Interview | Statt den Everest zu besteigen, war Bergführer Klaus Tscherrig am höchsten Berg der Welt als Bergretter im Einsatz
«Ich wusste, das kann nicht gut ausgehen»
Es sollte seine erste Everest-Besteigung werden. Aber das Mega-Beben im Himalaya zwang dem Täscher Profi-Bergführer Klaus Tscherrig (48) andere Pläne auf.
Am 25. April, 11:56 Uhr Ortszeit erschüttert ein Beben der Stärke 7,8 den Himalaya. Die Urgewalt zerstört in Nepal 300'000 Häuser. 9000 Menschen sterben. 22 Tote und Dutzende Schwerverletzte werden nach einer Eislawine im Everest-Basislager auf 5300 Meter über Meer im Kumbhutal gezählt. Exakt dort sollte Klaus Tscherrig in Begleitung seiner Frau, zwei Gästen und zwei Sherpas kurze Zeit nach dem Beben eintreffen. Sie befanden sich zum Unglückszeitpunkt ein wenig unterhalb des Basislagers auf einer rund 80 Meter hohen Gletschermoräne.
1815.ch: Wann realisierten Sie, dass es sich um ein Erdbeben handelt?
Klaus Tscherrig: «An der Flanke des Nuptse machte sich mit grossem Getöse ein Gletscherabbruch bemerkbar. Kurz darauf spürten wir ein Vibrieren der Moräne, was wir anfänglich auf dieses Ereignis zurückführten. Mit den schnell stärker werdenden Bewegungen des Untergrunds und dem Grollen war rasch klar, dass es sich um ein starkes Erdbeben handelt.»
Ihre erste Reaktion?
«Die rund 80 Meter hohe Moräne kam sehr schnell und stark in Bewegung. Wir mussten mit gespreizten Beinen dastehen und zusehen, dass wir nicht zu Boden geworfen wurden. Die starken Erschütterungen des Untergrunds waren sehr beeindruckend und liessen sofort ungute Gefühle hochkommen. Ich versuchte die Gruppe mit Verhaltensanweisungen zu beruhigen.»
Wie lange nahmen Sie das Beben wahr?
«Bestimmt länger als eine Minute. So genau kann ich das nicht mehr sagen. Rasch war mir auch klar, dass es sich nicht nur um ein lokales Ereignis handeln konnte, sondern um ein Erdbeben, dass die ganze Himalaya-Region betraf.»
War Ihnen bewusst, dass die Erdstösse für Sie Lebensgefahr bedeuten könnten? «Die Gefahren war in diesem Moment schwer abzuschätzen, weil dichter Nebel den freien Blick auf die Bergflanken der Himalaya-Riesen versperrten. Unmittelbar nach dem Beben folgten Augenblicke der totalen Stille. Aus Erfahrungen in diesem Gebiet von früheren Touren wusste ich, dass die Erderschütterungen mit Sicherheit Lawinen und Gletscherabbrüche auslösen werden. Und bereitete die Gruppe entsprechend vor.»
Von Ihrem Standpunkt aus konnten Sie beobachten, wie eine erste gigantsche Lawine über das Basislager der Everest-Expeditionen fegte.
«In der ersten Schneewolke, die über das Basislager auf 5300 Meter rollte, vermutete ich eher wenig Zerstörungskraft. Dann aber donnerte eine zweite, explosionsartige und kräftigere Eislawine zwischen dem 7100 Meter hohen Pumori und dem 6700 Meter hohen Lingtren in unsere und in Richtung Everest-Basislager. Ich wusste, das kann nicht gut ausgehen.»
Spürten Sie die Druckwelle, die von der Eislawine ausgelöst wurde?
«Eher wenig, nach und nach wurden wir von einer riesigen Schneewolke eingehüllt. Wir rührten uns eine gute halbe Stunde nicht vom Fleck und warteten ab, ob sich weitere Steinschläge und Lawinen ankündigten. Ich glaubte unsere Gruppe auf der 80 Meter hohen Moräne zu diesem Zeitpunkt an einem sicheren Ort.»
Sie und zwei weitere Gruppenmitglieder stiegen anschliessend zum Basislager hoch. Wieso das?
«Als sich die Schneewolke verzog und den Blick aufs Everest-Basislager frei gab, sahen wir, wie Leute in alle Richtungen davonliefen oder sich in Grüppchen sammelten. Es war offensichtlich, dass es dort Verletzte oder gar Tote gab. Als Rettungsspezialist der Zermatter Bergrettung war es für mich undenkbar, den ‚gemütlichen’ Abstieg zurück nach Gorak Shep, das erste Dorf unterhalb des Everst-Basislagers, in Angriff zu nehmen. Meine Frau hingegen schickte ich in Begleitung zweier Einheimischer dorthin zurück.»
Welches Bild bot sich Ihnen im Basislager?
«Meine Befürchtungen bestätigten sich. Der obere Teil des Basislagers war völlig zerstört. Dort kamen auch viele Bergsteiger zu Tode. Von allen Richtungen wurden Verletzte zu improvisierten Sanitätszelten getragen. Ich bot mich einem mir bekannten amerikanischen Expeditionsleiter an und half beim Transport der Verletzten. Im Lager befanden sich mehrere Ärzte, die sich rasch um die oft schwer verletzten Bergsteiger kümmerten.»
Haben Sie am Berg mitbekommen, welche Zerstörungen das verheerende Beben in Nepal angerichtet hat? «Im Kumbhutal ist die Kommunikationsinfrastruktur wegen des Evertsbusiness’ recht gut ausgebaut. Über Satellitentelefon und WhatsApp konnten wir Angehörige und Bekannte in der Schweiz schon kurze Zeit nach dem Beben informieren, dass es uns gut geht. Auf denselben Kanälen erhielten wir auch erste Informationen über das ganze Ausmass des Bebens in Nepal.»
Das Everest-Basislager liegt auf 5300 Metern über Meer. Wo haben Sie die eisige Nacht am Unglückstag verbracht? «Ein grosser Teil des Everest-Basislagers war zerstört. Die Leute haben Zelte, Schlafsäcke und ihre ganze Ausrüstung verloren. Hunderte Personen mussten deshalb schon am Unglückstag das Lager verlassen, um in Gorak Shep eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Also führte ich am späteren Nachmittag eine grössere Anzahl Sherpas und einige Verletzte vom Basislager in Richtung Tal.»
Der Abstieg verlief problemlos? «Auf dem Weg nach Gorak Shep trafen wir auf einige verletzte Sherpas. Nach den Lawinenniedergängen liefen diese unter Schock talwärts. Sie hatten gebrochene Rippen, Armbrüche und blutende Wunden. Wie die Sherpas vom Basislager waren diese durch die Ereignisse regelrecht traumatisiert und kaum in der Lage, rational zu handeln. Ich führte schmerzstillende Medikamente mit, sodass die verletzten Sherpas mit Unterstützung nach Gorak Shep begleitet werden konnten. Dort kümmerte sich eine polnische Ärztin um sie.»
Bestand keine Möglichkeit, die Leute mit einem Heli aus dem Lager zu evakuieren? «Am Tag des grossen Bebens verunmöglichte schlechtes Wetter Heli-Flüge. Erst am Morgen darauf um 5.30 Uhr in der Früh hörten wir in Gorak Shep einen ersten Heli Richtung Basislager fliegen. Weitere folgten. Das war für alle eine grosse Erleichterung. So liessen wir unsere Pläne fallen, früh morgens wieder ins Basislager hochzusteigen, um zu helfen.»
Wann fiel der Entscheid, Ihre Everest-Expedition abzubrechen? «Vor der Besteigung des Eversts mit einem Gast von der chinesischen Seite her stand im Kumbhutal im Rahmen des Akklimatisationstrekkings die Besteigung eines 6000er auf dem Programm. Im Angesicht der traumatisierten Sherpas, der grossen Zerstörungen und der Möglichkeit von weiteren starken Beben war rasch klar, dass Bergsteigen unter diesen Umständen nicht mehr in Frage kommen kann. Der Abbruch war für mich und meine Gäste sonnenklar.»
Bestand für Sie keine nicht mehr in Frage kam.ung einmen kannklar.»asch klar, dass Bergsteigen unter diesen Umständen nicht mehr in Frage kam.ung ein Möglichkeit, mit einem Helikopter den Flugplatz in Lukla zu erreichen, um rasch zurück in die Schweiz zu fliegen?
«Nein, alle verfügbaren Helis wurden auf Anordnung der Regierung ausschliesslich für Rettungsflüge eingesetzt. Überdies war das für uns gar kein Thema. Wir wollten Lukla zu Fuss erreichen. Dabei liessen wir uns Zeit, weil wir wussten, dass beim Flugplatz in Lukla und in Kathmandu grosser Andrang von Touristen herrschte, die raschmöglichst heimfliegen wollten.»
In der Schweiz vermittelten Medienberichte aus Nepal ein Bild der totalen Zerstörung. Stimmt dies mit Ihren Eindrücken überein?
«Einige Dörfer wurden durch das Beben völlig zerstört. Andere blieben praktisch vollständig verschont. Das ist auf den unterschiedlichen Untergrund, auf dem die Dörfer stehen, zurückzuführen. Wo dieser nicht stabil war, etwa auf erhöhten Moränen oder sandigem Terrain, erlitten viele Häuser arge Schäden. Betroffen waren vor allem alte, zum Teil unbewohnte Gebäude oder dann neuere, dreistöckige Gebäude, die aufgrund ihrer Höhe ins Schwanken gerieten und so den Erschütterungen nicht standhielten.»
Wie gestaltete sich der Rückflug via Lukla und Kathmandu in die Schweiz? «Acht Tage nach dem Erdbeben nahmen wir mit einem Kleinflugzeug von Lukla aus in Richtung Kathmandu die Rückreise in Angriff. Diese verlieft problemlos, weil die internationalen Airlines die nepalesische Hauptstadt mit grösseren Flugzeugen anflogen und so mehr Kapazitäten für Touristen schufen.»
Wie geht man zurück in der Heimat mit den schlimmen Erlebnissen im Kopf um? «Das Erlebte rund um das Erdbeben war intensiv in allen Belangen. Auch nach der Ankunft in der Schweiz war ich mit den Gedanken noch tagelang in Nepal. Nun löst sich die Anspannung langsam und der Kopf wird frei.»
Bleibt die Besteigung des Everests ein Thema?
«Weiss ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Noch liegen auch keine Infos zu den erteilten Bewilligungen vor. Ich bestieg alle grossen Berge, ausser der Ama Dablam, bisher immer mit Gästen. Deshalb ist für mich auch entscheidend, was der Gast will.»
Wie kann man den Sherpas am besten helfen?
«Die beste Unterstützung sind Reisen und Trekkings in Nepal zu unternehmen. Ich plane bereits ein Trekking für Mitte Oktober. So kommen viele Nepali zu Verdienst. Zudem bietet sich bei einer Reise die Möglichkeit, direkt vor Ort finanziell zu helfen. Die grösste Angst der Sherpas liegt darin, dass die Touristen wegbleiben könnten und mit ihnen ihre Lebensgrundlage. Auf dem Weg zurück nach Kathmandu wurde wir an unseren Aufenthaltsorten jeweils mit einem ‚Please come back again’ verabschiedet...»
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