MeToo | Sozialen und kulturellen Druck als Hindernis
Der Versuch, #MeToo nach China zu holen
Chinas konservative Kultur und Zensur unterdrücken eine offene Debatte über sexuelle Belästigung. Eine junge Journalistin will das schon länger ändern. Kann #MeToo auch in China eine Bewegung werden?
Als Sophia Huang Xueqin im Jahr 2011 mit einem Kollegen für eine Recherche ins südchinesische Shenzhen reiste, war das für sie als Jungjournalistin im ersten Job nach der Uni eine Gelegenheit, sich zu beweisen.
Der Kollege schlug vor, aus ihrem Hotelzimmer heraus zu arbeiten und sie stimmte zu, weil beide eine straffe Deadline hatten. Dann fing der Mann an, sie zu begrapschen und zu küssen. Die heute 29-Jährige konnte den Übergriff abwehren, sie trat dem Mann zwischen die Beine und rannte aus dem Zimmer.
Den Job bei einer Nachrichtenagentur kündigte sie einen Monat später. Doch den wahren Grund für ihren Weggang nannte sie nicht. Ausser mit ein paar engen Freunden sprach Huang mit niemandem über den Vorfall, fünf Jahre lang. Auch den Täter zeigte sie nicht an - genau wie die meisten Chinesinnen, die Opfer von sexueller Gewalt werden.
Sozialer Druck
Den Grund dafür sieht Liu Furui, Redaktorin bei einer Initiative für Frauen in den Medien, im sozialen und kulturellen Druck. "Dieser Druck lässt sie sich geschändet vorkommen, eine Schande, etwas, das sich nicht gehört." Sie behielten die traumatischen Erlebnisse für sich - denn sie glaubten nicht daran, Unterstützung oder Hilfe zu bekommen. Auch dem Gesetz vertrauten Frauen deshalb oft nicht.
"Sexuelle Belästigung wird als Schande und Abwertung des Opfers gesehen, oder sogar als vom Opfer selbst verursacht", sagt Feng Yuan, Mitgründerin der Frauenrechtsorganisation Equality. Denn für eine lange Zeit habe gerade die Schulbildung junge Frauen in keiner Weise ermutigt, über Übergriffe zu reden.
Das Ergebnis: "Es ist immer die Frau schuld: Wie hat sie sich verhalten? Was hatte sie an?", schildert die 35-jährige Pekinger Restaurantbesitzerin Eva Lee.
"Wir haben in China eine sehr starke konservative Kultur", sagt Sophia Huang Xueqin. "Chinesische Frauen fühlen sich vor allen anderen gedemütigt, wenn sie solche Übergriffe erleiden. Wir fühlen uns nicht wohl dabei, so etwas in die Öffentlichkeit zu tragen. Wir haben Angst vor Vergeltung und davor, die Obrigkeit herauszufordern."
Debatte starten
Als Huang vor eineinhalb Jahren davon hörte, dass eine 21-jährige Journalistin von einem älteren Kollegen vergewaltigt worden war und in den Sozialen Medien erneut die Meinung überwog, sie sei doch selbst dran Schuld gewesen, setzte das etwas bei ihr in Gang. Im Juni 2016 veröffentlichte sie auf der populären sozialen Plattform WeChat einen detaillierten Bericht über den Übergriff.
Als im Oktober vergangenen Jahres schliesslich die #MeToo-Debatte um die (westliche) Welt ging, stürzte sie sich direkt hinein. Sie schrieb "#MeToo" auf ein Blatt Papier und posierte damit vor bunten Kulissen in Singapur. Die Debatte sollte auch in China starten.
Aber als sie in den sozialen Medien Frauen dazu aufrief, ihre Geschichten von sexuellen Übergriffen zu teilen - wie es in den USA und anderen westlichen Ländern geschehen war - bekam sie nur einen Satz Bilder und keine einzige persönliche Geschichte.
Mehrheit der Frauen belästigt
Die Ergebnisse anonymer Umfragen zeigen indes, dass die Debatte auch in China bitter nötig ist. Eine Studie von zwei Professoren an der City-Universität Hongkong fand heraus, dass 80 Prozent der arbeitenden Frauen in China während ihrer Laufbahn mindestens einmal sexuell belästigt worden sind.
Eine Studie der Universität Peking belegte, dass 35 Prozent aller chinesischen Studentinnen und Studenten sogar bereits an oder vor der Universität sexuelle Gewalt oder Belästigung erlebt haben.
Kein Wunder also, dass sich genau dort im Dezember erste Ansätze einer #MeToo-Bewegung auch in China entwickelten. Mindestens sechs ehemalige Studentinnen beschuldigten Professor Chen Xiaowu von der Pekinger Beihang Universität über soziale Medien mit #MeToo, sie über Jahre sexuell belästigt zu haben. Er verlor seinen Job.
Die Anschuldigungen lösten Proteste an mehr als 40 Hochschulen aus, bei denen strengere Regeln gefordert wurden. Das Bildungsministerium reagierte schnell, indem es einen Mechanismus ankündigte, der bei sexueller Belästigung wirksam greifen soll.
Schweigen brechen
Ein erster Schritt, aber Huangs Ziel ist es, mehr Frauen zu ermutigen, ihr Schweigen zu brechen. Dabei ist ihr Engagement nicht ohne Risiko. Die kommunistische Ein-Parteien-Diktatur in Peking geht allgemein hart gegen Aktivisten aller Art vor. 2015 wurde eine Gruppe, die sich die "Feministischen Fünf" nannte, für den Versuch verhaftet, eine Protestaktion in Bussen und Bahnen zu starten.
Das Thema sei gar nicht so sehr das Problem für die Regierung, sagt Liu Furui. Die Gleichheit von Mann und Frau sei ideologisch nicht heikel. Doch die Aktivisten stellten die Verbindung zwischen Gleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe her - das mache die Herren in Peking nervös.
Sie kenne das Risiko, sagt Huang. "Ich habe das Gefühl, dass ich das tun sollte. Weil es richtig ist - auch wenn es lange dauern wird."
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