Extremski | Die Nordwand des Matterhorns galt unter Extrem-Freeridern als nicht machbar. Dann kam André Anzévui. Und auch nach dem Unterwalliser schaffte das kein Mensch mehr
«Als ich da oben stand, war ich bereit, alles zu verlieren. Alles»
André «Dédé» Anzévui, denken Sie noch oft an Ihre spektakuläre Abfahrt in der Nordwand des Matterhorns?
«Jeden Tag.»
Jeden Tag?
«Jeden Tag. Es war vielleicht mein schönster und intensivster Tag in meinem Leben. Ich bin ein Bergfanatiker, ich wäre auch jetzt lieber da oben, anstatt in einem Restaurant zu sitzen. Es ging mir nie um Rekorde, aber die grösste Erfüllung fand ich immer auf Gratwanderungen, wo es im Grunde genommen um Leben und Tod ging. Wissen Sie, wie auf einer Slackline.»
Wenn man mit den Skiern da oben steht, waren Sie bestimmt bereit, alles zu gewinnen. Ich stelle mir aber vor, dass man vor allem bereit sein muss, alles zu verlieren. Waren Sie das?
«Auf jeden Fall. Als ich alleine da oben stand, auch schon vorher, war ich in der Tat bereit, alles zu verlieren. Wirklich alles. Wenn du nicht mit dem Schlimmsten einverstanden bist, dann wagst du es niemals, so etwas zu versuchen. Dann machst du da oben keine einzige Kurve.»
Wie geht das, bereit zu sein, alles zu verlieren?
«Man muss…, wie soll ich das sagen? Man muss ein wenig verrückt sein, ein Spinner. Wenn ein Spitzensportler einen schlimmen Unfall hat, dann ist seine Karriere kaputt. Also will ich lieber alles verlieren anstatt im Rollstuhl zu sitzen oder in einer psychiatrischen Klinik zu landen. Alles oder nichts. Tut mir leid, das so zu sagen, aber es ist nun mal so.»
Sie haben mehrere Ehen hinter sich. Hat das mit Ihrer Passion zu extremen Herausforderungen zu tun?
«Ich denke schon. Ich war zweimal verheiratet, und ein drittes Mal lebte ich mit einer Frau zehn Jahre zusammen. Aber keine dieser drei Beziehungen hielt. Wenn sie um 19.00 Uhr fürs Nachtessen auf mich wartete und ich erst um 23.00 Uhr heimkam, dann wirds schwierig. Mit einem halbwegs Verrückten ist überhaupt nicht einfach zu leben. Frauen sind besitzergreifend, aber Dédé ist nie da. Immer waren es die Allernächsten, die auf mich verzichten mussten.»
Wie haben Sie sich mental aufs Matterhorn vorbereitet?
«Überhaupt nicht. Ich denke, entweder kann man so eine Herausforderung psychisch angehen oder man ist dafür einfach nicht gemacht.»
Hinter dem Projekt stand die französische Skifirma Lacroix. Wie kam es eigentlich dazu?
«Die Firma suchte nach einer spektakulären Marketing-Aktion, weil sie Mühe bekundete mit dem Schweizer Markt. Sie fragten mich, ob ich es an einem 8000er im Himalaja versuchen wolle. Das kam für mich aus zwei Gründen nicht infrage: Weshalb so weit fliegen, wenn es hier derart wunderbare Herausforderung gibt? Ich bin Bergführer, ich weiss also, dass man das Terrain sehr, sehr gut kennen muss. Man muss lange warten, bis die Bedingungen ideal sind.»
Waren Sie denn oft in Zermatt?
«Ich stand in sehr engem Kontakt mit Bruno Jelk. Er weiss von den Verhältnissen und dem Wetter am Matterhorn mehr als alle anderen, Meteo-Schweiz weiss im Gegensatz zu ihm nichts. Er sagte mir im Juni, bereite dich vor, die Verhältnisse werden in ein paar Wochen ideal sein. Also fuhr ich einen Monat lang dreimal die Woche von meinem Wohnort Arolla nach Zermatt und studierte die Nordwand mit dem Feldstecher. Um 6.00 Uhr war ich jeweils in Zermatt, um 7.30 Uhr nahm ich die erste Bahn auf Schwarzsee und schaute den ganzen Tag in die Wand. Ich machte keine Notizen, was nützte mir das? Ich hatte alles im Kopf.»
Was war Lacroix Ihr grosses Risiko wert?
«Im Vertrag stand: 300000 Franken. Doch ich sah bis heute keinen einzigen Franken. Ich hätte mir ein kleines Haus oder eine Wohnung kaufen können. Das war sehr hart für mich, auch aus moralischen Gründen. Wir hatten eine Abmachung, ich riskierte mein Leben, und am Schluss heisst es, du bekommst nichts. Ich hätte zu jener Zeit mit anderen Unternehmen einen Vertrag abschliessen können, denn man wusste, dass ich ein Projekt am Laufen hatte. Nicht einmal meinen 2,07 m langen Ski habe ich zurückbekommen.»
Haben Sie sich nicht gewehrt?
«Das Unternehmen wurde sechs Monate nach unserer Vertragsunterzeichnung verkauft und hatte neue Besitzer. Das machte alles kompliziert. Vor meiner Extremabfahrt verkaufte Lacroix in der Schweiz 400 Paar Ski pro Jahr, danach 8000. Heute verkauft die Marke Luxus-Ski für 75000 Franken.»
Wann entschieden Sie sich, es zu versuchen?
«Jelk sagte mir im Nachhinein, dass er überzeugt gewesen sei, er werde mich am Fusse des Berges zusammenlesen. Das ist doch unglaublich: Wenn ein Kollege dir sagt, er fahre mit den Skiern die Nordwand des Matterhorns runter, so müsstest du ihm doch die Beine brechen, oder nicht? Jelk telefonierte mit mir am 13. Juli, es war ein Donnerstag. Er sagte mir: ‹Es ist so weit. Jetzt musst du es packen.› Ich fuhr sofort los, und als ich auf Schwarzsee ankam, realisierte ich, dass der Schnee tatsächlich sehr gut am Felsen haftete. Es war fast wie eine Piste. Wir machten einen Heliflug, um schauen zu gehen, ob wirklich genug Schnee auf den Felsen liegt. Am unteren Ende der steilen Nordwand lag ein Toter.»
Was machte der Anblick mit Ihnen?
«Ich bin ein sensibler Mensch. Unten auf dem Heliport schaute mich Jelk nur an, ich musste einfach nur raus. Der Anblick war noch härter als die Abfahrt. Wir tranken ein Bier, und Jelk sagte mir: ‹Ich hätte dich nicht anrufen sollen.› Ich antwortete: ‹Bruno, mach dir keine Sorgen, ich will es so.› Ich entschied, am Tag darauf loszulegen. Dann bin ich nach Hause gefahren.»
Weshalb sind Sie die Nacht davor nicht in Zermatt geblieben?
«Meine Frau, meine Eltern und Geschwister hatten das Recht, dass ich mich verabschiede. Ich hatte ihnen nichts über meine Pläne erzählt, sie wussten nichts davon, aber für mich war es wichtig, ihnen adieu zu sagen. Ich tat das sehr unauffällig. Ich ging überall kurz vorbei, auch bei meinen Brüdern und Schwestern, so wie ich es auch an anderen normalen Tagen machte. Ich sagte einfach hallo und tschüss bis morgen oder so was ähnliches, ein Kuss oder eine Umarmung. Sie haben nichts geahnt, aber mich hat das befreit. Meiner Frau sagte ich bloss, ich müsse am Morgen für einen Auftrag früh raus. Das sagte ich oft, für sie war das normal.»
Konnten Sie überhaupt schlafen?
«Ich nahm ein Glas Rotwein und ging gegen 1.00 Uhr ins Bett, geschlafen aber hatte ich kaum. Um 4.00 Uhr oder 4.15 Uhr fuhr ich los, um 7.30 Uhr war ich bei der Air Zermatt. Sie fragten mich nochmals: ‹Willst du das wirklich machen?› Die Türe des Helikopters hatten sie abmontiert, meine Beine mit den angeschnallten Skiern hingen hinaus. Gegen 9.00 Uhr hoben wir ab. Es zog enorm, ich fragte, geht das lange? 15 bis 18 Minuten, hiess es. Dann stellten sie mich auf dem Gipfel ab.»
Wie lange warteten Sie bis zur Abfahrt?
«Eine gute Minute vielleicht.»
Haben Sie gebetet oder sich mit einer höheren Macht unterhalten?
«Nein, denken ist besser als beten.»
Und dann?
«Möglich, dass mich der Flug in dieser doch speziellen Stellung etwas ermüdet hatte, ich war etwas unkonzentriert. Denn nach rund 100 Metern merkte ich, dass ich falsch war. Ich war zu weit weg vom Hörnligrat. Ich forderte nochmals den Heli an, sie stellten mich wieder auf dem Gipfel ab. Beim zweiten Versuch klappte es.»
Weshalb musste es Sommer sein?
«Im Winter ist der Schnee zu pudrig und wird vom Wind vom Berg geblasen. Im Sommer ist der Schnee wärmer, schmilzt ein wenig und klebt dann aufgrund der Feuchtigkeit und der Nachtkälte am Felsen. Deshalb sind besten Verhältnisse zwischen Ende Mai und Mitte Juli.»
Was passierte, als Sie unten angekommen waren?
«Der Heli landete, ich zog die Skier aus und stieg ein. Wir machten eine Tour, um zu schauen, wo ich runtergefahren war.»
Was hatten Sie gesagt?
«Nichts. Nichts als totale Stille. Auch vom Piloten und Mechaniker kam nichts. Ich dachte zu mir selbst: ‹Du bist einfach nur krank.› Ich glaube nicht, dass mir etwas über die Lippen gekommen wäre. Es war, als wären wir an einer Beerdigung, so unglaublich war das soeben Erlebte wohl für uns alle. Nach vielleicht zwei Minuten tauchte ich wieder auf, und auf dem Heliport gab es Champagner. Offenbar waren andere Helikopter unterwegs, um Fotos zu machen. Davon bekam ich aber rein gar nichts mit, denn ich war in meiner eigenen Welt. Du hörst nichts, du siehst nichts anderes als deinen Weg.»
Wie kann man in derart steilem Gelände Kurven drehen, ohne ins Nichts zu fallen?
«Das steilste Stück hat sage und schreibe 74 Grad Neigung. Jede Kurve ist wie ein Sturz, die Gravitation zieht dich ins Leere. Vor der Drehung, ähnlich einem kleinen Sprung, steckst du an der Aussenseite den Stock in den Schnee, er hält dich, innen hatte ich für den Notfall den Pickel in der Hand. Durch die Steilheit landest du nach der Drehung rund fünf bis sechs Meter tiefer.»
Wie lange dauerte die Abfahrt?
«Eineinviertel Stunden. Wobei ich sagen muss, dass es Stellen gab, wo du nicht Ski fahren konntest – zu steil, bloss Fels. Der Heli seilte mich auf Höhe Solvayhütte rund 200 m ab, dann fuhr ich weiter.»
Ihre einzigartige Abfahrt an der Nordwand kam im welschen Fernsehen, weil Sie am Abend ins Studio eingeladen waren. Auch die Zeitungen berichteten. Was sagte Ihre Frau und Familie, als Sie heimkamen?
«Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Sie sagten nichts. Rein gar nichts. Sie haben mir auch nicht gratuliert. Wie Sie sehen, treibt mir das noch heute Tränen in die Augen. Zwei Tage später sagten sie: ‹Du bist krank. Du musst dich behandeln lassen.› Erst nach zehn Tagen fragten sie, weshalb ich das gemacht habe.»
Was haben Sie geantwortet?
«Ganz einfach: ‹Weil ich dazu fähig war.› Aus meiner Sicht ging ich kein Risiko ein.»
Haben Sie bis heute nie das Gefühl, mit dem Risiko fahrlässig gespielt zu haben?
«Ich will Ihnen einen Geschichte erzählen, damit Sie mein Risikomanagement am Matterhorn vielleicht besser verstehen können. Es ist eine Geschichte, die mich traurig stimmt. Die verunglückte Walliser Freeriderin Estelle Balet war eine viel bessere Freiskifahrerin in Steilwänden als ich. Im April vor drei Jahren rief sie mich am Vorabend ihrer geplanten Abfahrt an, damit ich sie und ihre Kollegin Géraldine Fasnacht als Bergführer auf den Le Portalet (Red. Mont-Blanc-Gruppe) begleite. Ich weigerte mich mitzugehen. Ich sagte: ‹Nein, niemals! Lasst es sein, es ist zu gefährlich bei diesen Bedingungen.› Die Lawinengefahr war einfach zu gross. 48 Stunden später wären die Bedingungen gut gewesen, aber nicht an jenem Tag. Sie fanden einen jungen Führer, der mitging, denn ohne einen Bergführer bringt dich der Helikopter nicht hoch. Ich schlief jene Nacht schlecht, denn ich spürte, dass etwas abging. Am Tag danach ging ich gegen 9.00 Uhr mit dem Helikopter auf Erkundungsflug, überall sah ich Lawinenabgänge. Das hatte meinen Entscheid bestätigt. Ich ging nach Hause, schrieb den beiden eine Nachricht und fügte die Fotos bei, die ich beim Flug gemacht hatte. Fünf Minuten später bekam ich einen Anruf, sie sei tot. Ich will damit sagen, dass man extreme Sachen nur dann unternehmen darf, wenn alles perfekt ist.»
War es für sie immer klar, die Nordwand mit den Skiern alleine zu bewältigen?
«Ich habe da eine klare Meinung: Wer extreme Herausforderungen unternehmen will, muss alleine gehen. Wenn du einen Kollegen oder eine Kollegin mit dabei hast, ist einer zu viel. Die Entscheide musst du alleine treffen. Eines Tages hat einer vielleicht Lust, etwas mehr zu machen, dann wirds gefährlich für den anderen. Das habe ich auch Jérémy Heitz und Samuel Anthamatten gesagt, beides fantastische Freerider, mehrfach besser als ich es je gewesen war. Sie machen ja oft gemeinsame Sachen.»
Heitz nannte Sylvain Saudan und Sie eine Inspirationsquelle und eine Legende. Was für eine Beziehung haben Sie zu den jungen Walliser Freeskiern wie Heitz und Anthamatten?
«Sie sind meine Kinder. Aber ich bin ein Wagen mit zwei PS, sie sind wie ein Ferrari. Ich bewundere sie. Die Nordwand am Obergabelhorn fuhr ich in 35 Minuten runter, Heitz in anderthalb.»
Wie lange haben Sie sich mit diesem Abenteuer beschäftigt, bevor es losging?
«Ich würde sagen, es waren zwischen fünf und zehn Jahre. Natürlich habe ich mich nicht durchgehend damit beschäftigt, aber im Kopf geisterte die Idee sehr lange herum.»
Was gab den Ausschlag, es zu wagen?
«Die Zeit muss immer reif sein im Leben, bevor man sich an etwas heranwagt. An ein solch extremes Projekt tastet man sich Schrittchen für Schrittchen heran, bis es immer wahrscheinlicher wird. Das macht man nicht von heute auf morgen. Es gab Konkurrenten im extremen Freiskifahren, die hatten mich hochgenommen, ich hätte nicht den Mut, richtige Steilhänge zu fahren. Mir hat mal einer, dessen Name ich hier nicht nennen will, auf den Telefonbeantworter gesprochen: ‹55, 60 Grad Neigung kannst du, aber für steilere Abfahrten hast du keine Eier.› Irgendwann sagte ich mir: ‹So, jetzt legst du die Latte aber so richtig hoch.› Bei der Nordwand des Matterhorns reden wir von 74 Grad. Mehr geht nicht, sonst fällst du ins Leere. Es gibt noch eine Nordwand, die steil ist wie am Matterhorn, und zwar am Mont Blanc de Cheilon. Auch dort bin ich bis heute der einzige, der mit den Skiern da runterfuhr. Es gab zwar zwei Junge, die diese Nordwand machten, aber sie hatten den schwierigsten Teil ausgelassen.»
Bruno Jelk sagte, dass diese Abfahrt an der Matterhorn-Nordwand nicht mehr durchführbar sei. Wegen des Klimas?
«Das geht tatsächlich nicht mehr. Hundert Meter unter der Solvayhütte war damals in der Nordwand alles Schnee und Eis bis unten. Alles weg. Alle Berge hier sind im sehr steilen Gelände kaum mehr zu fahren. Auch in Chamonix oder in Österreich ist das der Fall. Das macht mich traurig.»
Also bleiben Sie der einzige Mensch, der dort mit den Skiern runtergefahren war?
«Ich hoffe, der Schnee kehrt eines schönen Tages zurück. Für die ganz Jungen. Oder die, die noch nicht geboren sind.»
Gibt es denn keine extremen Herausforderungen mehr?
«Klar gibt es die. Ich wette mit Ihnen, dass spätestens in fünf Jahren einer aus der aktuellen Freestyle-Generation in der Ostwand des Matterhorns einen Backflip macht. Diese Jungs sind im Wettkampf oder im Fitnessraum, sie sind unglaublich fit. Wenn du eine Wand mit 50 Grad Neigung mit 120 km/h befährst und nicht topfit bist, dann machst du bloss eine Kurve und du bist weg.»
Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie heute in Zermatt sind?
«Wenn ich die Nordwand sehe, dann kehren die Bilder und Emotionen zwei Tage lang zurück.»
André Anzévui, Hand aufs Herz: Für was soll Ihre extreme Abfahrt an der Matterhorn-Nordwand gut sein?
«Für nichts! (Pause) Doch, es brachte was.»
Was?
«Dich getroffen zu haben. Wir bleiben doch Freunde, oder? Ich war in Adelboden und Wengen, und die besten Trainer der Welt kommen dich grüssen, das tut halt schon irgendwie gut. Verstehst du?»
Interview: Roman Lareida
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