisierung.»
Über die Festtage haben wir Menschen interviewt, die sehr lange in einer Branche tätig waren. Zum Beispiel Silvio Ricci, er war 52 Jahre Coiffeur. Solche Karrieren wird es demnach nicht mehr geben.
«Doch den Beruf Coiffeur wird es immer geben.»
Eines Tages werden Maschinen den Menschen die Haare schneiden.
«Nein. Jeder Mensch hat eine andere Kopfform. Und ganz eigene, individuelle Bedürfnisse. Coiffeur ist ein Mensch-zu-Mensch-Job. Es braucht Kreativität und viel Empathie für den Kunden. Ein Robo-Coiffeur? Das kriegt man mit künstlicher Intelligenz niemals hin.»
Jetzt sagten Sie aber, diese Art von Arbeitswelt sei vorbei.
«Ja. Vielleicht werden Roboter eines Tages Schere und Kamm reichen oder den Boden aufwischen, und der Coiffeur muss dann wissen, wie diese Maschinen zu bedienen sind. Oder vielleicht gibt es Optimierungsmöglichkeiten beim Marketing oder beim Buchungssystem in einem Salon. Was weiss ich?! Aber ein Coiffeur wird sich in solchen Bereichen weiterbilden und sein Geschäft optimieren mithilfe von Technologien oder dem schlauen Gebrauch von Kundendaten. Und das alles, um seinen angestammten Beruf, das Haareschneiden, zu verbessern. Indem er zum Beispiel mehr Zeit hat, sich um die Kunden zu kümmern.»
Und wenn man sich nicht auf diese Veränderungen einlässt?
«Dann wird es – vor allem für Unternehmen – schwierig zu ‹überleben›. Man hat eigentlich gar keine Wahl. Was nach diesem Jahrzehnt sicher feststeht: Es gibt keine Zukunft ohne Digitalisierung. Wenn wir uns aber richtig und vernünftig darauf einlassen, wird es eine gute Zukunft.»
Apropos Coiffeur: Vor dem Interview fragten Sie nach, ob die Fotografin auch kommt. Wieso?
«Ich wollte nur wissen, ob ich mich rasieren muss. Über die Festtage lass ich den Bart ein wenig gehen. Und ich wollte nicht, dass mich meine Mutter so in der Zeitung sieht.» (lacht)
Interview: David Biner
Artikel
Kommentare
Noch kein Kommentar