Fankultur | Bertrand Constantin ist ein Kind des FC Sitten. Vier Jahre wechselte er die Perspektive und sorgte für Sicherheit
Der grosse Bruder der Ultras
Während vier Jahren war Bertrand Constantin die Schnittstelle zwischen Fans, Verein und Polizei. Als Fanverantwortlicher des FC Sitten erlebte er die Höhen und Tiefen seines Vereins aus einer ganz besonderen Perspektive.
Als Bertrand Constantin am Nachmittag des 7. Oktober 2018 die Gummigeschosse der Neuenburger Polizei um die Ohren flogen, war das für ihn nur ein kleiner Adrenalinkick. «Es war schon heikel», sagt der heute 48-Jährige, «aber das gehört halt irgendwie auch dazu.»
Die Ausschreitungen zwischen Sittener Ultras und der Neuenburger Polizei führte erst kürzlich zu über 50 Verurteilungen. Auf Videobildern sieht man Constantin beim Versuch, die Sittener Fans zu beruhigen und zur Umkehr zu bewegen. Dann fliegen erste Gummigeschosse und Tränengasgranaten.
Als Fanverantwortlicher musste Tintin, so sein Szenenname, öfters heikle Situationen entschärfen. Zwischen den im Gradin Nord, der Nordtribüne des Tourbillon, ansässigen Anhängern des FC Sitten und den Ordnungshütern, gegnerischen Fans und internen Streitigkeiten. Ausschreitungen seien in den vier Jahren aber Ausnahme geblieben, betont er.
Über berufliche Umwege landete Constantin im Herbst 2014 wieder dort, wo sein Herz seit Kindheitstagen schlägt: im Gradin Nord des Tourbillon. Einem «echten Stadion nach englischer Art, bei dem man noch ganz nah am Geschehen ist», wie er sagt. Constantin, 1 m 80 gross und Stiernacken, ist seit seiner Kindheit mit dem FC Sitten verbunden. Obwohl das erste Spiel, dem er im Tourbillon beiwohnte, mit einem 1:5 gegen den Erzrivalen Servette verloren ging, packte ihn das Fieber. Ab diesem Zeitpunkt war der Kop sein Revier, die Fans wurden zur zweiten Familie.
Diplomat und Mediator
Die Jobbezeichnung des Fanverantwortlichen passt Constantin nicht wirklich: «Das würde bedeuten, dass wir für alle angereisten Fans verantwortlich sind», sagt er, «das ist alleine schlicht und einfach nicht möglich.» Lieber nennt er sich Fanbegleiter. Constantin sieht sich als «grosser Bruder», gerade für die jüngeren Anhänger, als Diplomat und Mediator, als Organisator von Extrazügen. Und vor allem als Kommunikationskanal zwischen Fans, Verein und der Polizei. «Aber ich war nie selbst Polizist. Niemals», sagt Constantin, «ich habe mich nie gegen die Fans gewendet, habe nie jemanden verpfiffen.» Hätte er das getan, wäre sein einziges Kapital verpufft: seine Glaubwürdigkeit. Das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und den Fans sei unentbehrlich gewesen, «und die Fans haben rasch verstanden, dass ich mit ihnen und nicht gegen sie bin.»
Diese Akzeptanz musste er sich erkämpfen. Bei seinem Wiedereinstieg in den stadioneigenen Mikrokosmos aus Fans und Ultras begegneten ihm zu Beginn viel Argwohn und Misstrauen. «Für einige war ich der Feind», sagt Constantin. 36 Jahre nach seinem ersten Spiel als Fan musste er sich neu beweisen. «Am Anfang war die Stimmung sehr angespannt. Ich kannte viele Fans nicht mehr, höchstens noch deren Väter und Mütter», sagt er, «da wusste ich: Es liegt an mir, mich zu beweisen.» Und dies, obwohl er selbst jahrelang im Kop stand, «aber ohne Mitglied einer Gruppierung zu sein», präzisiert er. Denn auch darunter hätte seine Glaubwürdigkeit gelitten.
Kommunikation ist Trumpf
Die Gelegenheit, sich Respekt zu verschaffen, bot sich ihm am 7. Juni 2015, dem Tag des 13. Cupsiegs des FC Sitten. «Strellers kleines Intermezzo mit den Walliser Fans, eine brennende Fahne, Probleme mit Pyros während der Halbzeitpause», erinnert sich Constantin, «das war krass! Ich musste tausend Prozent geben.»
Nebst dem sportlichen Erfolg «seines» FC Sitten war für Constantin das Lob des ehemaligen Leaders der Ultragruppierung Red Side knapp eineinhalb Monate später in Basel die grösste Belohnung. Es war das erste Auswärtsspiel der neuen Saison, das Basler Empfangskomitee für die Sittener Fans waren «Robocops und Punching-Balls», Polizisten in Vollmontur und Tränengasgewehre. «Wenn du so weitermachst wie am Cupfinal, werden wir uns sehr gut verstehen», habe der Leader der Red Side gesagt. Constantin lächelt verschmitzt, «und heute treffen wir uns auch mal auf ein Bier. Ich glaube, dass ich meinen Job nicht so schlecht gemacht habe.»
Hört man sich heute in Constantins ehemaligem Umfeld um, fallen Attribute wie Sozialkompetenz, Loyalität, Authentizität und Diskretion. Vom Sicherheitsverantwortlichen Roger Köppel über Gaëtan Theytaz vom FC Sitten, Mathias Volken von der Kantonspolizei bis hin zu einzelnen befragten Fans; sie alle sind sich einig, dass es aber vor allem eine Kompetenz ist, die Constantin die Legitimität und den Respekt von allen Seiten verschafft haben: sein ausgeprägter
Kommunikationssinn.
Generationenwechsel bei den Ultras
Auch im Oktober 2018 in Neuenburg versuchte er die Eskalation zu verhindern. Nuzzolos Ausgleich und die darauffolgende Provokation in Richtung der Sittener Fans hätten die Gemüter bereits während des Spiels erhitzt, das Fass zum Überlaufen brachten aber die auf die von Xamax-Fans auf Spieler ausgeschütteten Biere und Schläge mit Fahnenstangen nach dem Abpfiff. «Die eigenen Jungs rührt man unter keinen Umständen an», sagt Constantin. Sittener Anhänger wollten da-raufhin das Spielfeld stürmen und die Konfrontation mit den Erzrivalen suchen, «wir konnten sie nur mit Mühe davon abhalten», sagt Constantin. Einige Ultras schlugen nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern suchten die Konfrontation. Die Situation eskalierte – obwohl Constantin die Neuenburger Polizei um Zeit gebeten hatte, «seine Jungs» zu beruhigen. Und diese wollten sich trotz dem Appell an die eigene Vernunft und die physische Präsenz Constantins nicht dazu bewegen, kehrtzumachen.
Etwas, das einige Jahre zuvor vielleicht noch zu verhindern gewesen wäre. «Der Unterschied zwischen den Ul-tras meiner Generation und den heutigen ist wie Tag und Nacht», sagt Constantin. Er selbst war früher Ultra, ohne einer Gruppe zugehörig zu sein. «Heute herrscht eine andere Mentalität, unbedachter und aggressiver», sagt er, «aber im Gegensatz zu anderen Vereinen herrscht bei uns trotzdem noch eine gewisse Zurückhaltung. Zum Glück.»
Im Umgang mit den jungen Wilden haben Constantin vor allem auch die Ultras der alten Garde geholfen: «Seit 2015 sind viele Altgediente wieder im Kop. Sie haben einen grossen Beitrag dazu geleistet, wieder Ordnung in den Gradin Nord zu bringen», sagt Constantin, «wir können von Glück reden, dass die Älteren noch einen gewissen Respekt geniessen.»
Heute steht Constantin, nach seinem Wechsel als Verantwortlicher der Eishalle Graben in Siders, in seiner Freizeit selbst wieder im Kop. «Das ist kein Problem, die Anhänger haben meinen Jobwechsel akzeptieren müssen. Viele sagen mir aber noch heute, dass sie meinen Abgang bereuen.» Wie der FC Sitten kommuniziert, hat der Verein mittlerweile einen Nachfolger für Constantin gefunden.
Seine Abschlussarbeit zur Ausbildung als Fanverantwortlicher lautete auf den Titel «Die Stimmung im Tourbillon wiederbeleben: Realistisches Unterfangen oder unerreichbarer Traum?» Diese Frage stellte sich Constantin, seit die Nordtribüne, der Kop, 2014 von den Fans aus Protest boykottiert wurde. Vier Jahre später gibt er selbst die Antwort: «Ja, der Gradin Nord lebt wieder und steht hundertprozentig hinter dem Klub. Sicherlich haben der 13. Cupsieg und die internationalen Erfolge dazu beigetragen.» Und alle sind sich einig: Auch Tintin hat seinen Anteil zum Erfolg hinzugefügt.
Adrien Woeffray
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