Politik | Jeder Fünfte im Wallis darf weder abstimmen noch wählen – weil er den roten Pass nicht hat. Auch Daniel Santos Marques und Catarina Costa aus Täsch
Die leisen Stimmen aus «Little Lissabon»
Catarina Costa wurde in der Schweiz geboren, ist hier aufgewachsen und studiert hier. Auch Daniel Santos Marques ist seit fast 18 Jahren in der Schweiz und arbeitet in einer Autowerkstatt. Abstimmen und wählen dürfen sie beide nicht – und mit ihnen gut 60 Prozent der Einwohner in Täsch. Ist das noch demokratisch?
Catarina Costa wurde vor über 20 Jahren im Spital Visp geboren. Ihre Eltern zogen einst von Portugal nach «Little Lissabon», wie Täsch mal liebevoll, mal abwertend genannt wird. Costa ging hier zur Schule, absolvierte eine Lehre bei der Spitex und ist nun in Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau an der Höheren Fachschule in Visp.
Anfang der Nullerjahre kam auch Daniel Santos Marques ins Wallis. Seine Eltern zogen mit dem damals Zweijährigen von Portugal nach Täsch. Heute arbeitet er in einer Visper Autowerkstatt. Wenn in ihrer Gemeinde über einen Baukredit abgestimmt wird oder der Gemeinderat diesen Herbst gewählt wird, zählt ihre Stimme nichts.
Eine Minderheit bestimmt
In Täsch geht es drei von fünf Einwohnern wie Costa und Santos. Nur noch knapp 40 Prozent der Einwohner sind Schweizer Bürger, etwa 43,6 Prozent sind Portugiesen. Die restlichen 16,8 Prozent verteilen sich auf ganze 29 Nationen. Mit dem schweizweit höchsten Ausländeranteil von 60,4 Prozent – im Kanton Wallis waren es gemäss aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2018 22,7 Prozent – stellt Täsch damit einen Sonderfall dar. Fast 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 entscheidet in Täsch also immer noch eine Minderheit über eine Mehrheit. Ist das noch demokratisch?
Nein, sagt Daniel Kübler. Er ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich UZH. «Das ist nicht gesund», sagt er, «denn Demokratie bedeutet, dass die Bevölkerung über Vorlagen abstimmen und Politiker in Ämter wählen kann.» In Täsch sei dies augenscheinlich nicht der Fall. «Das ist schwierig», so Kübler.
Erst die Pflichten, dann die Rechte. Der Vorwurf an den heutigen Umgang mit dem Ausländerstimmrecht sei nicht ganz so einfach, sagt derweil Andreas Glaser, Professor für Staatsrecht an der UZH. «So einfach ist es nicht, zumal die Pflichten jeweils auch an Rechte gekoppelt sind.» Glaser meint damit zum Beispiel die Arbeitslosenkasse, die AHV und andere öffentliche Leistungen, «was fehlt, ist letztlich das Stimm- und Wahlrecht».
Mario Fuchs: «Wurde noch nie darauf angesprochen»
Mario Fuchs, Gemeindepräsident von Täsch, wurde noch nie konkret vor die Frage nach einem Ausländerstimmrecht gestellt. «Ob das fair und sinnvoll ist, liegt im Auge des Betrachters», sagt er. «Tatsache ist aber, dass ein Grossteil der ausländischen Bevölkerung nicht lange hierbleibt.» Er spricht die Fluktuation an, die aufgrund der im Tourismusgewerbe angestellten Saisonniers in Täsch besonders hoch sei. «Dass man grundsätzlich allen hier angemeldeten Ausländern das Stimmrecht gibt, dafür sehe ich absolut keinen Grund», so Fuchs.
In Täsch würde das Ausländerstimmrecht die politischen Verhältnisse um 180 Grad drehen, das aktuell wahlberechtigte Volk zur Minderheit werden. «Ein Stimm- und Wahlrecht für Ausländer ist hier zurzeit niemals mehrheitsfähig», sagt Fuchs. Die andere Befürchtung betrifft die Stimmbeteiligung. Vielerorts ist diese seit geraumer Zeit tief, nun befürchtet man, sie noch weiter zu senken, weil die ausländische Bevölkerung weniger an politischen Prozessen interessiert sei. Davon zeugen Untersuchungen und auch Fuchs stellt bei den in Täsch wohnhaften Ausländern nicht sonderlich hohes politisches Interesse fest. «Wer eingebürgert wurde, nimmt regelmässig an Abstimmungen teil», sagt er, «von nicht eingebürgerten Ausländern wurde ich aber noch nie darauf angesprochen.»
Dass es einen ausländischen Ansturm auf die Wahllokale geben würde, bezweifeln auch Santos und Costa. Sie fühlen sich als politisch interessierte Ausländer klar in der Minderheit. Im portugiesischen Umfeld sei Politik kein grosses Thema, sagen beide. «Meine Eltern hat das in Portugal bereits nicht interessiert», sagt er. Costa indes empfindet einen gewissen Frust, nicht aktiv ins Gemeindegeschehen eingreifen zu können. «Ich kann an dem Ort, an dem ich seit 20 Jahren lebe, nicht mitbestimmen», sagt sie. So oder so müsste eine allfällige Einführung des Ausländerstimmrechts zuerst einmal vom Gemeinderat diskutiert werden, sagt Fuchs. Bis zum aktuellen Zeitpunkt sei dies indes noch nie geschehen. Er nennt zwei wichtige Voraussetzungen, über die in Zusammenhang mit einem möglichen Ausländerstimmrecht einst debattiert werden müsste: Integrationsgrad und Aufenthaltsdauer.
Täsch wird nicht umsonst Little Lissabon genannt. Die hohe Anzahl Einwohner portugiesischer Herkunft lebe in einer «Parallelgesellschaft» und integriere sich mehrheitlich schlecht – «weil sie es nicht müssen», sagt Fuchs. Wenn fast die Hälfte der Einwohner Portugiesisch spricht, wieso sollte man sich dann bemühen? Costa und Santos verbringen beide ihre Freizeit oft mit anderen Portugiesen. Im Betrieb und bei der Ausbildung haben beide zwar viele Schweizer Kollegen und Freunde – in Täsch aber bleibt man unter seinesgleichen. Dennoch sagen beide von sich, gut integriert zu sein; ihr Deutsch ist lupenrein und ihr Inte-resse an Politik gross.
Ob erst die Einbürgerung und damit das Stimmrecht erfolgen soll oder umgekehrt, ist letztlich wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Gemäss Kübler stehen sich die beiden Positionen starr gegenüber. Einige erachten gemäss Kübler die Erteilung des Stimmrechts als Krönung des Integrationsprozesses,
andere wiederum sehen in der politischen Einbringung eine Förderung der Integration. «Fakt ist, dass Untersuchungen zeigen, dass der Integrationsprozess durch politische Einbringung beschleunigt wird», so der Politologe.
Die rechtliche Grundlage fehlt
Sollte Fuchs mit seinen Gemeinderatskollegen einst über die Einführung des Ausländerstimmrechts debattieren, stellt sich ihnen aktuell noch eine unüberwindbare Hürde. Denn für die Einführung des Ausländerstimm- und -wahlrechts bedarf es der Verankerung in der kantonalen Verfassung. In der aktuellen kantonalen Verfassung aus dem Jahr 1907 ist das Ausländerstimmrecht indes nicht vorgesehen.
Als erster Kanton der Schweiz legte der Jura mit seiner ersten kantonalen Verfassung beim Eintritt in die Eidgenossenschaft im Jahr 1979 das Ausländerstimmrecht fest. Ausländer, die seit zehn Jahren in der Schweiz und seit einem Jahr im Kanton wohnhaft sind, dürfen dort an kommunalen und kantonalen Abstimmungen teilnehmen. Seither haben acht Kantone, mehrheitlich in der Westschweiz, nachgezogen. Freiburg, Waadt und Neuenburg schreiben das Stimm- und Wahlrecht auf kommunaler Ebene explizit vor. In den meisten Fällen sind dafür eine bestimmte Aufenthaltsdauer und eine Niederlassungsbewilligung erforderlich. Auch Genf erlaubt auf kommunaler Ebene das Stimm- und aktive Wahlrecht, nicht aber das passive Wahlrecht. In der Deutschschweiz erlauben die Kantone Basel-Stadt, Graubünden und Appenzell Ausserrhoden ihren Gemeinden, das Stimm- und Wahlrecht für ausländische Staatsangehörige einzuführen. Nur eine überschaubare Anzahl von Gemeinden hat diese Möglichkeit jedoch umgesetzt.
In den übrigen 18 Kantonen, darunter das Wallis, können Ausländer, die seit mindestens zehn Jahren in der Schweiz wohnhaft sind, eine Niederlassungsbewilligung C erhalten. Frühestens nach zehn Jahren kann eine ordentliche Einbürgerung angestrebt werden. Dafür sind die Anforderungen indes weit höher: So müssen Ausländer auch mindestens fünf Jahre im Kanton und drei Jahre in einer Walliser Gemeinde gewohnt haben, mündliche und schriftliche Sprachkompetenzen aufweisen und mit den «Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen» vertraut sein – und eine Stange Geld in die Hand nehmen. Nicht umsonst gilt die Einbürgerung in der Schweiz als eine der komplexesten in Westeuropa.
Im Verfassungsrat ein Thema
Vor gut zwei Jahren stimmte die Walliser Bevölkerung deutlich für eine neue Kantonsverfassung und beauftragte für die Ausarbeitung zeitgleich einen Verfassungsrat. Von den insgesamt 130 gewählten Mitgliedern befassen sich deren 13 in der thematischen Kommission 3 mit der Ausarbeitung der politischen Rechte. Aus den öffentlich zugänglichen Kommissionsberichten geht hervor, dass sich die Kommission unter der Leitung von Cilette Cretton (Appel citoyen) in ihren bisherigen Sitzungen nebst anderen Themen auch mit dem Ausländerstimm- und -wahlrecht befasst.
Im vergangenen November stimmte die Kommission 3 über diese Frage ab. Mit 8 zu 5 Stimmen sprach sie sich für das Stimm- und Wahlrecht für ausländische Personen mit Niederlassungsbewilligung C auf kommunaler Ebene aus. Auch das passive Wahlrecht für die Legislative, Exekutive und Judikative auf kommunaler Ebene wurde gutgeheissen – mit Ausnahme des Präsidiums der Exekutive. Auf kantonaler Ebene sollen Ausländer gemäss Empfehlung der Kommission das aktive Stimmrecht erhalten. Das passive Wahlrecht – also die Möglichkeit, für ein Amt zu kandidieren und gewählt zu werden – soll auf Kantonsebene nicht erlaubt werden. Auch dürften Ausländer die Vertreter des Kantons im Ständerat nicht wählen. «Dies sind zurzeit nur Vorschläge», sagt Kommissionspräsidentin Cilette Cretton, «in der April-Session des Verfassungsrates werden wir im Plenum darüber diskutieren.»
Die Chancen, dass das Ausländerstimm- und -wahlrecht einst in der kantonalen Verfassung verankert wird, schätzt Cretton eher als gering ein: «Die Vorschläge für das Ausländerstimmrecht werden im Plenum auf starken Gegenwind stossen», sagt sie, «nicht zuletzt, weil die Abstimmung bereits kommissionsintern sehr eng war.» Bis Costa und Santos über Baukredite in Täsch entscheiden und einem Kandidaten für den Gemeinderat ihre Stimme geben dürfen, werden voraussichtlich noch einige Jahre vergehen. So scheint der Weg über den roten Pass zumindest zurzeit der kürzere zu sein.
Adrien Woeffray
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