Interview | Dr. Guido Loretan aus Susten
«Es werden eindeutig zu viele Medikamente verschrieben»
Gestern behandelte Dr. Guido Loretan (72) den letzten Patienten in seiner Praxis und geht nun nach fast 40 Jahren als Hausarzt in Susten in Pension. Ein Gespräch über sein Schaffen, Entwicklungen in der Medizin und darüber, wie es war, Ende der 1970er im Oberwallis als Hausarzt zu arbeiten.
Dr. Guido Loretan, am 1. Oktober 1977 eröffneten Sie Ihre Praxis in Susten. Seit gestern sind Sie nun mehr oder weniger pensioniert. Wie geht es Ihnen damit?
Auf eine gewisse Art ist es eine Befreiung, und ich freue mich auf meine Pension. Eine Befreiung ist es deshalb, weil ich nun die Zeit haben werde, mich intensiv Themen ausserhalb der Medizin zu widmen. Ich gehe dabei nicht unvorbereitet in Pension, sondern habe mir einen Plan zurechtgelegt (lacht). Es gibt viele Dinge, die ich noch in Angriff nehmen möchte, zum Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dass ich an der Uni noch eine Fremdsprache lernen werde. Natürlich habe ich mich auch vorher schon mit Dingen befasst, die nichts mit Medizin zu tun hatten. Immer wieder kam dann aber der Gedanke auf, vielleicht sollte ich jetzt doch noch den einen oder anderen Fachartikel lesen. Das fällt nun weg und darin liegt die Befreiung.
Machen wir einen Zeitsprung in die 1970er. Wie war es, zu der Zeit im Oberwallis als Hausarzt tätig zu sein?
Einer der grössten Unterschiede zu heute ist der Stellenwert, den man als Arzt damals hatte. «Der Doktor» war seinerzeit fast ein Familienmitglied, entsprechend gross war auch das Aufgabengebiet (lacht).
Können Sie das ausführen?
Die Leute wandten sich auch mit Problemen an mich, die mit meinem eigentlichen Beruf nichts zu tun hatten. Ich wurde zum Beispiel um Hilfe gebeten, wenn der Familienhund erkrankte. Natürlich wies ich dann drauf hin, dass ich kein Tierarzt bin, tat aber dennoch mein Bestes, um dem Tier zu helfen. Ich erinnere mich zum Beispiel auch daran, dass mich einmal ein Bauer aus den Sonnenbergen um Hilfe bei der Anschaffung eines Traktors bat.
«Das Verhältnis zum Patienten ist distanzierter geworden»
Der Mann war sich nicht sicher, ob er den finanziellen Aufwand würde stemmen können, und ich war der einzige Mensch, den er kannte, der studiert hatte. Also sollte ich einen Blick in seine Bücher werfen und meine Meinung dazu abgeben, ob er nun den Traktor kaufen sollte oder nicht. Das Verhältnis zu den Patienten war damals sehr intim, nicht zuletzt, da man auch viel mehr Hausbesuche machte als heute. Man sah nicht nur den einzelnen Patienten, sondern lernte das ganze Umfeld dieser Person kennen.
Und wie ist es heute?
Das Verhältnis zu den Patienten ist technokratischer und distanzierter geworden. Deutlich wird das unter anderem daran, dass es schwieriger geworden ist, gewisse Dinge von den Patienten zu erfragen. Zum Beispiel waren Dinge, die die Sexualität betreffen, früher in der Öffentlichkeit tabu. Gegenüber dem Arzt wurde aber recht offen darüber gesprochen. Heute ist Sexualität zwar allgegenwärtig, gegenüber mir darüber zu sprechen fällt vielen Menschen aber zunehmend schwerer. Das Menschliche in der Beziehung zwischen Arzt und Patient ist zwar nicht ganz verschwunden, hat aber an Bedeutung verloren.
Was würden Sie als die positivste Veränderung bezeichnen, die Sie in Ihrer Zeit als Arzt erlebt haben?
Das sind sicher die sogenannten bildgebenden Verfahren, wie Ultraschall oder MRI. Ich erinnere mich noch, wie mein Ausbildner am Spital Visp immer sagte: «Es wäre doch toll, wenn der Bauch einen Reissverschluss hätte, sodass wir einfach hineinschauen könnten.» Mein Ausbildner träumte also davon, «nur» einen Blick auf die Organe werfen zu können. Mit den neuen Verfahren können wir aber durch die Organe hindurch- und in sie hineinschauen. Das ist natürlich ein gewaltiger Fortschritt, der aber auch seine Schattenseiten hat.
Die da wären?
Dass diese Verfahren im Sinne des Patienten genutzt werden, ist sicher gut. Ich glaube jedoch, dass «sehen, hören, fühlen», für mich sehr zentrale Tätigkeiten im Arztberuf, dadurch ein bisschen auf der Strecke bleiben. Zum Beispiel kann man durch das Abhören und Abtasten eines Patienten schon sehr viel über dessen Krankheit erfahren, teilweise so viel, dass man die Krankheit behandeln kann, ohne dass noch zusätzlich eine Untersuchung mittels Computertomografie nötig ist. Da die Technik aber nun mal vorhanden ist, wird sie auch eingesetzt. Manchmal vielleicht zu oft. Die Medizin muss sich definitiv die Frage gefallen lassen, ob wirklich alle angeordneten Untersuchungen auch sinnvoll sind. Schliesslich wissen wir ja, dass die Kosten im Gesundheitswesen nicht gerade sinken.
Ist das Ihr einziger Kritikpunkt an der modernen Medizin?
Genauso kritisch müssen wir uns mit der Pharmakologie, der Pharmaindustrie und den Preisen für Medikamente befassen. Es werden meiner Meinung nach eindeutig zu viele Medikamente verschrieben. Zudem sind diese in der Schweiz schlicht zu teuer. So teuer, dass man das Vorgehen der Pharmaindustrie schon als Abzocke bezeichnen kann. Gleichzeitig tut die Politik viel zu wenig dagegen. Hier muss dringend etwas geschehen. Es wäre aber verfehlt, alle Verantwortung nur auf die Pharmaindustrie und die Politik zu schieben.
Was heisst da?
Ich denke, dass sich auch die Ärzteschaft kritisch hinterfragen und etwas dazu beitragen muss, den Kostenanstieg im Gesundheitswesen abzubremsen. Jeder Arzt sollte sich daher fragen: «Braucht es die Operation wirklich? Muss ich dieses Medikament zwingend verschreiben?» Dazu gehört auch, dass man teilweise die Forderungen der Patienten nach zusätzlichen Untersuchungen und Medikamenten zurückweist.
Stichwort Patienten. Wie haben sich diese in den letzten 40 Jahren verändert?
Massiv. Im Gegensatz zu früher ist der Patient von heute, Google sei Dank, viel besser informiert. Das führt aber dazu, dass einige Patienten sich selbst eine Diagnose stellen, die schlicht falsch ist. Als Arzt muss man dann viel Zeit aufwenden, diesen Patienten zu erklären, warum sie sich irren. Wenn Medizin so einfach wäre, wie manche sich das vorstellen, hätte ich vier Wochen und nicht sieben Jahre für mein Studium gebraucht. Symptome allein sagen noch nicht viel aus. In der Medizin geht es sehr stark um Zusammenhänge, logisches Denken und das Ziehen der richtigen Schlussfolgerungen. Der Patient ist heute durch die ihm zu Verfügung stehenden Informationen einiges misstrauischer gegenüber unserer Arbeit, was zu unnötigen Blockaden im Behandlungsprozess führen kann. Aber verstehen Sie mich nicht falsch – ich begrüsse andererseits, dass die Patienten heute besser informiert sind als früher. Ich empfehle meinen Patienten teilweise auch, sich mit ihrer Krankheit im Internet auseinanderzusetzen. Wichtig ist aber, dass man uns Ärzte zuerst unsere Arbeit machen lässt.
Vor 15 Jahren waren Sie selbst Patient und kämpften mit Dickdarmkrebs. Hat diese Erkrankung Ihre Arbeit verändert?
Ja, das würde ich schon sagen. Die Erkrankung stellt schon eine gewisse Inzisur in meinem Leben dar. Ich denke, dass ich seit dieser Zeit Krebskranke anders verstehe und eine grössere Verbindung zu ihnen habe. Zudem habe ich das Gefühl, dass ich durch mein eigenes Erkranken anderen Krebspatienten mehr Mut machen und Kraft geben konnte, als wenn ich nicht erkrankt wäre.
Würden Sie sich nochmals für ein Leben als Hausarzt entscheiden?
Auf jeden Fall. Ich wollte schon immer etwas machen, das mit Menschen zu tun hat. Schon während meiner Zeit am Kollegium war ich als der «Doktor» bekannt, weil ich schon damals medizinische Bücher las mit der Absicht, später Medizin zu studieren (lacht). Und ich würde auch wieder Hausarzt werden und nicht Spezialist. Ich finde, der Beruf Hausarzt hat eine sehr grosse Bedeutung für unsere Gesellschaft und muss darum gestärkt werden. Aber, obwohl ich den Beruf wieder ergreifen würde, würde ich doch einige Sachen anders machen.
Was wäre das?
Ich würde mir mehr Zeit für mich und meine Familie nehmen. Früher war es so, dass man teilweise drei Wochen durchgearbeitet hat, mit Sprechstunde und Notfalldiensten. Das hat mich manchmal schon sehr belastet. Das machen die jungen Ärzte von heute besser, indem sie der sogenannten Work-Life-Balance mehr Gewicht beimessen. Wenn ich nochmals Arzt werden würde, würde ich es auch so handhaben.
Welches waren die schönsten Momente in Ihrer Zeit als Hausarzt in Susten?
Das waren vor allem die Begegnungen mit den Menschen im Altersheim St. Josef, die ich ja neben meiner Tätigkeit hier in der Praxis betreut habe. Vielfach konnte ich diesen betagten Menschen allein dadurch helfen, dass ich mich hingesetzt und mit ihnen gesprochen habe. Oft brauchte es nicht einmal die grosse Medizin. Die Dankbarkeit, die mir diese Menschen entgegengebracht haben, hat mir am meisten Freude in meinem Berufsleben bereitet. Darum werde ich dem Josefsheim auch noch eine Weile als Arzt zur Verfügung stehen, bis mein Nachfolger sich in der Praxis eingearbeitet hat.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage. Jeder in Susten kennt Ihren Namen. Auf der Strasse gesehen hat man Sie aber nie. Warum haben Sie all die Jahre kaum am gesellschaftlichen Leben teilgenommen?
Ein bisschen aus Selbstschutz. Ich hatte immer das Gefühl, nirgends hingehen zu können, ohne gleich «der Arzt» zu sein. Darum habe ich mein Privatleben bewusst abgeschottet. Ich denke aber, nun da ich in Pension bin, wird man mich sicher öfters auf der Strasse sehen. Schliesslich kann ich dann bei medizinischen Fragen an mich mit gutem Gewissen auf meine Berufskollegen verweisen (lacht).
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Kommentare
Maya Matter, Ergisch - ↑41↓13
Danke Guido für alles was Du für uns gemacht hast! Du wirst uns fehlen. Danke auch für die Gespräche die ich mit Dier führen durfte! Habe Dir sehr viel zu verdanken, Du fehlst jetzt schon!! Ich wünsche Dir viel Schönes und Gutes auf Deinem weiteren Lebensweg! Maya Matter
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